Die Hand
»So ein Chaos!«
Lara hörte Peters Stimme wie durch Watte. Aus den Augenwinkeln heraus konnte sie erkennen, wie die Hände ihres Vaters wild durch die Luft sausten. Nur knapp vorbei an der Mütze des Friedhofsgärtners, auf der die Aufschrift Mister Garden stand. Dasselbe stand auch auf dem ehemals weißen, von braunen Flecken übersäten T-Shirt, das sich über den erstaunlich runden Bauch des kleinen Mannes spannte. Dem armen Kerl trat der Schweiß an diesem ohnehin schon viel zu heißen Sommertag auf die Stirn. Er war dem Zorn ihres Vaters nicht gewachsen.
Doch Lara kümmerte sich nicht um Peters wachsende Wut. Ihr Blick ruhte auf der Granitsteinplatte.
Maja Feingeist
25.07.1976 – 14.06.2003
Nichts ist für immer
Nicht einmal der Tod
Die Steinplatte war eingerahmt von Bambus, den ihr Vater neben das Grab gepflanzt hatte. Es war die Lieblingspflanze ihrer Mutter gewesen. Eines der wenigen Dinge, die Lara über sie wusste.
Während der Gärtner hilflos Worte wie Katzenplage und Fuchsbauten von sich gab, wanderte Laras Blick auf das, was vor ihr in der aufgewühlten Erde lag.
»So ein Chaos«, tönte die Stimme ihres Vaters erneut, die erstaunlich hoch und leicht verzerrt klang. Sein Körper war geduckt. Als wäre der eher kleine Mann noch weiter geschrumpft.
Mit ihren sechzehn Jahren war Lara fast genauso groß wie er, und ihre Augen besaßen das gleiche Blau wie seine. Das war aber auch schon alles. Ihre schmale Figur, die blonden Haare, die Laras ganzer Stolz waren und die sie seit acht Jahren nicht geschnitten hatte, ihr Lachen, all das hatte sie von ihrer Mutter geerbt. Zumindest glaubte sie das. Denn das Einzige, was sie mit Gewissheit über ihre Mutter sagen konnte, war, dass sie bei einem Autounfall gestorben war, als Lara vier Jahre alt gewesen war.
Peter musste sich erschöpft auf die Bank mit dem Schildchen »Gestiftet von Hanno, für seine Elise« setzen. Er tupfte sich mit einem Taschentuch die gerunzelte Stirn ab und starrte auf die aufgewühlte Erde um ihn herum. Der Gärtner nutzte das kurze Verstummen, um sich und die Friedhofsverwaltung zu verteidigen.
»Schuld sind die Eichhörnchen. Die wirken so nett und unschuldig. Also füttern die Alten sie. Die Eichhörnchen vergraben die Hälfte von dem Zeug und vergessen es dann. Das, was sie vergessen, fressen die Ratten. Es wurden zu viele. Also haben wir die Katzen geholt. Und mit den Katzen kamen die Füchse.«
Nun, da Mister Garden die halbe Nahrungskette abgehandelt hatte, begriff Lara, was da im Dreck vor ihr lag. Die Füchse, die laut der Presse schon seit Langem ihr Futter in der Stadt suchten, weil ihr Lebensraum auf dem Land zunehmend eingeschränkt wurde, hatten den halben Friedhof umgegraben, nachdem er sich als perfekter Wohnort herausgestellt hatte. Wo ließen sich die Jungen besser zur Welt bringen als in den ganzen Hohlräumen, die in der Erde versteckt lagen? Die Füchse hatten sich in den Särgen häuslich niedergelassen. Und alles nach oben befördert, was ihrer Meinung nach nicht hineingehörte.
Als Lara die Hand neben die fast gänzlich verwesten Überreste der Hand ihrer Mutter legte, erkannte sie mit einem Schaudern, dass sie auch Majas lange Finger geerbt hatte.
»Lara!« Peter war aufgesprungen und zu ihr geeilt. »Was machst du denn da?« Er zog sie nach oben.
Laras Blick wanderte von den Knochen ihrer Mutter zu dem Gesicht ihres Vaters. Der sonst eher blasse Mann hatte bedenkliche rote Flecken im Gesicht. Für einen Moment trafen sich ihre Blicke, und sie wusste nicht, ob ihr die wahllos herumliegenden Knochen oder der Ausdruck in seinen Augen mehr Angst machten.
»Sie müssen sich das nicht antun«, betonte Mister Garden hinter ihnen. »Wir räumen das weg. Wenn Sie das nächste Mal hier sind, haben wir das wieder in Ordnung gebracht.«
Das nächste Mal bedeutete: in einem Jahr. Der Friedhof lag etwas außerhalb von Berlin, und Peter begleitete Lara nur ein einziges Mal im Jahr an das Grab ihrer Mutter. An deren Geburtstag. Den Todestag ignorierte er.
Jedes Jahr hoffte Lara, ihm mehr über ihre Mutter entlocken zu können. Hatte sie viel gelacht? Welche Musik hatte sie gehört? Mochte sie lieber den Sommer oder den Winter? Und natürlich die Frage, die Lara niemals laut gestellt hätte: Hatte sie Lara geliebt?
Sie spürte Übelkeit in sich aufsteigen und wich einen Schritt vom Grab zurück. Nichts wünschte sie sich im Moment mehr, als dass ihr Vater sie von diesem Ort fortbringen würde.
Stattdessen beugte er sich langsam zu den sterblichen Überresten seiner Frau. Einzig das Skelett ihrer Hand war noch im Ganzen erhalten. Etwas schimmerte golden im Dreck. Peters Hände zitterten, als er vorsichtig den Ehering aufnahm und einsteckte.
Danach stand er wieder auf und blickte an Lara vorbei ins Leere. Das Entsetzen wich aus seinen Augen. Wilde Entschlossenheit machte sich breit. Ein Ausdruck, den Lara in dieser Intensität noch nie bei ihrem Vater gesehen hatte.
»Papa ... Was ist?«, fragte sie leise.
Er wandte sich ab. »Wir gehen.«
Aber sie wollte ihre Mutter, oder was von ihr übrig war, nicht einfach so zurücklassen.
»Was passiert jetzt mit ihr?«, fragte sie Mister Garden, der ihrem Vater sichtlich erleichtert hinterherblickte, als dieser mit schnellen Schritten davonstapfte.
»Wir kümmern uns um alles«, betonte er noch einmal, ehe er selbst eilig davon ging.
Lara wollte ihrem Vater schon folgen, als ihr Blick abgelenkt wurde. Zwischen den Bambusstäben tauchte ein runder, mit struppigem Fell versehener Ball auf. Der Kopf einer Katze.
Es war die hässlichste Katze, die Lara jemals gesehen hatte. Sie war so dick, dass ihr Kopf viel zu klein für den Körper schien. Trotzdem zwängte sie ihren breiten Körper durch die Bambusstäbe.
Das Fell stand verfilzt in alle Richtungen ab und war so schmutzig, dass man das Braun und Weiß nur erahnen konnte. Das rechte Ohr war zerfetzt. Dennoch konnte Lara den Blick nicht abwenden. Es lag an den Augen des Tiers. Ihr fiel keine Farbe ein, mit der sie diese Augen hätte beschreiben können. Sie erinnerten Lara an den Sonnenuntergang, den man sehen konnte, wenn man am Abend auf dem Kreuzberg stand.
Während sie der Katze in die Augen sah, hatte sie für einen kurzen Moment das Gefühl, als würde sie Einblick in eine Welt erhalten, die sie kannte – und einfach nur vergessen hatte.
Lara betrachtete das Tier genauer, das sich nun in Bewegung setzte. Beim Umfang dieser Katze sah das aus, als würde ein verfilzter Ball behäbig auf Lara zurollen. Die Katze schnüffelte kurz an den Knochen und lief dann schnurrend um Laras Beine herum. Lara zögerte, ehe sie sich hinunterbeugte, um das Tier zu streicheln. Sie wollte gerade die Hand in dem dichten, verfilzten Fell versenken, als die Katze ihr geschickt auswich. Lara versuchte es erneut. Und wieder wich das Tier ihrer Berührung aus, strich jedoch schnurrend um ihre Beine herum. Als Lara den vor Schnurren vibrierenden Körper spürte, der sie augenblicklich in einen Zustand der Entspannung versetzte, kam ihr der Anblick der Knochen nicht mehr ganz so schrecklich vor.
Sie blickte der Katze in die Augen.
»Na, wer bist du denn? «
Die Katze quittierte diese Frage mit einem quietschenden Laut, der wohl ein Miauen sein sollte, aber mehr wie eine alte Fahrradbremse klang.
Plötzlich fühlte sich Lara von den Augen der Katze wie magisch angezogen. Irgendetwas war darin zu erkennen. Sie trat näher, und die Katze erwiderte ruhig ihren Blick.
Ein Überraschungslaut entfuhr ihr, als sie das Gefühl hatte, in die Augen der Katze gezogen zu werden. Mit einem Schlag war der Friedhof verschwunden. Lara schwebte in absoluter Dunkelheit. Schwerelos.
Aber sie hatte keine Angst. Ganz langsam wurde es heller, und sie nahm die Umrisse von Personen wahr, die um sie herum waren. Lara zählte sechs Menschen. Mit ihr waren es sieben. Sie hielten sich an den Händen und bildeten einen Kreis. Lara konnte die Gesichter der anderen nicht erkennen. Es kam ihr vor, als würden sie Masken tragen. Und obwohl sie nicht wusste, wer sie waren, empfand sie eine unendliche Liebe für sie. Eine tiefe Verbundenheit, die über alles hinausging, was Lara je gefühlt hatte. Sie lachte vor Glück.
Da entdeckte sie, dass sich in der Mitte des Kreises etwas bildete. Eine kleine, sich um sich selbst drehende Kugel in der Größe eines Tennisballs. Schneller und schneller drehte sie sich und wurde dabei immer größer. Lara starrte wie gebannt darauf. Tief in sich wusste sie, was für ein Glück es war, dass diese kleine Kugel existierte. Auch wenn sie in diesem Moment nicht hätte sagen können, was es damit auf sich hatte.
Doch mit einem Mal wurde der Kreis durchbrochen. Eine Gestalt riss zwei der sieben Personen auseinander. Sie flog auf die Kugel zu und nahm sie in die Hand.
Lara spürte einen tiefen Schmerz in ihrem Inneren. Sie schrie auf.
Und fand sich auf dem Boden neben dem Grab ihrer Mutter wieder. Fassungslos versuchte sie zu atmen.
Was war gerade passiert?!
Sie starrte auf die dicke Katze, die sich ungerührt ihre Pfoten putzte.
»Was war das?«
Lara kroch an das Tier heran. Sie wollte ihm erneut in die Augen schauen. Noch einmal sehen, was sie gerade gesehen hatte. Noch einmal fühlen, was sie gefühlt hatte.
Aber als sie nach der Katze greifen wollte, sprang diese ins Gebüsch und verschwand.
Wie betäubt blieb Lara zurück. Hatte sie sich getäuscht? Hatte sie halluziniert? Es hatte sich so verdammt echt angefühlt. Als wäre sie selbst dort gewesen. In diesem grenzenlosen Raum. Mit den gesichtslosen Menschen und der plötzlichen Bedrohung. Aber je mehr Lara versuchte, sich an die Szene zu erinnern, desto mehr hatte sie das Gefühl, sich das alles nur eingebildet zu haben. Die Erinnerung verblasste wie ein Traum.