Der Stick
Laute Bässe brachten ihren Körper zum Vibrieren. Das Auto raste mit 200 km/h über die A9 Richtung München. Lara hielt sich mit der einen Hand am Türgriff fest, mit der anderen umklammerte sie die schwarze Schachtel.
Sie hatte zwar eine Mitfahrgelegenheit gefunden, aber damit auch das Problem, das alle hatten, die sich zu einem Unbekannten ins Auto setzten: Man wusste nie, wer hinter dem Steuer saß.
In Rudis Fall würde Lara ihr Ziel zwar wesentlich schneller erreichen, als sie erwartet hatte. Sie war sich jedoch unsicher, ob gefühlte zehn Herzinfarkte diesen Vorsprung wert waren. Denn Rudi hatte eine Vorliebe für waghalsige Überholmanöver. Nur am Schweißabdruck auf seinem blauen Shirt war abzulesen, dass er nicht ganz so locker war, wie er sich gab.
Lara hätte sich zur Beruhigung gerne etwas unterhalten und dabei vorsichtig einfließen lassen, dass sie schnelles Fahren mochte – eine freie Straße vorausgesetzt –, doch Rudi hatte eine weitere Vorliebe: Techno. Laut.
Und so atmete Lara erleichtert auf, als Ayse endlich ihre Chatanfrage bestätigte.
A: Bist du schon da?
Lara seufzte. Alles, was nicht die Türkei war, war in Ayses Welt in der Nähe von Berlin und innerhalb einer Stunde zu erreichen. Dabei hatte Lara noch gute 500 Kilometer vor sich.
L: Frühestens heute Abend. Hat Konrad schon nach mir gefragt ?
A: Hat mir im Treppenhaus aufgelauert.
L: Hat er dir geglaubt?
A: Na klar. Offiziell bist du ans Meer gefahren. Mit einer Schulfreundin. Um von dem ganzen Chaos Abstand zu bekommen.
L: Und das hat er geschluckt?
A: Er wollte eine Telefonnummer, weil er dich auf dem Handy nicht erreichen konnte. Als ich ihm die nicht geben wollte, ist er schon wieder ausgeflippt. Aber Mama hat ihm klar gemacht, dass sie mit dir in Kontakt steht.
Lara blickte besorgt aus dem Fenster auf die vorbeirasende Landschaft. Konrad konnte nicht wissen, wohin sie wirklich unterwegs war, beruhigte sie sich selbst. Und er konnte nicht wissen, was sie alles in dem Karton gefunden hatte.
Das Handy in Laras Hand vibrierte.
A: Eingepennt oder was?
L: Vielleicht ist das eine ganz bescheuerte Idee.
A: Bestimmt. Es war ja deine.
L: Haha.
A: Alles ist besser, als bei Mister Geheimnisvoll zu bleiben. Findet Mama übrigens auch.
Für einen Moment legte sich Wärme über die Kälte in Laras Brust, als sie an Begüm dachte. Vielleicht war sie doch nicht ganz allein? Lara fluchte, als Rudi in diesem Moment scharf abbremste und den Wagen hektisch auf die rechte Fahrbahn lenkte. Der Deckel der Schachtel wurde bei dem Manöver in den Fußraum befördert. Und mit ihm der ganze Inhalt. Lara bückte sich, um die wertvollen Einzelteile wieder einzusammeln.
Mittlerweile kam ihr die Schachtel wie eine Schatztruhe vor: Sie war unter anderem gefüllt mit Fotos ihrer Mutter. Sogar deren ungültigen Reisepass hatte Lara in ihren zitternden Händen gehalten.
Der Gedanke, dass sie mit ihrem Alter Ego gründlich falsch gelegen hatte, da Maja grüne Augen hatte, war kurz gewesen und der Freude darüber gewichen, endlich Anhaltspunkte über ihre Mutter in der Hand zu halten.
Aber auch Fotos von Unbekannten waren dabei. Besonders interessant fand Lara ein Gruppenfoto, auf dem ihr Vater, ihre Mutter und Konrad zu sehen waren. Neben ihnen noch zwei junge Männer – das Foto war bestimmt 20 Jahre alt –, ein hagerer Junge mit einem eindeutigen Akneproblem neben einem wahnsinnig gut aussehenden Blonden. Ayse hatte die beiden als Akneboy und Mister Surfer betitelt. Die Fünf hatten die Arme umeinander gelegt, Maja stand in der Mitte. Alle strahlten in die Kamera. Nur Konrad hatte das Gesicht zur Seite geneigt und betrachtete Maja.
Außerdem hatte Lara das Foto einer ihr unbekannten Frau gefunden, die schon etwas älter war. Aufgrund der Ähnlichkeit zu ihr und Maja vermutete sie, dass es sich dabei um ihre Großmutter handelte. Sie hatte nie ein Foto ihrer Großeltern gesehen und vergeblich nach einem weiteren Bild gesucht, das ihren Großvater zeigen könnte. Dabei war sie auf einen anderen interessanten Fund gestoßen: das Foto eines jungen Paares. Beide lachten glücklich in die Kamera. Zwischen ihnen niemand anderes als Lara im geschätzten Alter von drei Jahren. Sie hatte keine Ahnung, wer diese beiden Personen waren. Der Mann war von großer Statur mit schwarzem dichtem Haar und einer auffällig großen Nase, womit er einem Ameisenbär ähnelte. Neben ihm schien die Frau wie ein Zwerg, mit ebenfalls dunklen Haaren und unzähligen Lachfalten um die Augen. Nebeneinander wirkten die beiden, als wären sie direkt einem Märchenbuch entsprungen. Auf der Rückseite war vermerkt, dass das Foto im Jahr 2002 geknipst worden war. Ein Jahr vor dem Tod ihrer Mutter. In Sasbachwalden. Einem kleinen Ort im Schwarzwald, wie Lara herausfand.
Neben den Fotos hatte sie in der Schachtel auch eine Kette mit einem Anhänger entdeckt. Ein Halbmond, verziert mit grünen Strasssteinen. In dem Halbmond schaukelte eine kleine geflügelte Elfe.
Als Letztes befand sich noch eine CD in der Schachtel. Einzig der Titel Sorry war handschriftlich darauf geschrieben. Nicht von ihrem Vater, wie Lara an der Schrift erkannt hatte.
Natürlich hatten sie die CD sofort eingelegt. Ein Klavierstück war darauf zu hören. Lara hatte ihr Handy vor den Lautsprecher gehalten und versucht, den Komponisten des Liedes mit Hilfe einer App herauszufinden. Die Suche ergab keinen Treffer. Möglicherweise war das Stück einfach nicht in der zugehörigen Datenbank – oder jemand hatte es selbst komponiert und aufgenommen. Aber für wen? Und warum hatte derjenige das Stück Sorry genannt?
Ayse hatte es sich immer wieder angehört (und auch ein bisschen geweint) und eine unglaublich romantische Geschichte über einen früheren Freund von Laras Mutter erfunden. Ihrer Meinung nach würde sie in ihrem ganzen Leben nie wieder etwas Traurigeres hören.
Hektisch sammelte Lara im Auto die Fotos ein. Aber das Wichtigste war verschwunden.
»Anhalten!«, rief sie panisch.
Rudi sah sie nur kurz von der Seite an. »Musst du schon wieder?«
»Ich hab was verloren. Halten Sie bitte an!«
Genervt verdrehte er die Augen und brachte das Auto auf einem Parkplatz zum Stehen. Lara schnallte sich ab, sprang aus dem Auto und tastete mit der Hand unter den Sitz. Als sie den Stick zu fassen bekam, breitete sich Erleichterung in ihr aus.
Er hatte in der Schachtel gelegen. Unter all den Fotos ihrer Mutter. Lara war davon überzeugt, dass die Kopie des Programms auf diesem Stick war. Und dass Peter einen Grund gehabt hatte, warum er die Kopie vor Konrad versteckt hatte.
Von Konrad würde sie die Wahrheit nicht erfahren, dessen war sich Lara mittlerweile sicher. Also musste sie selbst herausfinden, was es mit dem Programm auf sich hatte.
Sie glaubte, dass Peter das Programm noch einmal benutzt hatte, ehe der Rechner sich selbst zerstört hatte. Sonst wäre Konrad nicht so nervös geworden. Möglicherweise hatte er Styx ein letztes Mal laufen lassen. Und war dann verschwunden. Die letzte Kopie auf dem Stick hatte er in seiner Verfassung wahrscheinlich vergessen. Die Sieben Länder , der Untertitel des Programms, konnten für die verschiedenen Levels stehen, die man bei diesem Programm erreichen konnte. Lara konnte ja nicht ausschließen, dass es sich wie beim Rest der Arbeit ihres Vaters um ein Game handelte. Aber warum hatte ihr Vater alles zerstört?
Sie war entschlossen, dieses Geheimnis zu lüften. Aber sie konnte das Programm weder öffnen noch auf ihren Rechner ziehen. Peter hatte den Stick mit mindestens einem Passwort geschützt. Nach zwei Versuchen hatten Ayse und Lara aufgegeben, aus Angst, dass sich das Programm nach einem dritten Fehlschlag selbst zerstörte (was nach Ayses Meinung durchaus passieren konnte und mit einer großen Explosion einhergehen würde). Sich an einen Fachmann zu wenden, erschien Lara zu gefährlich. Sie wusste um die guten Kontakte von Konrad und hatte Angst, dass er über Umwege von ihrer Recherche erfuhr. In seinem Gemütszustand würde er ihr Styx einfach wegnehmen. Und damit jede Chance, ihren Vater zu finden.
Deshalb wollte sie das Paar suchen, das auf den Fotos zu sehen war. Sie wusste, dass ihr Vater seit zwölf Jahren an dem Programm arbeitete. Also musste er ungefähr in der Zeit damit angefangen haben, als das Foto entstanden war. Vielleicht konnten diese beiden Personen ihr mehr darüber erzählen?
Es war eine Kamikazeaktion. Schließlich war es gut möglich, dass die betreffenden Personen gar nicht mehr in diesem Sasbachwalden lebten. Sie hatte die Fotos eingescannt und per Gesichtserkennung versucht herauszufinden, ob die beiden bei Facebook oder anderen öffentlichen Plattformen waren. Ohne Ergebnis. Da keine Namen auf dem Foto standen, musste Lara auf anderem Weg herausfinden, wer da an ihrer Seite gestanden hatte. Und warum ihr Vater ihr dieses Foto niemals gezeigt hatte.
Mit einem wütenden Blick auf Rudi befestigte sie den Stick an der Kette mit dem Halbmond und legte sie sich um.
»Den Rest der Fahrt überschreiten wir die 150 nicht. Sonst zahle ich keinen Cent.« Sie versuchte, möglichst so zu klingen, als würde sie es wirklich, wirklich sehr ernst meinen. Und tatsächlich. Den Rest der Fahrt brachte sie ohne weiteres Herzrasen hinter sich, stattdessen mit dem leichten Gewicht des Sticks und der Elfe auf ihrer Brust.