Das Auge
Lara landete auf einem weichen Untergrund. Weich und kuschelig. Der Boden gab nach wie ein Trampolin, auf dem sie sanft auf- und niedersprang. Sie wusste nicht, ob es das behutsame Hin- und Herspringen war, das sie so zum Lachen brachte. Aber sie konnte einfach nicht aufhören.
Alles schien unglaublich witzig.
Sie konnte nicht ausmachen, wo sie sich befand. Zum einen war sie zu sehr mit Lachen beschäftigt, zum anderen war es dunkel. Eine absolute Dunkelheit. Nicht ein Lichtstrahl war zu erkennen. Es gab nichts zu sehen, nur zu fühlen.
Als sie das nächste Mal landete, berührte sie mit den Händen den Untergrund. Er fühlte sich an wie Gummi, war aber warm. Das brachte Lara erneut zum Lachen. Sie sprang in Dunkelheit auf einem warmen Gummiboden auf und ab. Sie nahm etwas Neues wahr. Eine Präsenz. Jemand war neben ihr. Timo! Ganz deutlich spürte sie ihn neben sich, und ein Gefühl erfasste sie, von dem Lara nicht gewusst hatte, dass man es überhaupt empfinden konnte.
Sie war verliebt.
Sie wollte bei ihm sein. Mit ihm fühlte sich alles intensiver an.
Für einen Moment fragte sie sich, wo die Intensität dieses Gefühls so plötzlich herkam. Doch schon rief sie: »Ich liebe dich!«, und in diesem Moment wurde es hell.
Während Lara weiterhin auf und ab flog, blickte sie direkt in Timos Augen. Was hatte nicht alles geschehen müssen, damit sie sich trafen. Aber jetzt waren sie zusammen.
Ihm schien es ähnlich zu gehen. Er kicherte vor sich hin, während seine strahlenden Augen ihren Blick erwiderten.
»Wo sind wir?«, fragte er.
»Keine Ahnung. Aber es ist lustig!«
»Absolut«, lachte Timo.
»Erschafft!«, rief eine Stimme.
Irritiert betrachtete Lara sich selbst. Denn diese Stimme war nicht von außen durch ihre Ohren in ihr Bewusstsein gedrungen. Es war, als würde sie diese Stimme mit ihrem Inneren hören.
Fasziniert sah sie Timo an. »Spürst du das auch?«
Er nickte, als die Stimme sich erneut bemerkbar machte. »Erschafft!« Der Klang war fordernd. Und ein bisschen verwirrt.
Es kam Lara vor, als würde ihr Inneres zu ihr sprechen.
»Erschafft!«
Sie kicherte, hatte aber keine Gelegenheit mehr, der genauen Herkunft der Stimme nachzugehen, denn nun tauchte ein Gegenstand vor ihrer Nase auf. Der Stick segelte durch die Luft. Sie versuchte, den Stick zu fangen. Doch er war zu weit weg. Lachend begann sie damit, Schwimmbewegungen zu machen, und tatsächlich schwebte sie auf diese Weise zu dem Stick.
In der Nähe hörte sie ein vertrautes Lachen. Timos Lachen. Und im gleichen Moment war sie abgelenkt. Sie drehte sich zu ihm.
»Das sieht total behämmert aus!«, rief er lachend und meinte damit Laras Versuche, sich fortzubewegen .
Sie bekam einen Lachkrampf, wie sie ihn früher mit Ayse gehabt hatte, wenn sie eigentlich einschlafen sollten.
Auch Timo sah merkwürdig aus. Er segelte durch die Luft, und sein Rucksack hüpfte auf und ab.
Plötzlich war der Stick genau vor Laras Nase, und sie schnappte ihn sich. Anschließend befestigte sie ihn an der Kette neben dem Halbmond und dem Skateboard.
»Erschafft!«
Schon wieder diese Stimme. Und diesmal klang eindeutig Verzweiflung in Laras Innerem mit.
Sie sah an sich herunter. Wo kam diese Stimme her?
»Wer bist du? Und wo? Und was sollen wir erschaffen?«
Das war Timo. Lara sah zu ihm. Er tat das Naheliegende. Er sah sich um. Sie tat es ihm gleich.
Die gummiartige Masse war überall. Sie konnte nicht einmal sagen, wo oben und unten war. Es spielte keine Rolle mehr. Sie schwebte. Wer brauchte da einen Boden?
In der gummiartigen Masse waren Rechtecke eingelassen. Jeweils mit einem Knauf versehen. Sie sahen aus wie Fenster, nur ohne Glas. Es waren unzählige. Je weiter Lara blickte, desto mehr dieser Rechtecke entdeckte sie. Der Raum schien endlos zu sein.
Was wohl geschah, wenn man einen der Knäufe betätigte? Lara kicherte vor Neugier und trudelte ungelenk auf eines der Rechtecke zu. Timo erkannte, was sie vorhatte, und lachte ebenfalls.
Lara hatte den Knauf fast erreicht, als sie hörte: »Finger weg! Schluss mit den Albernheiten! Erschafft!«
Sie spürte eine weitere Präsenz, die zuvor nicht da gewesen war. Sie wusste, dass etwas oder jemand hinter ihr war. Und dieses Etwas erfü llte Lara mit einer plötzlichen Ehrfurcht. Sie wagte nicht, den Knauf zu betätigen. Stattdessen drehte sie sich langsam um. Vor Staunen war sie wie gelähmt.
Ein Auge, so groß wie sie selbst, schwebte im Raum vor ihnen. Schwerelos, das Augenlid weit aufgerissen. Es besaß keine Wimpern, schien zu keinem Körper zu gehören und sah aus wie eine Glasmurmel, die man in die Länge gezogen hatte. Das Auge war grau und wirkte seltsam trüb. Neben ihm schwebte eine kleine, bauchige Flasche in der Luft, in der eine silberne Flüssigkeit schwamm.
Nervös blinzelte das Auge Lara und Timo an.
Neugierig glitt Lara durch die Luft auf das Auge zu. Sie wollte es umrunden, von allen Seiten begutachten. Sie wollte es berühren. Doch als ihre Hand sich dem kugelförmigen Körper näherte, hörte sie erneut die Stimme in ihrem Inneren.
»Nicht anfassen!«
Die Stimme gehörte zu dem Auge. Aber wie konnte es sprechen?
Erstaunt sah sie zu Timo. Auch er war ganz in diesen Anblick versunken. Sein Ausdruck war nachdenklich. Als würde er versuchen, eine Erinnerung einzufangen.
»Timo!«, rief sie erschrocken.
Denn sie sah, wie sich sein Rucksack mit heftigen Bewegungen von ihm weg bewegte. Da der Rucksack an Timos Rücken hing, zog er ihn mit sich.
»Ups!” Überraschung stand ihm ins Gesicht geschrieben, als er von seinem Rucksack durch den Raum gezogen wurde .
Lara griff nach seiner Hand. Dann erkannte sie, wohin der Rucksack gezogen wurde. Eines der Fenster hatte sich geöffnet. Dahinter nichts als Dunkelheit. Und das geöffnete Fenster schien den Sog auszuüben.
»Stopp! Timo! Bleib hier!«
Panisch zog sie an seiner Hand und wurde auf diese Weise mit ihm gerissen. Auf das offene Fenster zu. Er glitt einfach so hindurch. Und ließ dabei Laras Hand los.
Das Fenster verschluckte ihn und schloss sich wieder. Timo war verschwunden.
»Nein!«
Lara trudelte zu dem Fenster und versuchte, es zu öffnen. Doch der Knauf war nichts weiter als eine kleine Auswölbung. Sie konnte ihn nicht bewegen, konnte das Fenster nicht öffnen.
»Wo ist er? Mach das Fenster auf!«, rief Lara und drehte sich zu dem Auge um.
Der graue, fade Schimmer schien vor Erleichterung zu leuchten.
»Einer weniger!«, hörte sie die triumphierende Stimme des Auges in ihrem Inneren.
Wütend trudelte sie auf das Auge zu. Mit Timo war auch das Gefühl von Glück und Lachen verschwunden. Ihr wurde kalt, und sie hatte den Eindruck, als hätte Timo eine Leere in diesem Raum und in ihr hinterlassen.
»Wo ist er?«, rief sie dem Auge erneut entgegen, das sich ihr nun näherte.
Es schien neues Selbstbewusstsein gewonnen zu haben. Die Verzweiflung war aus seinem Ausdruck gewichen. »Erschaffe!«, rief es .
»Was soll ich erschaffen? Wo bin ich überhaupt?«
»Erschaffe!«
Lara war verwirrt. Sie versuchte, klare Gedanken zu fassen. Was ihr nun, da Timo weg war, leichter fiel, denn das Gefühl, völlig benebelt vor Glück zu sein, war mit ihm gegangen.
Die Katze hatte den Eyecode geknackt und damit das Programm Styx gestartet. Wie auch immer ihr das gelungen war – denn Konrad hatte auf keinen Fall die Augen dieser Katze als Code benutzt. Dieser Raum hier, das musste das Programm sein. War es ihrem Vater gelungen, ein Game zu erschaffen, in dem man wirklich mitspielte? In dem man ... Gefühle entwickelte?
Als sie sich umsah, gab es von der Katze keine Spur. Das Einzige, was Lara entdeckte, war die kleine Flasche mit der silbrigen Flüssigkeit darin.
Sie versuchte, sich zu erinnern. Ein grüner Lichtstrahl war aus dem Bildschirm gekommen. Und dann ...
Sie sah in das Auge, das sie abwartend musterte. Als würde es darauf warten, dass irgendetwas Großartiges passierte. Doch je länger nichts geschah, desto frustrierter und ungeduldiger wurde es.
»Kannst du jetzt bitte endlich etwas erschaffen?«, fragte es in Laras Innerem und wirkte dabei fast ein bisschen kleinlaut.
»Ich habe keine Ahnung, was du von mir willst«, erwiderte sie ebenso verzweifelt.
Das Auge kniff sich zusammen und musterte Lara konzentriert. War es eine Art Spielwächter?
In diesem Moment erinnerte sie sich an etwas Weiteres. Konrad. Er war in letzter Sekunde auf sie zugesprungen. Wo war er? Als sie an ihn dachte, begann der Stick an ihrer Kette plötzlich, vor ihrem Auge auf und ab zu fliegen. Als wäre mit einem Mal Leben in ihm. Lara versuchte, ihn festzuhalten. Doch mit einer unglaublichen Energie, und als hätte er plötzlich einen eigenen Willen, zog der Stick Lara zu einem Fenster, das sich nun langsam öffnete. Es war ein anderes Fenster als das, in dem Timo verschwunden war. Und sie hatte absolut kein Interesse daran, in der dahinter liegenden Dunkelheit zu verschwinden.
»Nein! Stopp!«, rief sie panisch und streifte sich die Kette ab. Eilig zog sie die verschiedenen Gegenstände von der Kette. Den Stick, die Elfe im Halbmond. Doch als sie auch das Skateboard von der Kette ziehen wollte, rutschte sie ihr samt Timos Anhänger aus der Hand. Ein Fenster, das weit von ihr entfernt war, öffnete sich schmatzend, und ehe sie wusste, was geschah, wurde die Kette samt Timos Skateboard davon verschluckt.
Was ging hier vor? Wie von magischer Hand öffnete sich mal das eine, mal das andere Fenster.
Vorsichtshalber steckte Lara die Elfe in die Hosentasche, während der Stick weiter in ihrer Hand zappelte. Noch immer schien er von dem bereits offen stehenden Fenster wie magisch angezogen zu werden. Obwohl Lara Angst vor dem hatte, was sich hinter diesen Fenstern verbarg – sie konnte den Stick unmöglich loslassen. Das Programm war zu wichtig.
Während sie die überglückliche Stimme des Auges in sich spürte, das erfreut »Erschaffe! Erschaffe!« rief, wurde sie von dem Sog des Fensters erfasst und erneut umgab sie absolute Dunkelheit.