Eine halbe Jüdin
A: Das ist unmöglich. Und das weißt du. Die Katze auf dem Friedhof ist niemals die Katze von dem Mann mit der dicken Nase. Und das mit dem Namen ist Zufall. Sonst nichts.
L: So was Hässliches kann es im ganzen Universum nur ein einziges Mal geben.
A: Ich hab dir gleich gesagt, dass dieser Schwarzwald komisch ist. Jetzt wirst du komisch. Komm wieder nach Hause!
L: Das mit zu Hause ist so eine Sache. Ich bin angeblich hier geboren. Und ich hab sogar Verwandte.
A: ?
L: Der mit der dicken Nase ist mein Onkel Jo. Die kleine Frau ist Karin. Die beiden behaupten, dass ich die ersten vier Jahre meines Lebens im Haus neben ihnen gewohnt habe. Bis nach dem Tod meiner Mutter.
A: Das müssen die erfinden.
L: Der hat Fotos und Geburtsurkunden und was weiß ich noch alles. Frag Frau Meier, wann wir in Kreuzberg eingezogen sind.
A: Gute Idee. Die weiß alles.
L: Was ist mit Konrad?
A: Hat sich im Kellerzimmer eingeschlossen.
L: Jo weiß etwas von dem Programm.
A: Also gut. Vielleicht war deine Idee, zu den Hinterwäldlern zu fahren, doch nicht ganz so bescheuert.
L: Ich hab jemanden getroffen ...
A: Was? Da lässt man dich mal einen Tag allein! Wer ist es? Wie sieht er aus? Ich muss ALLES wissen. Alles!
Natürlich. Ayse dachte sofort an das . Als wäre Lara im Moment ansatzweise in der Lage, sich für einen Jungen zu interessieren. Und dann noch für diesen Idioten! Aber in Sachen Liebe war Lara Ayses großes Sorgenkind. Denn auch, wenn Ayse den Mann ihres Lebens noch nicht getroffen hatte, so wusste sie doch ganz genau, wie sie sich anfühlte, die Liebe. Nicht etwa aus Filmen oder Büchern. Ayse behauptete, dass sie die besondere Gabe für visionäre Gefühle besaß.
»Wenn ich ihn treffe, weiß ich Bescheid«, erklärte sie gerne.
Lara hingegen bezweifelte, dass sie Bescheid wissen würde. In der ganzen Schule gab es nicht einen Jungen, der sie schlaflos machte oder ihr gar Schmetterlinge im Bauch bescherte. Auf einer Party hatte sie Ayse zuliebe mit einem Jungen geknutscht, um herauszufinden, ob sie vielleicht lesbisch war. In dem Moment, in dem sie die Lippen des Jungen auf ihren gespürt hatte, waren ihr zwei Dinge klar geworden. Erstens: Küssen an sich war eine feine Sache. Zweitens: nicht mit diesem Kerl.
Sie hatte den Jungen einfach stehen lassen und Ayses lesbische Vermutungen ignoriert. Irgendwo da draußen gab es jemanden, den sie küssen wollte. Aber bestimmt nicht diesen Hinterwäldler.
Lara tippte.
L: Er kennt Jo. Vielleicht weiß er irgendwas.
A: Mach trotzdem ein Foto. Übrigens: Konrad zieht gerade aus eurer Wohnung aus. Er sagt, du sollst dich melden, wenn du zurück bist. Ich habe jetzt den Schlüssel und gebe ihn Frau Meier.
»Lara?«
Sie sah von ihrem Handy auf. Karin und Jo waren auf die Terrasse getreten.
»Ich habe mein Nähzimmer umfunktioniert. Jetzt kann man darin schlafen«, erklärte Karin. »Wir könnten essen gehen und dann besprechen, was weiter passiert?«
Lara überdachte dieses Angebot. Sie wäre lieber in irgendein Hotel gegangen. Schließlich hatte sie keine Ahnung, ob sie diesen Leuten trauen konnte. Sie vertraute auf das Urteil ihres Vaters. Wenn jemand den Kontakt zu seinem Bruder abbrach, dann musste er dafür einen guten Grund haben. Trotzdem waren dies die ersten Verwandten, die sie kennenlernte. Sie besaßen vielleicht Antworten auf ihre Fragen. Außerdem nagte eine unbestimmte Neugier an ihr, weil da auf einmal Familie auftauchte, wo vorher nur ein weißer Fleck in ihrem Stammbaum gewesen war. Und sie hatte sowieso kein Geld für ein Hotel.
Ihr Magen knurrte. Sie dachte an Begüm, die in solchen Situationen immer einen Rat wusste: Erst mal ein gutes Essen. Der Rest ergibt sich von allein.
Also nahm sie die Essenseinladung an.
Jo und Karin hatten in ihrem Stammlokal Zum Einhorn einen Tisch reserviert. Lara war gespannt, denn sie ahnte, dass sie Timo dort erneut begegnen würde. Vielleicht lieferte er ihr eine Erklärung für seinen abrupten Abgang? Als sie hinter Jo, Karin und Mila die holzvertäfelte Gaststätte betrat und sich umsah, verstummten alle Gespräche. Dieser Auftritt war ihr peinlich. Als auch noch aus einer Ecke ein Finger auf sie deutete und sie die Worte »die aus Berlin« hörte, wäre sie am liebsten wieder umgekehrt.
Wie war es möglich, dass alle bereits Bescheid wussten?
An einem der hinteren Tische entdeckte sie Timo. Er servierte drei Mädels eine Runde Cocktails, die ihn alle angrinsten und sich nervös durch die Haare fuhren. Doch er schien gegen die Flirtversuche immun. Er drehte sich mit dem leeren Tablett um und sah Lara direkt in die Augen. Dann stellte er das Tablett auf der Theke ab, nahm drei Speisekarten und ging damit auf sie zu.
»Timo kennst du ja schon«, hörte sie Jos Stimme hinter sich.
»Sorry, dass ich vorhin einfach so abgehauen bin«, sagte er leise, während er ihr eine der Speisekarten unter die Nase hielt.
»Ist mir gar nicht aufgefallen.« Sie hoffte, dass er ihr diese wenig glaubhafte Lüge abnahm.
»Bereit für das erste Mahl unter Eingeborenen?«, fragte er mit seinem frechen Lächeln.
»Fressen sie Menschen?«, hakte Lara nach, während sie den neugierigen Blicken auswich.
Er unterdrückte ein Lachen. »Nicht in meinem Laden.«
Anschließend führte er sie an den letzten freien Tisch.
Mila setzte sich neben Lara, während Timo nach und nach ihre Bestellung aufnahm und Lara das erste Mal in den Genuss selbstgemachter Flammkuchen kam. Wirklich genießen konnte sie das Essen jedoch nicht. Ihre Gedanken waren unentwegt bei ihrem Vater. Sie fragte Jo und Karin nach den restlichen Personen auf dem Foto. Vielleicht war einer von ihnen ein weiterer Anhaltspunkt zum Verbleib ihres Vaters.
Akneboy hieß eigentlich Fred und war ein Wunderkind am Klavier gewesen. Laras Großmutter, eine Klavierlehrerin für besonders begabte Kinder, war eigens aus Wien hierher gezogen, um ihn zu unterrichten. Ohne diesen Fred wäre Maja also nie im Schwarzwald gelandet. Und Laras Eltern hätten sich nie kennengelernt.
Der Surferboy hieß Markus Langenfels. Aber alle hatten ihn Luxus genannt. Er war der Sohn eines Bankiers gewesen und hatte in der Villa seiner Eltern ständig Partys steigen lassen, was ihm seinen Spitznamen eingebracht hatte.
Jo, Karin, Laras Eltern, Konrad und diese beiden Jungs waren zu Schulzeiten Freunde gewesen.
Aber mittlerweile war neben Maja auch Fred gestorben. In seinem Penthouse in New York. Die genauen Umstände kannten Jo und Karin nicht. Die Geschichte mit Luxus war noch mysteriöser. Er war nach Berlin gezogen und hatte dort die Geschäfte seines Vaters weitergeführt. Sehr erfolgreich. So erfolgreich, dass er irgendwann keine Zeit mehr für seine Freunde gehabt hatte. Dann, von einem Tag auf den anderen, war er verschwunden. Niemand wusste, was mit ihm geschehen war.
Lara bekam eine Gänsehaut. Zwei Personen aus der Clique ihrer Eltern waren spurlos verschwunden .
»Hat er auch an einem Computerprogramm gearbeitet?«, fragte sie leise.
»Nein. Luxus hatte mit Computern nichts zu tun«, erwiderte Jo.
»Luxus geht’s gut«, mischte sich Mila unvermittelt ein. »Der ist beim Mühlrad.«
Lara sah das Mädchen entgeistert an, das grinsend aufsprang und zu Timo an die Theke ging, um dort lauthals eine Apfelschorle zu bestellen. Groß.
»Wovon redet sie?«, fragte Lara.
Jo und Karin wirkten ratlos.
»Sie hat Fantasie. Und sie weiß, dass wir uns sehr um Luxus gesorgt haben. Irgendwann hat sie angefangen, uns immer wieder von diesem Mühlrad zu erzählen. Sie will uns beruhigen. Glauben wir jedenfalls.« Jo wirkte allerdings nicht sehr beruhigt.
Er ließ sich jedes Detail von Peters Verschwinden erzählen. Voller Sorge lauschte er Lara, die unsicher war, wie viel sie ihm erzählen sollte. Als sie in ihrem Bericht Konrad erwähnte, hellten sich die Gesichter der beiden auf.
»Konrad ... Wie schön, dass er noch bei euch ist.«
Sehnsucht schwang in Karins Stimme mit.
Diese Frau wirkte einfach nicht wie jemand, dem man wegen irgendetwas böse sein konnte. Was hatten sie ihrem Vater nur getan?
Lara behielt so viele Details wie möglich für sich und fragte stattdessen nach ihren Großeltern mütterlicherseits.
»Dein Großvater war schon lange tot, als ich Maja kennengelernt habe«, berichtete Karin bereitwillig. » Und deine Großmutter ... sie war ein ... sehr überzeugter Mensch.«
»Überzeugt von was?«, fragte Lara, die noch einmal von dem leckeren Flammkuchen abbiss.
»Sie war Jüdin. Genau wie deine Mutter.«
Lara spürte, wie sich das Stück Flammkuchen fast unzerkaut ihre Kehle hinabschob. »Aber wir sind katholisch«, hustete sie.
»Nachdem Maja und Peter geheiratet haben, ist Maja zum katholischen Glauben konvertiert. Aber ... wie sagt man ...«, überlegte Jo, »von Geburt her war sie Jüdin.«
»Fred hat sich immer beschwert, dass deine Großmutter ihm beim Unterricht das Leben zur Hölle gemacht hat. Ständig ist sie darauf rumgeritten, dass er Christ war. Und hat ihm vorgeworfen, mit verantwortlich für die Jahrhunderte lange Verfolgung von Juden in Europa zu sein.«
Jo konnte darüber nur den Kopf schütteln, während Karin Lara nachdenklich beobachtete.
Mila kam, ein großes Glas vor sich her balancierend, zurück an den Tisch und setzte sich.
»Genau genommen macht dich das auch zu einer Jüdin. In dieser Religion wird die Zugehörigkeit ja immer von der Mutter an das Kind weitergegeben.«
Lara ließ diese Nachricht auf sich wirken, während ihre Finger unter dem Tisch automatisch eine Nachricht an Ayse tippten.
L: Ich bin eine halbe Jüdin!
A: ???
Diese Tatsache würde für jede Menge Gesprächsstoff sorgen. Dessen war sich Lara bewusst. Ihre eigene Religionszugehörigkeit erschien ihr aber in diesem Moment zweitrangig. Sie hätte gern noch mehr über ihre Großmutter gehört. Endlich etwas über die eigene Familie zu erfahren, war verwirrend. Gleichzeitig saugte sie jede Information auf wie ein Schwamm. Karin erklärte, dass Dorothea sehr zurückgezogen gelebt hatte. Nach der Hochzeit von Maja und Peter war sie nach Israel gezogen. Fred war mittlerweile als Pianist auf Tournee gegangen. Es gab für sie nichts mehr zu tun.
Alles, was Karin noch wusste, war, dass Maja seitdem keinen Kontakt mehr zu ihrer Mutter gehabt hatte. Dorothea war an Herzversagen gestorben, als sie vom Tod ihrer Tochter erfahren musste.
Laras Herz klopfte schneller. Sie kämpfte mit sich, ehe sie den beiden eröffnete, nicht viel über den Tod ihrer Mutter zu wissen. Jo und Karin wirkten wenig überrascht.
»Peter hat Majas Tod nie verkraftet. Bestimmt hat er dir deshalb nie von uns erzählt. Denn wir erinnern ihn an Maja. Und an unsere gemeinsame Zeit hier«, sinnierte Jo.
Daraufhin erzählte Karin Lara, wie es damals zu dem Unfall gekommen war.
Es war ein Sommerabend gewesen. Sie waren alle zusammen auf ein Straßenfest gefahren, um Konrads Abschied zu feiern. Er hatte ein Jobangebot in Berlin bekommen.
Peter war mit Lara zu Hause geblieben. Er hatte noch zu tun. Doch Jo hegte den Verdacht, dass Peter mit Konrads Umzug nach Berlin nicht zurechtgekommen war. Er hatte Veränderungen nie gemocht. Und er hatte davon geträumt, dass sie gemeinsam an den Games arbeiten würden.
Mitten auf dem Straßenfest hatte Maja einen Anruf von Peter erhalten. Sie war danach sehr aufgeregt gewesen und hastig aufgebrochen. Wie der Wagen von der Straße abgekommen war, wusste niemand. Aber Maja war sofort tot gewesen.
Lara hörte schweigend zu. Endlich erhielt sie Antworten. Aber das Problem war: Es taten sich nur noch mehr Fragen auf.
»Du hast mich vorhin nach einem Programm gefragt, an dem Peter gearbeitet hat«, erinnerte sich Jo. »Willst du mir davon erzählen?«
Lara sah in die Gesichter der beiden. Sie hatte immer noch nicht das Gefühl, ihnen vertrauen zu können. Aber sie würde bei ihrer Suche nur weiterkommen, wenn sie beide wenigsten zum Teil einweihte. Also berichtete sie wahrheitsgemäß, nichts über das Programm zu wissen. Aber dass Peter alles zerstört hatte, bevor er verschwunden war. Sie ließ allerdings aus, dass Konrad bis zuletzt in das Programm involviert gewesen war. Dafür ließ sie Jo und Karin in dem Glauben, dass Peter ihr den Stick vermacht und sie bloß die Passwörter verloren hatte. Damit die beiden nicht auf die Idee kamen, den Stick Konrad zu geben.
Der Tatsache, dass ihre Katze den gleichen Namen wie das Programm trug, maßen die beiden keine besondere Bedeutung zu. Styx war ihnen erst zugelaufen, nachdem Peter und Lara schon lange nach Berlin gezogen waren. Mila hatte darauf bestanden, dass die Katze diesen Namen tragen sollte. Sie hatte behauptet, dass die Katze ihr den Namen verraten hatte. Jo und Karin hatten den Namen von Anfang an gemocht, da auch sie ein großer Fan der Band gewesen waren.
Einen Zusammenhang zwischen der Katze und Peters Programm sahen sie nicht. Lara war enttäuscht. Denn wenn die ehemaligen Freunde ihres Vaters entweder tot oder verschwunden waren, hatte sie keine weitere Spur.
Als Timo zu ihnen trat, um den Tisch abzuräumen, deutete sie an, dass sie einen Weg suchte, das Programm zu knacken. Da hellte sich Karins Gesicht ein wenig auf.
»Cem! Wenn einer das Ding knacken kann, dann ist es Cem!«
Timo fiel beinahe der Teller aus der Hand, ehe er schnell hinter der Theke verschwand.
Jo folgte Laras irritiertem Blick. »Cem und Timo waren einmal Freunde«, erklärte er.
Ihr schoss plötzlich das Bild des schlaksigen Jungen durch den Kopf, der ihnen auf der Fahrt begegnet war.
»Waren?«
»Das soll er dir besser selbst erzählen«, fand Karin.