Cem
Karin drückte die goldene Klingel. Die Hand der Fatima starrte Lara erneut an. Sie war ungefähr doppelt so groß wie die Hand an der Tür von Ayses Familie. Als müsste sie von diesem Haus einiges mehr an Bösem fernhalten.
Lara hatte erfahren, dass Karin Cem und Timo schon kannte, seit die beiden als kleine Jungs das erste Mal bei ihr auf der Matte gestanden hatten. Denn in der Waldapotheke wurden nicht nur Medikamente verkauft, die man vom Arzt verschrieben bekam. Karin bereitete mit ihren Kräutern allerlei Tees und Salben zu. Es war kaum eine Woche vergangen, in der Cem und Timo nicht mit aufgeschürften Knien in der Apotheke gestanden hatten, um Karins berühmte Wundsalbe zu kaufen.
Eine kleine Frau, deren Gesicht fast gänzlich unter einem schwarzen Kopftuch verschwand, öffnete die Tür. Sie war genauso groß wie Karin. Waren alle Frauen aus dieser Gegend so klein?
»Guten Tag, Frau Saygun. Wir wollen zu Cem. Ich hatte ihn angerufen. Ist er da?«
Die Frau sah Lara misstrauisch an, und Lara setzte ein Lächeln auf. Nach allem, was Jo und Karin ihr über diesen Cem erzählt hatten, gab es tatsächlich eine minimale Chance, dass er das Passwort, welches das Programm ihres Vaters schützte, würde knacken können. Denn angeblich – so erzählte man sich in der Nachbarschaft – hatte Cem Konten des Casinos in Baden-Baden geknackt und das Geld an wohltätige Vereine gespendet. Obwohl Karin betonte, dass das Gerede der Leute immer nur einen Bruchteil der Wahrheit wiedergab. Für Lara war dieser Bruchteil jedoch ausreichend, um es auf einen Versuch ankommen zu lassen. Vor Aufregung hatte sie die ganze Nacht kein Auge zugetan.
Angeblich hatte Timo sogar bei diesem Unternehmen mitgewirkt und die wohltätigen Vereine ausgewählt. Lara hätte nur zu gern gewusst, was zwischen den beiden Freunden vorgefallen war. Aber wichtiger war die Frage, ob Cem das Programm wirklich würde knacken können.
Und wenn er es konnte, was dann? Was, wenn sich herausstellte, dass es sich schlicht um ein neues Game handelte? Und keinerlei Anhaltspunkt zu dem Verbleib ihres Vaters gab?
Die Frau nickte, und Karin nahm Laras Hand, um sie die dunkle Treppe hinaufzuführen.
»Sie hat seit dem Vorfall nicht mehr gesprochen«, wisperte Karin.
Offensichtlich hatte die Hand der Fatima ihren Job in diesem Haus nicht erledigt.
»Welcher Vorfall?«, fragte Lara.
Doch sie bekam keine Antwort. Denn schon klopfte Karin an die nächste Tür. Eine Tür mit einem Plakat der Fanta 4 . Was auch immer Timo und Cem entzweit hatte, Lara wusste in diesem Moment, dass Cem nicht ganz verkehrt sein konnte. Niemand, der diese Musik hörte, konnte verkehrt sein.
Cem öffnete die Tür.
Karin lächelte ihn freundlich an. »Hallo, Cem. Danke, dass du uns helfen willst. Das ist Lara. «
Er musterte sie aufmerksam. »Du ...«, sagte er.
Unruhig verlagerte Lara das Gewicht von einem Bein auf das andere. Dieser Blick brachte sie aus der Fassung. Augenblicklich hatte sie das Gefühl, irgendetwas falsch gemacht zu haben.
»Ihr kennt euch?«, fragte Karin erstaunt.
»Du bist Timos Freundin«, stellte er fest.
Lara bekam große Augen. »Ich bin nicht seine Freundin! Er hat mich gestern nur nach Sasbachwalden gebracht. Ich kenne ihn gar nicht!«, setzte sie vorsichtshalber hinterher und hoffte, dass niemand bemerkte, wie sehr sie die Vorstellung verwirrte, Timos Freundin zu sein.
»Glaubst du auch, dass mein Vater Sazan umgebracht hat? Timo hat dir doch bestimmt gleich erzählt, was hier seiner Meinung nach abging!«, wollte er feindselig wissen.
Sie sah ihn erschrocken an. »Davon weiß ich nichts«, betonte sie schnell.
Cem musterte sie noch einen Moment lang und gab dann den Weg in sein Zimmer frei. Ihr Blick wanderte sofort zu einem Foto, das auf seinem Schreibtisch stand. Das Bild einer orientalischen Schönheit. Mit pechschwarzem, langem Haar, Cems dunklen Augen und vollen Lippen. Sazan. Obwohl es nur ein Foto war, fühlte sich Lara augenblicklich sehr klein, unattraktiv und gewöhnlich.
Neben dem Foto lag ein weiteres Bild. Einige Falten ließen darauf schließen, dass es bereits zerknüllt und wieder auseinander gefaltet worden war. Auf dem Foto erkannte Lara Cem, Timo und Sazan. Cem war ihrem Blick gefolgt. Er nahm das Foto und zerknüllte es demonstrativ.
Sein Zimmer erinnerte sie an das Arbeitszimmer ihres Vaters. Etliche Zettel mit Programmiersprache hingen an der Wand über dem Schreibtisch. Ein Regal war voll mit Büchern, deren Buchrücken ihr nur allzu vertraut waren: Bücher von und für die absoluten Computernerds. Aber im Gegensatz zum Arbeitszimmer ihres Vaters stand und hing hier nicht alles durcheinander. In diesem Zimmer herrschte eine Ordnung, bei der man sich die Schuhe ausziehen wollte, um bloß nichts dreckig zu machen. Die Tastatur lag in gerader Linie direkt vor dem Bildschirm, Bleistifte und Kugelschreiber lagen gleichmäßig daneben, die Bücher waren der Größe nach im Regal eingeordnet. Für Laras Geschmack ein Hauch zu viel Ordnung. Ein schräg liegender Stift, und das ganze Gerüst würde in sich zusammenbrechen.
Der Rechner lief. Etliche Zahlen waren auf dem Bildschirm zu sehen. Ihr Blick wanderte wieder zu dem zerknüllten Foto. Cem hatte sie gefragt, ob sie auch glaube, dass sein Vater Sazan umgebracht hatte. Das war also der Vorwurf, den Timo Cems Vater machte. Und anscheinend der Grund für den Streit der beiden. Sie erinnerte sich an die Gespräche mit Ayse über Ehrenmord, aber war es überhaupt das, was hier vorgefallen war? Ayse hatte Lara erzählt, dass es keine Stelle im Koran gab, die ein derartiges Verhalten billigte. Der Mord an einem Menschen kam dem Mord an der ganzen Menschheit gleich.
Lara fragte sich, was Timo zu der Annahme verleitete, dass Cems Vater seine Tochter getötet hatte? Glaubte nur er das? Oder saß Cems Vater möglicherweise im Gefängnis?
»Du bist also die Tochter vom Feingeist?«, fragte Cem, und der Blick seiner dunklen Augen bohrte sich erneut in Lara.
»Ja?«, erwiderte sie unsicher.
»Wir alle suchen ihn!«, rief er mit einem Mal aufgeregt.
Bei dem Wort alle deutete er auf den Computer, und Lara ahnte, dass er damit seine Kollegen im Netz meinte. Sie wusste, dass ihr Vater unter Programmierern einen gewissen Bekanntheitsgrad genoss. Aber wie hatten sie von seinem Verschwinden erfahren?
»Sein Kollege hat einen Suchaufruf gestartet«, erklärte Cem, als hätte er ihre Gedanken gelesen. »Er wollte wissen, ob Feingeist zu einem von uns Kontakt aufgenommen hat.«
Konrad also. Sie verspannte sich augenblicklich, während Karin sie anlächelte.
»Weiß Konrad eigentlich, dass du bei uns bist?«, fragte sie unvermittelt.
Lara zögerte. Dann ignorierte sie Karin und sah Cem an.
»Wenn du mir hilfst, dann darf Konrad davon nichts erfahren. Klar?«
Karin wollte etwas erwidern, aber Lara kam ihr zuvor. »Vertrau mir einfach!«
Karin zögerte einen Moment lang. Dann behielt sie ihren Kommentar für sich.
»Die meisten glauben, dass mein Vater entführt wurde. Wegen des Programms. Das, an dem er so lange gearbeitet hat.« Lara stellte die Behauptung auf, um ihrem Verhalten einen guten Grund zu geben. »Konrad ist davon auch betroffen. Ich will ihn da raushalten. Damit ihm nicht auch noch was passiert.«
Die Erklärung schien sowohl Cem als auch Karin für den Augenblick ruhig zu stellen.
»Okay. Kein Ding.«
Sie zog den Stick an der Kette unter ihrem Shirt hervor. Als Cem das gute Stück sah, ging er auf sie zu. Lara befürchtete, dass seine Augen sie jede Sekunde verschlingen würden.
»Das Programm, von dem Karin gesprochen hat, ist das ...«
Sie nahm den Stick ab. Dabei erkannte sie aus den Augenwinkeln, wie eine Welle des Erstaunens über Karins Gesicht glitt, als diese den Halbmond mit der Elfe sah.
»Sein Programm. Styx. Seine letzte Arbeit«, erklärte Lara, während sie den Stick in Cems Hand legte.
Der betrachtete ihn, als wäre er der heilige Gral. »Er hat dir den Stick gegeben? Das Teil gehört dir?«, hakte er nach.
Sie zögerte einen Moment lang. Dann blieb sie ihrer Lüge treu. »Ja. Das ist mein Stick.«
»Und du kannst dich an kein Passwort erinnern? Irgendein Detail würde mir schon weiterhelfen. Waren es Zahlen oder Wörter ...«
Lara biss sich hilflos auf die Lippen. »Keine Ahnung ... sorry ...«
»Schon okay. Ich werde mein Bestes tun, um die Codes zu knacken«, erklärte Cem mit ehrfürchtiger Stimme und hatte Lara und Karin im gleichen Augenblick vergessen, als er sich an den Rechner setzte.