Timo
Als Rudi den Golf von der Autobahn lenkte, war Lara überrascht. Sie hatte sich den Schwarzwald als Einöde voller Tannen vorgestellt. Jetzt fuhren sie durch Achern, eine richtige Kleinstadt, die mehr zu bieten hatte als nur Hüte mit Bommeln darauf, die Ayse und sie im Internet gesehen hatten. Hinter der Stadt ragten Berge auf, und Lara begriff augenblicklich, warum diese Gegend Schwarzwald genannt wurde. Die vielen Tannen vermittelten den Eindruck, als würden sich unter ihren dunklen, eng zusammenstehenden Wipfeln lauter bedrohliche Geheimnisse abspielen.
Rudi gähnte, während er den Wagen durch eine Hauptstraße lenkte und dann an einem Kreisverkehr abbog. Die Straße begann, sich einen Berg hinaufzuschlängeln. Sie durchquerten ein winziges Dorf.
Nachdem Rudi einen auffälligen Blick auf die Uhr geworfen hatte, brachte er den Wagen unvermittelt zum Stehen.
Lara sah ihn überrascht an. »Sind wir schon da?«, fragte sie verwundert.
»Das ist Sasbach«, erklärte er ungeduldig.
»Ich muss aber nach Sasbachwalden.
«
»Ich bin spät dran. Nachdem ich so trödeln musste«, erklärte er gedehnt und hielt Lara die offene Hand hin.
Sie dachte gar nicht daran, einen Typen wie Rudi anzubetteln, und knallte ihm 30 Euro in die Hand, ehe sie mit ihrer Tasche und der Schachtel ausstieg und geräuschvoll die Autotür zuschlug. Als Rudi mit quietschenden Reifen in die Richtung davonraste, aus der
sie gekommen waren, schrie sie ihm geladen hinterher: »Arschloch!«
In diesem Moment hörte sie das Lachen.
Jemand hatte sie beobachtet. Und dieser Jemand lachte nun über sie. Lara hasste es, wenn sich andere über sie lustig machten.
Sie drehte sich zu einem kleinen Fachwerkhaus um. Direkt an dem Haus war eine kleine Garage angebaut, die offen stand. Davor stand ein Junge, der sie mit einem frechen Grinsen betrachtete. Er war etwas größer als sie, ungefähr in ihrem Alter und hatte dunkelblonde, verwuschelte Haare. Um den Hals baumelte ein kleines, silbernes Skateboard an einem schwarzen Lederband. Seine dunkelbraunen Augen blickten amüsiert auf Lara, während er sich die ölverschmierten Hände an einem Tuch abwischte. Neben ihm stand eine schwarze Vespa.
Ihr blieb der Satz »Was gibt es da zu lachen?« im Hals stecken. Sie stand da wie ein Trottel und schwieg, während der Junge lässig auf sie zuging.
»Hi. Ich bin Timo.«
Er besaß eine warme, tiefe Stimme.
Hi. Ich bin Timo.
So einfach ging das. Hi. Ich bin Lara.
So einfach hätte sie antworten können.
»Der Typ hat mich hier einfach stehen lassen«, erklärte sie stattdessen, und in ihrer Stimme schwang mehr Verzweiflung mit, als sie wollte. Sie musste nahezu hilflos wirken. Ein Wort, das sie in Berlin niemals mit sich selbst in Verbindung gebracht hätte.
Die einbeinigen Tauben am Kottbusser Tor, die Touristen in der U-Bahn, die den Stadtplan verkehrt herum
hielten, die Jungs in ihrer Klasse, wenn sie versuchten, unter Ayses Kopftuch ihre Haarlänge zu erahnen – all das waren Beispiele für Hilflosigkeit. Aber nicht Lara.
»Hab ich bemerkt«, erwiderte Timo und grinste.
Lachte er schon wieder über sie?
»Wo kommst du her? Ich hab dich hier noch nie gesehen.«
»Aus Berlin.« Erleichtert stellte sie fest, dass ihre Stimme wieder selbstbewusster klang.
»Irgendwie kommst du mir bekannt vor«, sagte er nachdenklich, und zwischen seinen Augen bildete sich eine kleine Falte.
»Kann nicht sein. Ich war noch nie hier, und ich bin auch bald wieder weg.« Lara kramte in der Schachtel nach dem Foto. »Kennst du ein Sasbachwalden?«
Er nahm ihr das Foto aus den Händen und betrachtete es neugierig. »Das sind Jo und Karin!«, rief er. »Seine Nase war also doch schon immer so groß.«
Jo und Karin.
Lara hatte nie gehört, dass ihr Vater von diesen Leuten gesprochen hatte. Und doch hatte sie als kleines Kind zwischen ihnen gestanden.
Timo sah sie überrascht an. Sein Blick wanderte mehrmals von dem Foto zu ihrem Gesicht.
»Jetzt weiß ich, woher ich dich kenne! Du bist das Kind auf dem Foto! Du bist Lara! Auf dem Foto bist du noch total klein. Aber ich erkenne dich.«
»Woher ... also ...«, stammelte sie überfordert.
»Das sollen sie dir selbst erklären«, fand er und eilte in die Garage, um nur Sekunden später wieder vor Lara zu stehen. In den Händen hielt er zwei Helme. »Meine Schicht fängt gleich an. Ich arbeite im
Einhorn
. Ein Restaurant in Sasbachwalden. Gehört meinen Eltern. Ich kann dich bei Jo und Karin absetzen.«
Ohne eine Antwort abzuwarten, blieb Timo dicht vor ihr stehen und setzte ihr den Helm auf den Kopf. Lara nahm die kurzen Berührungen seiner Finger wahr, die versuchten, ihre Haarmähne unter dem Helm zu bändigen.
Auf der Vespa schlang sie die Arme notgedrungen um Timos Hüfte. So an ihn geklammert konnte sie seinen Geruch einatmen. Er roch nach etwas, das für sie völlig neu war. Eine Mischung aus Tannennadeln und Wiese.
»Wir sind gleich da!«, rief er ihr zu.
Ein kleines bisschen Angst hatte Lara vor dem Ende der Fahrt. Was würde sie erwarten? Offensichtlich kannten Jo und Karin sie. Sie sprachen sogar von ihr. Was hatte das zu bedeuten? Wieso hatte sie nie von diesen Menschen gehört?
Und was würden sie von ihr halten, wenn sie einfach aus dem Nichts auftauchte und fragte, ob sie von einem geheimen Projekt ihres Vaters wussten?
Sie sah sich um. Wiesen voller Obstbäume glitten an ihnen vorbei, dahinter türmten sich bewaldete Berge. Die Luft roch klar.
Sie konnte nicht sagen, ob es an den Fotos lag, die sie in der Schachtel mit sich herumtrug, aber aus irgendeinem Grund kam ihr all das vertraut vor.
Sie passierten das Ortsschild von Sasbachwalden, und ein großes Plakat gab damit an,
dass dies der Ort der Blumen und des Weins sei. Keine Frage. Überall waren Blumen. An den kleinen Fachwerkhäusern, die die steile Straße schmückten, in Töpfen, in den Gärten. Und natürlich vor dem Weingut, das in einem riesigen Gebäude rechts am Straßenrand auftauchte. Dahinter ragten steile Weinberge empor. Lara konnte unter den erstaunlich zahlreichen Passanten nur schwer Dorfbewohner von Touristen unterscheiden. Das alles wirkte wie in einem Märchen.
An einer Fußgängerampel brachte Timo die Vespa zum Stehen.
Eine alte Frau überquerte bedächtig die Straße.
Er drehte sich zu Lara um.
»Alles klar?«, fragte er.
Nichts war klar. Nicht mehr, seit ihr Vater verschwunden war. Vielleicht sollte sie doch besser umkehren? Noch hatte sie die Gelegenheit dazu. Gerade, als sie registrierte, wie irritierend ihr Schweigen sein musste, wurde sie erlöst. Die alte Frau hatte die andere Straßenseite erreicht, und Timo drehte sich zurück zur Straße.
Nein. Sie würde nicht umkehren. Was auch immer mit ihrem Vater geschehen war, sie musste alles versuchen, um ihn zu finden. Lara wollte die Arme erneut um seine Hüfte schlingen, als sie spürte, wie sich sein ganzer Körper anspannte.
Sein Blick war auf einen Jungen in ihrem Alter gerichtet. Schwarze Haare, dunkle Augen und gut einen Kopf größer als Timo. Die Arme und Beine wirkten zu lang für den Oberkörper, als müsste dieser noch nachwachsen
.
Der Junge erwiderte den Blick. Eine Mischung aus Traurigkeit und Wut lag darin, ehe er mit seinen schlaksigen Beinen in wenigen Schritten die Straße überquerte.
Timo zögerte noch einen Moment lang, ehe er Gas gab. Lara drehte sich zu dem Jungen um und zuckte zusammen, als dieser ihr direkt in die Augen sah.
Timo fuhr nun schneller. Die kurze Begegnung schien ihn völlig aus der Fassung gebracht zu haben. Zügig hatten sie das an einem Hang liegende Dorf hinter sich gelassen und fuhren den Berg weiter hinauf, bis schließlich ein von Efeu bewachsenes Holzschild in einen Waldweg wies.
In verblichenen Buchstaben stand da: Waldapotheke
.
Timo bog in den Waldweg ab. Die Vespa holperte über einen Pfad, der von Wurzeln so durchdrungen war, dass sie die Fahrt auf halbem Weg abbrechen mussten. Zwischen einigen Tannen versteckt erkannte Lara ein kleines Haus. Es erinnerte sie an das Lebkuchenhaus aus dem Märchen von Hänsel und Gretel – allerdings ohne Lebkuchen.
»Da vorne ist es«, erklärte Timo kurz angebunden.
Lara stieg von der Vespa ab und hatte das Gefühl, dass es kälter wurde, als sie Timo losließ. Sie zog den Helm vom Kopf und reichte ihn Timo.
»Bis dann.« Er machte kehrt. Ohne sie eines Blickes zu würdigen, gab er Gas und fuhr davon.
Was für ein Idiot!
»Kann ich dir helfen?«, hörte sie da eine freundliche Stimme hinter sich und drehte sich um.