Katzenbuckel
Schritt für Schritt drängte Konrad Lara den Flur entlang Richtung Küche.
»Diese kleine Türkin ist eine gute Lügnerin. Ich habe wirklich geglaubt, dass du am Meer bist.«
Lara spürte die Kraft, die von dem großen Mann ausging. Er schien zu allem entschlossen.
»Dann wurde ich letzte Nacht Zeuge einer interessanten Diskussion in einem Forum. Du wirst es nicht kennen. Lauter Nerds wie ich.«
Cem. Und alle
. Mist.
»Er hat sich wirklich bemüht, keinen Hinweis zu geben. Aber seine Fragen waren irgendwann so konkret ... Ich dachte mir: Irgendwie muss Allah09 ja an unser Programm gekommen sein? Ich fand heraus, wo sein Rechner steht und hatte mit einem Mal die Eingebung, dass du möglicherweise deinen Onkel kennengelernt hast. Und dass du mich möglicherweise angelogen hast, als ich dich nach meinem USB-Stick gefragt habe.«
»Ich hab dich angelogen. Der ist wirklich gut!«, konterte Lara. »Warum hast du mir nie erzählt, dass ich einen Onkel habe? Und dass ich hier gelebt habe? Genau wie du!«
»Weil ich es Peter versprechen musste. Es war der einzige Weg, dass ich weiter Kontakt mit ihm halten durfte.«
Lara war mit einem Fuß bereits in der Küche. Sie hatte nicht mehr viele Ausweichmöglichkeiten.
Konrad lächelte sie an. »Warum hast du mir verschwiegen, dass du den Stick gefunden
hast?«
»Weil du dich wie ein Irrer aufführst! Du hättest ihn mir weggenommen.«
»Zu deinem eigenen Schutz.«
»Ich brauche keinen Beschützer!«, rief Lara wütend. »Ich brauche die Wahrheit! Also, wenn du ihn haben willst, dann sag mir, was drauf ist!«
Mit einem Mal wirkte Konrad richtig erfreut. »Also hat dieser Cem es noch nicht geschafft, den Code zu knacken. Kein Wunder. Was dein Vater safe gemacht hat, da komme nicht mal ich ran.« Er drängte sie gegen den Kühlschrank.
»Du machst mir Angst!«
»Wo ist der Stick?«
In diesem Moment sah Lara Styx durch die Katzenklappe der Tür zum Garten hereinkommen. Lara handelte blitzschnell, duckte sich unter Konrads Armen hindurch und lief zum Tisch. Ohne nachzudenken, schnappte sie sich den Laptop, an dem der Stick steckte, und rannte damit aus der Hintertür in den Kräutergarten.
Es war bereits dunkel. In wenigen Sekunden hatte sie den Garten hinter sich gelassen und verschwand zwischen den Tannen. Sie rannte, so schnell sie konnte. Eine Wurzel, die sie in der Dunkelheit übersah, stoppte jedoch ihre Flucht. Schwer atmend blieb sie im Dreck liegen, den Laptop unter sich.
»Lara!«
Konrads Stimme war ganz nah. Sie hielt den Atem an.
»Das Programm gehört mir.«
Er klang außer sich. Und er schien stehen geblieben zu sein. Seine Stimme kam weder näher noch entfernte
sie sich. Aber sie wirkte weicher. Als bemühte er sich, etwas vertrauensvoller zu klingen.
»Styx
ist für dich ohne Bedeutung. Du kannst damit nichts anfangen.«
Er war näher gekommen. Einige Sekunden vergingen, in denen es ruhig war.
»Du hast keine Ahnung, auf was du dich da einlässt!«
Das klang ehrlich. Er war nur noch wenige Meter entfernt. Lara zog den Stick aus dem Laptop und steckte ihn in die Tasche. Dann schnappte sie den Laptop, sprang aus dem Dreck hoch und rannte. Sie hörte Konrads Schritte hinter sich. Blind hastete sie zwischen den Bäumen hindurch, bis sie plötzlich auf einem Weg stand. Der Weg zum Haus. Sie hatte die Waldapotheke
umrundet.
Lara raste den Weg entlang bis zur Straße und dann den Berg hinunter. Sie rannte, bis sie keine Luft mehr bekam, und blieb vor einer Garage stehen, an deren Anblick sie sich flüchtig erinnerte. Sie sah die Straße hinauf. Die Scheinwerfer eines einzigen Autos erhellten die Dunkelheit. Lara versuchte, das Garagentor zu öffnen. Es war tatsächlich nicht verschlossen! Nachdem sie in der Garage verschwunden war, schloss sie das Tor und kauerte sich zitternd in die Ecke.
Sie hörte das Auto vorbeifahren. Dann hörte sie nur noch ihren eigenen Atem. Lara versuchte, sich zu beruhigen. Doch in diesem Moment krabbelte etwas auf ihren Unterarm. Acht dünne Beinchen sausten in Windeseile über ihre Haut. Spinne
. Die einzige Angst, die Lara sich eingestand. Die einzige Angst, die sie zunächst in eine Schockstarre
und dann in blinde Panik versetzen konnte. Wenn Konrad wirklich furchteinflößend hätte sein wollen, hätte er sich lediglich in eine dicke, behaarte Hausspinne verwandeln müssen. In Berlin begegneten Lara diese Exemplare zum Glück nur selten. Aber wenn, dann musste Ayse kommen. Mit Frau Meier im Gepäck. Ehe die beiden das Untier nicht gefangen und entsorgt hatten, wagte sich Lara nicht in die Wohnung. Sie wusste, dass ihr die Spinne keinen ernsthaften Schaden zufügen konnte. Ja, sie wusste auch, wie nützlich und bla bla diese Bestien waren. Aber sie hatten acht lange Beine!
Lara sprang auf und versuchte, das Tier abzustreifen. Sie tastete ihre Haare ab, als plötzlich das Garagentor von außen geöffnet wurde und das Licht anging.
Lara sah, wie die Spinne auf dem Boden hektisch das Weite suchte.
Vor ihr stand Timo. Mit seinem Skateboard in der Hand. »Du bist das«, sagte er. Und starrte sie seltsam an.
»Entschuldige, ich ... bin abgehauen. Und wusste nicht, wohin.«
»Abgehauen? Vor Cem?«
»Quatsch! Cem will mir helfen.« Unsicher sah sie an Timo vorbei in die dunkle Nacht. War Konrad da noch irgendwo?
»Vor wem dann?«
Sie musterte ihn. Seine Tendenz, immer abzuhauen, wenn es kritisch wurde, machte ihn nicht gerade zu einer Vertrauensperson.
»Rennst du gleich wieder weg? Wenn ich es dir erzähle? Oder bleibst du zur
Abwechslung mal da?«
Er schmunzelte.
Ein verdammt süßes Lächeln, wie Lara mit einem Mal feststellte.
»Leg los.«
Sie erzählte ihm die ganze Geschichte. Als sie damit geendet hatte, dass ihr Patenonkel gerade die Umgebung nach ihr absuchte, wollte er direkt zur Polizei.
»Was soll ich denen denn sagen? Konrad hat nichts gemacht. Die können ihn ja nicht einsperren, weil er das Programm will, das ihm zum Teil gehört. Da kriege eher ich ein Problem, weil ich es einfach mitgenommen habe.«
Nachdenklich nickte er. »Du sagst, Jo und Karin kennen ihn von früher? Vielleicht können sie mit ihm reden.«
Lara zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung, ob die mir helfen. Oder ob sie Konrad den Stick einfach zurückgeben.«
»Hey, die zwei sind schwer in Ordnung.«
»Da ist mein Vater anderer Meinung.«
»Okay. Was willst du tun?«
Sie überlegte. Alles, was Cem brauchte, war Zeit. Sie musste einfach nur untertauchen, bis er eine Lösung für den Eyecode gefunden hatte.
»Ich frag dich jetzt was. Und du darfst nicht wegrennen.«
Sein Blick verfinsterte sich bereits. »Ich bringe dich nicht zu Cem.«
»Musst du auch gar nicht. Es reicht, wenn du mir seine Nummer gibst. Ich tauche die Nacht irgendwo
unter. Vielleicht hier im Wald. Und morgen rufe ich ihn an. Bis dahin hat er den Code bestimmt geknackt.«
»Du willst eine Nacht im Wald verbringen? Allein? Dir ist schon klar, dass es da Spinnen gibt?«
Schon beim Gedanken daran bekam sie eine Gänsehaut. Aber es war auch keine Option, bei Timo zu bleiben. Er wohnte bei seinen Eltern, und die hätten auch wieder tausend Fragen gestellt. Lara hatte genug von Fragen. Sie wollte endlich Antworten.
In diesem Moment warf Timo ihr einen Helm zu. »Wir fahren hoch.«
Lara klammerte sich an Timos Armeerucksack fest, in den er den Laptop gesteckt hatte, während sie erneut hinter ihm auf der Vespa saß.
Sie fuhren eine gewundene Straße steil nach oben. Timo hatte ihr erklärt, dass er für Talfahrten sein Skateboard hatte, für den Berg allerdings eine Vespa brauchte. Deshalb war er auf dem Weg zu seinen nächtlichen Sprayaktionen in die Garage gekommen. Dann hatte er noch erwähnt, dass sie ziemlich bescheuert ausgesehen hatte.
Sie erreichten eine breite Straße, die sich in geschwungener Linie den Bergrücken entlangzog. Offensichtlich waren sie oben angekommen. Timo bog ab und fuhr die Straße entlang. Rechts ging es steil bergab. Die nächtliche Ebene erstreckte sich vor den beiden. Lara sah die Dörfer und Städte funkeln. Ein Stück weiter entfernt erhellten die Lichter einer größeren Stadt den Nachthimmel. Es sah wunderschön aus. Ganz anders als in Berlin. Als sich links ein großer Parkplatz breitmachte, parkte Timo und stellte
die Vespa ab.
»Von hier aus müssen wir laufen«, erklärte er.
Im Halbdunkeln konnte sie die schwarze Oberfläche eines Sees erkennen. Daneben stand ein riesiges Gebäude. Hotel Mummelsee
war in leuchtenden Lettern zu lesen.
Lara folgte Timo durch die Dunkelheit. Sie gingen einen steilen Weg hoch, der sich über Steine und durch Tannen schlängelte. Eine gute Stunde kletterte Lara auf diese Weise hinter Timo her. Wo wollte er bloß mit ihr hin?
An einer besonders steilen Stelle rutschte ein Stein unter ihren Füßen weg. Sie wäre nach hinten gekippt, krallte sich jedoch im letzten Moment an Timo fest. Dabei bekam sie das Lederband um seinen Hals zu fassen, und im Versuch, irgendwo Halt zu finden, riss Lara es entzwei.
Timo fing erst Lara auf und fischte dann das zerrissene Band mit dem kleinen, silbernen Skateboard vom Boden.
»Tut mir leid«, sagte sie und hoffte, dass das Lederband nicht ähnlich bedeutungsschwer war wie die Kette ihrer Mutter.
Doch Timo winkte ab. »Solange dem Board nichts passiert«, erklärte er und betrachtete dann die Kette um Laras Hals. »Kannst du es für mich aufbewahren?«
Sie nickte nervös und zog sich die Kette vom Hals, um das kleine Skateboard neben dem Halbmond zu befestigen. Als sie sich die Kette wieder umlegte, lächelte Timo.
»Es steht dir.«
Einen Moment lang blieb er dicht vor ihr stehen und sah ihr nachdenklich in die Augen. Sie
spürte ganz deutlich ihr Herz schlagen. Was bestimmt an der Anstrengung lag.
»Also, ich finde es ja toll, dass du mich vor Konrad versteckst. Aber sind wir jetzt nicht weit genug von jeder Zivilisation entfernt?«
Timo lächelte wieder. Dann drehte er sich einfach um und ging weiter. Ihr blieb keine andere Möglichkeit, als dicht hinter ihm zu bleiben.
Als sie einen flachen Weg erreichten, blieb ihr Fuß im weichen Morast stecken. Kaltes Wasser floss in ihre Sneakers. Mit einem Mal kam ihr die Garage gar nicht mehr so übel vor.
Doch nur wenige Meter danach vergaß Lara ihre nassen Füße.
Der Morgen dämmerte, und das rosafarbene Licht am Horizont ließ sie einen riesigen Platz erkennen. Ein Felsen nach dem anderen reihte sich aneinander.
»Das ist der Katzenbuckel. Man sagt, dass es hier irgendwo ein Tor ins Jenseits gibt. Keine Ahnung, ob das stimmt. Jedenfalls ist es ein guter Platz, wenn man alleine sein will.«
Seinem Tonfall war zu entnehmen, dass er hier schon viel Zeit verbracht hatte.
Er sprang von einem Felsen zum anderen, und Lara hopste langsam und vorsichtig hinterher. Denn zwischen den Felsen waren tiefe Spalten, in denen man leicht mit dem Fuß hängen bleiben konnte. Nach allen Seiten hin konnte man in die Ferne blicken. Das Rheintal in der einen, die mit Tannen bedeckten Hügel in der anderen Richtung. Ein Eichhörnchen saß auf einem der Felsbrocken und beobachtete sie misstrauisch
.
Lara folgte Timo hopsend bis zu einem letzten Felsen. Dahinter ging es steil nach unten. Timo deutete auf ein kleines Graffiti, das zwischen zwei Steinen zu erkennen war. Mit Schwarz war ein T
auf den Felsen gesprüht. Daneben die Umrisse eines fliegenden Adlers.
»Das ist mein Tag.« Er sprach das Wort englisch aus. »Mein Autogramm, sozusagen. Jeder Sprayer hat sein eigenes Tag.«
Lara gefiel der fliegende Adler. Im selben Moment flog ein eben solches Tier kreischend über sie hinweg.
Timo beobachtete das Tier voller Sehnsucht. »Ich bin immer neidisch auf sie. Was muss das für ein Blick auf die Welt sein?«
Lara ließ sich neben ihm auf dem Felsbrocken nieder. Die aufgehende Sonne tauchte die Rheinebene nun in ein goldenes Licht.
Lara war sprachlos. Sie hatte noch nie etwas vergleichbar Schönes gesehen. Genießen konnte sie den Anblick dennoch nicht. All ihre Gedanken waren bei ihrem Vater. Bei Konrad und der ganzen, verworrenen Situation.
»Dein Vater kommt bestimmt wieder«, sagte Timo unvermittelt.
Überrascht sah sie ihn an.
Er lächelte. »Wenn man etwas Schönes sieht, denkt man immer an den ganzen Scheiß, den man mit sich rumschleppt. Ich kenne das.«
Lara war dankbar für seine Mut machenden Worte, auch wenn sie wusste, dass er nur nett sein wollte. Keiner konnte wissen, ob Peter wieder
zurückkam.
Eine Weile saßen sie schweigend nebeneinander und beobachteten, wie die Sonne die Rheinebene zunehmend erhellte.
Keiner sagte ein Wort. Bis Laras Magen knurrte. Sie erstarrte und hoffte, dass Timo nichts gehört hatte. Doch schon kicherte er und holte aus seinem Rucksack Flammkuchenreste. Sie konnte sich nicht erinnern, dass ihr etwas schon einmal so gut geschmeckt hatte.
Timo biss ebenfalls in ein Stück.
»Willst du herausfinden, ob der Laptop noch funktioniert? Hat ja einiges mitgemacht ...«
Lara verschlang den letzten Bissen und kramte dann im Rucksack. Dabei fiel ihr ein kleines Buch in die Hände. Eine Seite war aufgeschlagen. Sie konnte eine Zeichnung erkennen. Das war sie! Timo hatte sie gezeichnet. Ihre Augen waren größer, aber ansonsten entsprach die Zeichnung exakt der Realität. Lara vergaß zu atmen, während sie das Buch schnell zuschlug und den Laptop herausholte.
Mit zitternden Fingern klappte sie ihn auf.
Timo sah auf den Laptop und wandte den Blick wieder ab.
»Ich weiß ... Es ist Sazans Laptop. Cem hat ihn mir dagelassen«, sagte Lara entschuldigend.
Er nickte nur.
Der Laptop funktionierte noch. Lara holte den Stick aus der Tasche und steckte ihn an. Sie sprach ein stilles Gebet, dass der Stick auf der Flucht keinen Schaden genommen hatte. Und atmete erleichtert auf, als der Balken für den Eyecode auf dem Bildschirm erschien.
»Er funktioniert
noch.«
»Wundert mich, dass Cem den Code noch nicht geknackt hat«, erwiderte Timo. »Er hat es echt drauf.«
Sie sah ihn an. So viele Fragen lagen in der Luft.
»Ich weiß nicht, was Cem dir erzählt hat. Aber vielleicht willst du auch meine Version hören?«, hörte Lara Timos Stimme.
»Klar.«
Einige Sekunden vergingen, bis er weitersprach. Sein Blick war in die Ferne gerichtet.
»Wir sind zusammen aufgewachsen. Cem, Sazan und ich. Cem und sie waren Zwillinge. Für mich waren sie beide wie Geschwister. Natürlich nur, bis ich irgendwann angefangen habe, Sazan mit anderen Augen zu sehen. Als ihr Vater das rausfand, dass wir ... na ja ... irgendwie zusammen waren, ist er durchgedreht. Er wollte uns den Kontakt verbieten. Wir haben uns weiter gesehen. In der Schule. Cem stand immer zwischen den Stühlen. Wir waren Freunde. Aber er wollte sich nicht gegen seinen Vater stellen. Er hat mich vor Sazan gewarnt. Hat behauptet, dass sie mich nur benutzen würde.«
Er schwieg einen Moment.
»Ich habe ihm nie geglaubt. Bis ich sechzehn wurde, also vor eineinhalb Jahren. Und sie mitten in der Nacht vor meiner Tür stand. Sie erklärte, dass sie ... sie wollte nicht mehr Jungfrau sein. Denn wenn sie keine Jungfrau mehr sei, müsste sie auch nicht heiraten. Und ich sollte ihr dabei helfen.«
Lara schluckte. Ayse hätte bei so viel Unromantik den Kopf geschüttelt.
»Ich wollte, klar. Sazan war unglaublich schön. Und sie hatte so eine Art. Selbst wenn du
etwas gar nicht wolltest, sie konnte dich überzeugen, mitzumachen. Und am Ende warst du davon überzeugt, dass es alles deine Idee war. Aber trotzdem, ich ... wollte nicht mit ihr schlafen, damit sie keine Jungfrau mehr sein würde. Ich wollte, dass sie mich liebt, verstehst du?«
Nun sah er sie direkt an.
Lara nickte.
»Aber Cem hatte recht. Sie wollte mich nur benutzen. Sie war sehr gläubig. Sie glaubte auch an all die Regeln und Gesetze des Korans. Trotzdem suchte sie ständig nach einem Weg, Allah zu entkommen. Sie wollte sich nicht seinen Regeln fügen und den Koran austricksen. Sie wollte rebellieren. Frei sein. Als ich mich geweigert habe, ist sie abgehauen. Am nächsten Morgen erfuhr ich von ihrem Unfall.«
Bei dem Wort Unfall
zeichnete er mit den Fingern Anführungszeichen in die Luft.
»Warum glaubst du, dass es ihr Vater war?«
»Eine Stunde, nachdem sie weg war, stand er ebenfalls vor meiner Tür. Er hat sie gesucht, war total aggressiv. Hat mich geschlagen. Dann ist er los. Er hat sie gefunden und vor den Zug gestoßen. Alles war ihm lieber, als dass sie Schande über seine Familie bringt.«
»Also ... weißt du es nicht sicher?«, hakte Lara nach.
Er musterte sie. Dann nahm er einen Stein und schmiss ihn den Abhang hinunter.
Es dauerte lange, bis Lara den Aufprall hörte.
»Ich kann es nicht beweisen.«
Er wandte sich ihr zu. Hass stand in seinem Gesicht.
Lara wünschte sich nichts mehr, als diesen Hass aus seinem Gesicht zu streichen, und wie von selbst
wanderte ihre Hand an seine Wange. Wärme durchflutete sie. Plötzlich veränderte sich sein Ausdruck. Ein ungläubiges Lächeln legte sich auf sein Gesicht. Er blickte an ihr vorbei.
»Ich hab dir doch gesagt, sie ist seltsam«, erklärte er.
Lara verstand nicht und drehte sich um. Der Anblick des runden Körpers, der eilig von einem Fels zum anderen sprang, sorgte dafür, dass sie erstaunt den Mund öffnete.
Styx war ihnen gefolgt. Und quittierte jeden Katzensprung auf dem Katzenbuckel mit einem aufgeregten Quietschen.