Jo, Karin und die dicke Katze
Jos Nase schien in Wirklichkeit noch größer. Als wäre sie all die Jahre unbeirrt weitergewachsen. Falten hatten sich in seinem Gesicht gebildet, und einige graue Haare ließen auf sein Alter schließen. Er musste ungefähr im Alter ihres Vaters sein. Der Blick seiner blauen Augen musterte Lara erstaunt.
Während sie noch überlegte, wie genau sie sich vorstellen sollte, kam Jo auf sie zu.
»Lara ...« Seine Stimme brach ab, während er unsicher wenige Schritte vor ihr stehen blieb.
»Äh, ja«, erwiderte sie verblüfft. Offensichtlich sah sie der kleinen Version ihres Selbst auf dem Foto tatsächlich noch verdammt ähnlich.
Jo hob eine Hand. Als wollte er Lara berühren, traute sich aber nicht näher heran. Als wäre sie nur eine Erscheinung, die gleich wieder verschwinden würde. Lara wich einen Schritt zurück.
»Ich habe keine Ahnung, wer Sie sind«, erklärte sie schnell.
Er lächelte, während ihm gleichzeitig eine Träne über das Gesicht lief. Ayse hatte oft von solchen Szenen erzählt, wenn sie ihre kleinen Liebesgeschichten aufschrieb, in denen sich zwei Menschen nach einem langen Krieg oder bösen Intrigen der Schwiegermutter endlich wiederfanden. Sie hätte gewusst, was Lara jetzt sagen sollte. Lara selbst hatte jedoch keine Ahnung.
Jo blickte hinter sie, als würde er irgendjemanden suchen.
»Wo ist Peter?«, fragte er heiser
.
Sie sah ihn unsicher an. »Wer ... sind Sie?«
»Ich bin dein Onkel Jo. Peters Bruder.«
Seine zitternde Hand näherte sich Laras Gesicht, wich dann aber vor ihr zurück, ehe er sie berührte. »Komm mit,« murmelte er. »Sie wird sich so freuen, dich zu sehen.«
Sie gingen um das kleine Haus herum. Direkt neben dem Hexenhaus stand ein ähnlich großes, von Efeu umranktes Haus zwischen den Tannen. Es war so dicht bewachsen, dass es aussah, als wäre es zu lange nicht mehr beim Friseur gewesen. Lara schätzte, dass es sich dabei um die Waldapotheke
handelte, die das Holzschild an der Straße angekündigt hatte. Sie war froh, gehen zu können. Durch die Bewegung spürte sie ihre weichen Knie nicht so sehr. Sie hatte mit allem Möglichen gerechnet. Aber dieser Mann behauptete, der Bruder ihres Vaters zu sein! Unmöglich! Peter hatte keinen Bruder. Sie hatte keinen Onkel. Nie gehabt. Wie kam Jo darauf, so etwas zu behaupten?
Und warum, so fragte eine leise Stimme in ihrem Inneren, sollte er lügen?
Sie folgte ihm durch ein von dunkelroten Rosen umranktes Gartentor und blieb vor Staunen stehen. Der Garten hinter dem Haus blühte in Farben, die sie noch nie in dieser Fülle gesehen hatte. Sie erkannte Rosen und einzelne Kräuter wie Petersilie und Basilikum. Der Rest der Pflanzen war ihr völlig unbekannt. Aber alles blühte, und der Duft, der ihr entgegenströmte, ließ Lara für einen Moment lang schwindlig werden.
Dann entdeckte sie die Frau. Sie kniete zwischen irgendwelchen Kräutern auf dem Boden und hob den Kopf, als Jo ihren
Namen rief.
Auch sie erstarrte, als sie Lara erblickte. Ein augenblickliches Erkennen spiegelte sich in ihren Augen. Sie stand auf, die kleinen Hände voller Erde, die nackten Füße schwarz davon. Alles an dieser Frau wirkte klein. Dennoch fand Lara, dass man sie unmöglich übersehen konnte. Die dunklen Haare waren zu einem Zopf gebunden. Taumelnd trat sie ihnen entgegen. Sah erst Lara an, dann Jo, der leicht nickte. Als wollte er sagen: Ja, das ist sie wirklich. Und dann drückte sie Lara mit ihren kurzen Armen an sich. Bei dieser Berührung erstarrte Lara. Sie war es nicht gewohnt, umarmt zu werden. Ihr Vater hatte so etwas nie getan. Nun von einer fremden Frau umarmt zu werden, die ihr bestimmt gleich weismachen wollte, ihre Tante zu sein ... war Lara einfach zu viel. Sie war dankbar, als Jo Karin leise darum bat, sie wieder loszulassen.
Lara spürte die kalte, glatte Sitzfläche der weißen Gartenbank unter ihrem Hintern. Die Bank stand ein wenig schief, sodass Lara bei der kleinsten Gewichtsverlagerung entweder nach rechts oder nach links kippte. Rechts zu Jo, der sie immer noch anstarrte, als wäre sie direkt aus dem Jenseits gekommen, um als Geist Hallo zu sagen. Links von ihr saß Karin, die ihre kleinen Hände fest um ein Glas selbstgemachter Pfefferminzlimonade geschlossen hatte, als würde sie dort Halt suchen. Lara trank nervös einen Schluck der Limonade und starrte auf das Foto, das auf dem Tisch lag. Das Foto, das sie hierher gebracht hatte.
»Da warst du drei«, erklärte Karin.
»Ich weiß. Steht hinten auf
dem Foto.«
Karin verstummte.
»Papa hat keinen Bruder.«
Jo verschluckte sich an seiner Limonade, und Karin sah Lara entsetzt an.
»Peter hat dir nicht von uns erzählt?«
»Nein. Und ich bin mir sicher, wenn Sie sein Bruder wären, dann wüsste ich davon.«
Jo kam wieder zu Atem. Er warf Karin einen Blick zu.
»Wundert dich das? Passt doch zu ihm.«
Passt doch zu ihm?
»Aber dass er uns nie erwähnt hat. Das kann ich mir nicht vorstellen!«
»Also, ich schon.«
Die beiden taten so, als wäre Lara gar nicht da.
»Du weißt doch, wie er damals weg ist. Er hat alles hinter sich gelassen, was hier passiert ist. Uns auch.«
Endlich sah Jo wieder zu Lara. »Wenn er dir nicht von uns erzählt hat, was machst du dann hier? Und wo ist Peter?«
Sie spürte, wie die Kälte zurück in ihre Brust kroch.
»Papa ist verschwunden. Seit einer Woche. Ich suche ihn.«
»Verschwunden?«
»Wissen Sie etwas über ein Programm, an dem er gearbeitet hat?«
Lara hätte genauso gut fragen können, ob er eine Atombombe gezündet hatte. Bleicher hätten die beiden nicht werden können.
»Bevor wir weiterreden, würde ich dir gerne etwas zeigen«, sagte
Jo schließlich.
Eine Viertelstunde später hatte Lara einen Berg Fotoalben vor sich auf dem Tisch liegen. Fotos ihrer Eltern, lange, bevor Lara geboren worden war. Fotos von Karin und Maja, von Peter und Jo – aus Kindheitstagen. Jo hatte Lara sogar seine Geburtsurkunde vorgelegt, um ihr zu beweisen, dass er wirklich ihr Onkel war.
Ihr Onkel.
Lara war so speiübel, dass sie befürchtete, sich gleich über Karins Kräutergarten übergeben zu müssen. Was zur Hölle ging hier vor? Ihr Vater hatte einen Bruder. Den er nie erwähnt hatte. Mit keinem Wort.
Warum?
Als sie Jo diese Frage stellte, schaute dieser erneut zu Karin. Als wäre er unsicher, was er Lara antworten sollte.
»Peter und ich hatten nach Majas Tod einen heftigen Streit. Ihr zwei seid zu Konrad nach Berlin gezogen und ...«
»Ich bin in Berlin geboren und aufgewachsen«, erklärte Lara schnell.
Schon wieder dieser Blick.
»Das stimmt nicht«, erklärte Karin leise. »Ihr habt in dem kleinen Haus neben uns gelebt. Bis zu dem Unfall.«
Selbst wenn sie traurig war, klang ihre Stimme hell wie ein leiser Glockenschlag.
Lara schwieg. Die Bank kippte leicht nach rechts.
»Gut. Du kriegst die Kurzversion«, begann Jo, der Lara ein bisschen besorgt betrachtete.
Wenn sie so aussah, wie sie sich fühlte – kein Wunder.
»Peter und ich sind in diesem Haus aufgewachsen. Unserem Elternhaus. Wir haben Maja und Karin in
der Schule kennengelernt. Das Haus nebenan war ein Schuppen, den Peter und Maja gemeinsam ausgebaut haben. Wir wollten hier gemeinsam unsere Kinder großziehen. Aber nach Majas Unfall hat Peter sich zurückgezogen. Er hat angefangen, an irgendeinem Projekt zu arbeiten. Er war wie besessen. Wir machten uns Sorgen. Um ihn, vor allem aber um dich.«
Das Projekt! Styx
!
»Er hat sich nicht mehr um dich gekümmert. Nur deshalb sind wir eingebrochen!«, erklärte Karin hastig.
Eingebrochen? Verwirrt blickte Lara von einem zum anderen.
Jo sah Karin mahnend an und hatte plötzlich unheimlich viel Ähnlichkeit mit Peter.
»Es ist ... eine lange Geschichte. Aber ... wir hatten Sorge, dass er sich nicht mehr richtig um dich kümmert, und wollten nach dem Rechten sehen. Da Peter die Türen von innen verriegelt hatte, mussten wir durchs Fenster. Ich bin in seinem Arbeitszimmer gelandet, und Peter ist völlig durchgedreht. Hat uns vorgeworfen, total übergriffig zu sein. Zwei Tage später haben wir das Jugendamt eingeschaltet. Da wart ihr schon weg.«
»Ein Jahr später wurde Majas Grab verlegt.«
Die Bank unter Laras Hintern kippte nach links, und nun klammerte auch sie sich an ihrem Glas fest.
»Das stimmt nicht«, beharrte sie. »Wenn ich vier Jahre hier gelebt hätte, dann wüsste ich das doch! Außerdem hat Papa sich immer super um mich gekümmert.«
»Wir erinnern uns kaum an die ersten vier Jahre unseres Lebens«, erwiderte Karin leise. Ihre Hand suchte die von Lara
.
Aber Lara zog ihre weg. »Wenn es so war«, ihre Stimme klang hölzern, »dann hatte Papa einen guten Grund, warum er mir nichts von euch erzählt hat.«
»Den Grund kann ich dir nennen!« Karins Gesicht verzog sich wütend. »Er hatte Angst, dass wir dir die Wahrheit erzählen. Denn mit der Wahrheit kommt dein Vater gar nicht gut klar.«
»Karin!«
»Ist doch wahr!«
Lara hatte keine Lust, sich weitere Vorwürfe gegen ihren Vater anzuhören. Deshalb war sie nicht hergekommen. Sie stand auf. »Ich gehe jetzt.« Sie hatte zwar keine Ahnung, wohin sie sollte, aber alles war besser als das hier.
Karin erhob sich ebenfalls. »Wir fanden heraus, dass ihr zu Konrad nach Berlin seid. Wir sind zu euch gefahren. Aber ... Peter hat sich geweigert, mit uns zu sprechen, und irgendwann haben wir aufgegeben.«
Lara sah ihr in die Augen. Flehend schaute sie sie an. Lara wusste nicht mehr, was sie glauben sollte.
Jo war ebenfalls aufgestanden. »Es ist jetzt Nebensache, warum du nichts von uns weißt. Du hast gesagt, Peter ist verschwunden. Du suchst ihn. Lass uns helfen.«
Lara zögerte. Sie verspürte den Drang, in den nächsten Zug zu steigen und zu Ayse nach Berlin zu fahren. Aber wenn sie wirklich hier gelebt hatten und wenn Peter wirklich hier damit angefangen hatte, an dem Programm zu arbeiten, war er vielleicht auch hierher zurückgekehrt?
War er vielleicht in ihrer Nä
he?
Während sie noch abwog, ob sie Jos Angebot annehmen sollte oder nicht, wurde ihre Aufmerksamkeit abgelenkt. Zwischen den langen Stielen irgendeines Krauts tauchte der Kopf eines Mädchens auf. Kaum älter als sechs Jahre. Sie war barfuß, und ihre langen, dunklen Zöpfe baumelten über den Schultern. Das Mädchen lachte Lara mit rehbraunen Augen an und hielt die linke Hand mit der Handfläche nach vorn gestreckt in die Höhe. Auf die Handfläche war ein Auge gemalt. Es sah so aus, als ob dieses Auge genau wie das Mädchen lächelte.
»Lara, das ist Mila. Unsere Tochter.«
Die Hand, auf die das Auge gemalt war, winkte Lara, während das Mädchen sich zu Karin stellte.
»Sie ist sechs. Wir hatten schon gar nicht mehr zu hoffen gewagt, dass wir auch noch ein Kind bekommen«, erklärte Karin, während sie Mila ein paar blaue Blüten aus dem Haar zupfte.
Die Hand mit dem aufgemalten Auge wackelte hin und her.
»Zwitscher will wissen, wer das ist!«, erklärte Mila mit hoher Stimme. Glockenhaft wie die Stimme ihrer Mutter. Eine große Glocke und ein Glöckchen.
»Das ist Lara. Deine Cousine«, flüsterte Karin Mila liebevoll ins Ohr, während sie gleichzeitig ihre nackten Füße vom Dreck befreite.
»Zwitscher mag Lara!«, erklärte Mila und winkte erneut.
Ratlos sah Lara zu Jo.
»Zwitscher ist ihre Hand. Also ... das Auge. Ab dem dritten Lebensjahr haben Kinder meistens eine
sogenannte magische Phase, in der alles, was sie denken, Realität werden kann. Geister, Monster oder Engel existieren wirklich. Manche haben sogar unsichtbare Freunde, die sie eine Zeit lang begleiten. Unsere Mila hat ein Auge, mit dem sie kommuniziert. Zwitscher.«
Mila lächelte Lara offen an, und Lara hätte schwören können, dass das Auge in ihrer Hand ihr zuzwinkerte. Aber das musste eine optische Täuschung sein.
»Während bei den meisten Kindern die magische Phase im Alter von sechs Jahren lange vorbei ist, dauert sie bei Mila an. Wir wissen nicht, warum.«
Lara betrachtete das Mädchen. Alles an ihr war klein, wie es sich für eine Sechsjährige gehörte. Aber ihre Augen wirkten, als hätten sie schon mehr gesehen, als Lara sich vorstellen konnte.
Mila drehte sich um, zeitgleich folgte Zwitscher ihrem Blick.
»Das ist Styx!«, erklärte sie.
Lara erstarrte und folgte Milas beziehungsweise Zwitschers Blick. Vor ihnen auf dem Boden saß eine Katze.
Wie ferngesteuert näherte sich Lara dem Tier und kniete sich vor ihm auf den Boden. Die Katze erwiderte ihren Blick. Die Augen erinnerten Lara an den Sonnenuntergang, den man vom Kreuzberg aus sehen konnte. Es war die hässlichste Katze, die Lara jemals gesehen hatte.
Die Haare an ihren Unterarmen richteten sich auf, die Gänsehaut kletterte ihren Körper herauf und hinunter, während die Katze um ihre Beine herumstrich.
Die Katze, die Lara auf dem Friedhof gesehen hatte! Die Katze, die sie für den Bruchteil einer Sekunde in eine andere Welt gebracht hatte.
Die Katze, die unmöglich hier sein konnte.
Und auch den Namen trug, den ihr Vater seinem Programm gegeben hatte.
Lara zuckte zusammen, als der kleine Mund der Sechsjährigen ihr rechtes Ohr berührte. Lautlos war Mila hinter sie getreten und sah sie an, während Zwitscher vor Laras Augen hin und her wackelte.
Dann holte das Mädchen tief Luft und flüsterte: »Styx kann zwischen den Welten reisen.«
Lara glaubte ihr sofort.