Lebenskino
Orientierungslos hing Lara in der Luft. Sie steckte den Stick zu der Elfe in ihrer Tasche und tastete mit Armen und Beinen um sich. Nichts. Dennoch fiel sie nicht. Sie hing wie im luftleeren Raum. Es war wie in dieser Vision, die sie auf dem Friedhof in Berlin gehabt hatte. Beim Blick in Styxʼ Augen. Mit dem Unterschied, dass sie jetzt echte Angst hatte. Das Gefühl, verliebt zu sein, war nun endgültig verflogen. Lara kam es vor, als wäre sie kurzzeitig auf Drogen gewesen. Aber wie war das möglich?
»Hallo?«, rief sie in die Dunkelheit.
Keine Antwort.
»Timo?«
Nichts.
Da sah sie ein Licht, das durch das Dunkel auf sie zuflog. Oder flog sie auf das Licht zu?
Je näher sich Lara und das Licht kamen, desto mehr konnte sie erkennen, was es mit dem Licht auf sich hatte. Es war eine Art riesige Leinwand, auf der so etwas wie ein Film lief.
Verblüfft starrte sie auf die Leinwand, während der Flug sich verlangsamte, bis sie schließlich kurz vor der Leinwand zum Stillstand kam. Wie im Kino saß Lara in der Luft und blickte auf den Film, der sich nun vor ihren Augen abspielte.
Drei Personen waren zu erkennen. Ihr stockte der Atem, als sie ihre Eltern erkannte. Wesentlich jünger, fast noch Jugendliche. Sie küssten sich. Zaghaft und vorsichtig, als wäre es der erste Kuss. Von diesem
Anblick war Lara tief bewegt, denn sie hatte ihre Eltern noch nie zusammen gesehen. Zumindest konnte sie sich nicht daran erinnern.
Sie entdeckte auch Konrad auf der Leinwand. Ebenfalls um einiges jünger. Er stand nur wenige Meter von ihren Eltern entfernt und beobachtete sie.
Lara betrachtete seinen Blick. Er schien verärgert und gekränkt zu sein. Konrad wandte sich ab und ging fort. Dann wechselte die Szenerie, und sie hatte erneut ihre Eltern vor sich. Sie gingen nebeneinander her. Maja war schwanger. Lara wurde schwindlig, als ihr klar wurde, dass nur sie unter der Auswölbung des Bauchs ihrer Mutter stecken konnte.
Warum sah sie einen Film über das Leben ihrer Eltern?
Die beiden hatten eine heftige Diskussion, was Lara nur an ihren Gesten erkennen konnte, da der Film völlig lautlos ablief. Peter ließ Maja schließlich stehen, und sie weinte. Konrad trat neben sie und nahm sie tröstend in den Arm, als hätte er nur auf diesen Moment gewartet.
Die Szene wechselte erneut. Lara erkannte die beiden Häuser im Wald, allerdings war das kleinere längst nicht so verwildert wie jetzt. Da waren Jo und Karin! Sie halfen dabei, Möbel hineinzutragen. Der Surferboy von den Fotos, Luxus, war ebenfalls dabei. Er strahlte über das ganze Gesicht und gehörte offenbar zu den wenigen Menschen, die gern bei einem Umzug halfen. Maja trug ein Baby auf dem Arm. Lara sah sich selbst. Als Säugling. Der Anblick rührte sie zutiefst. Sie selbst, eingebettet in den Armen ihrer Mutter. Eine Welle der Sehnsucht überflutete
sie.
Doch schon trat Konrad wieder in die Szenerie. Lara sah, wie er einen Karton ins Haus trug. Er blieb stehen, da Peter plötzlich angelaufen kam, Maja samt Lara auf den Arm nahm und die beiden über die Schwelle trug.
Lara konnte an Konrads Gesicht seine Gefühle ablesen. Er war neidisch.
In der nächsten Szene erkannte Lara sich selbst. In ihrem jetzigen Alter. Sie stand in der Küche von Jo und Karin, schnappte sich den Laptop und rannte davon. Atemlos beobachtete sie, wie Konrad sie verfolgte, aber im dunklen Wald ihre Spur verlor.
Er rannte zurück ins Haus, dann hinaus auf den Waldweg, und setzte sich dort in sein Auto. Mit ausgeschalteten Scheinwerfern wartete er. So lange, bis Lara aus dem Wald gerannt kam. Erst, als sie schon auf die Straße abgebogen war, nahm er die Verfolgung auf. Er hatte sie bis zur Garage verfolgt und gesehen, wie Lara hineingegangen war.
Auf diese Weise war er ihnen gefolgt, und dann kam der Film irgendwann an die Stelle, an der die Katze auf die Enter-Taste gedrückt hatte. Lara erkannte erstaunt, dass der Computer tatsächlich die Augen der Katze gescannt und dadurch das Programm gestartet hatte.
Was zum Henker hatte es mit dieser hässlichen Katze auf sich?
Als der grüne Strahl Timo und Lara erfasst hatte, beschleunigte Konrad seine Schritte, während Timo den Laptop auffing, bevor er in den Abgrund stürzen konnte. Geschickt hatte er ihn sich in den Rucksack gesteckt.
Dann konnte Lara nur noch erstaunt beobachten, wie Timo und sie sich durch den grünen Lichtstrahl
in Luft aufzulösen schienen. Konrad war zwar herbeigesprungen, um Lara zu erwischen, doch Timo hatte ihn abgefangen. Er hatte ihn am Hemd festgehalten und ein Stück davon abgerissen, bevor er und Lara sich in Luft auflösten.
Konrad war den Abhang hinuntergestürzt.