Das Programm
»Was?« Bei dem grellen Ton in ihrer Stimme erschrak sie.
Konrad schien von ihrer Panik unbeeindruckt. Er erzählte seelenruhig. »Als Maja ihren Unfall hatte, war ich drauf und dran, nach Berlin zu ziehen. Ich hatte ein tolles Jobangebot. Im Schwarzwald gab es für mich nichts mehr ...«
»Weil du meine Mutter nicht haben konntest!«, rief Lara. »Du warst in sie verknallt!«
Überrascht blickte er sie an.
»Hab ich alles gesehen. Im Kino.«
»Kino?«
Sie berichtete ihm von dem Film auf der Leinwand, doch er schüttelte nur verwirrt den Kopf.
»Keine Ahnung, was das bedeutet. Aber was wissen wir schon vom Tod?« Voller Sehnsucht schaute er in die Ferne. »Deine Mutter war ein Vogel, Lara. Sie hätte fliegen müssen! Aber dein Vater hat sie festgehalten. In diesem kleinen Hexenhaus!«
»Du warst sein Freund!«
»Und du glaubst, das hält jemanden davon ab, sich zu verlieben?« Er schnaubte verächtlich auf. »Ich wollte wegziehen, als mir klar wurde, dass Maja sich niemals für mich entscheiden würde. Schon gar nicht, seit du auf der Welt warst«, fügte er nun wieder wütend hinzu. »Ich durfte der Patenonkel sein. Aber ich durfte niemals ihr Mann sein!«
Konrad tigerte auf und ab, und Lara spürte, wie ihr ganzer Körper unkontrolliert zitterte
.
»Es ist wie mit all den Autos hier«, erklärte er, während seine Hand in die Richtung der dicken Schlitten wies. »Du kannst ein gutes Auto haben. Einen Wagen, der dich überall hinbringt. Aber dann siehst du deinen Freund oder Nachbarn mit einer dickeren Karre, und du willst sie. Mehr als alles andere.«
»Also ging es gar nicht um meine Mutter? Du wolltest nur besitzen, was mein Vater hatte.«
Konrad sah sie missbilligend an. »Deinem Vater ist immer alles so leicht gefallen! Er hatte alles! Sein Talent. Und Maja. Dabei wusste er sie überhaupt nicht zu schätzen. Ich habe Maja geliebt! Einen Tag, bevor ich nach Berlin aufbrechen wollte, starb sie. Wir waren alle wie gelähmt. Auch wenn ich wusste, dass ich nie mit ihr zusammen sein würde, eine Welt ohne sie konnte nicht funktionieren. Ich weiß nicht, was zwischen deinen Eltern passiert ist, bevor Maja sich in das Auto setzte und zu Peter fuhr. Aber ich weiß, dass dein Vater sich für ihren Tod verantwortlich fühlte. Er wollte alles dafür tun, seinen Fehler wiedergutzumachen.« Er wandte sich ihr zu.
Sie hielt sich selbst an der Hand, um ihre zitternden Finger zu beruhigen.
»Er wollte sie zurückholen. Dein Vater wollte deine Mutter aus dem Totenreich zurückholen.«
Konrad lachte amüsiert auf, während Lara gegen das Gefühl aufkommenden Wahnsinns ankämpfen musste. Alles in ihr weigerte sich, ihm zu glauben.
»Das ist der größte Unsinn, den ich jemals gehört habe!«
»Ach ja?« Er stellte sich dicht vor sie. »Dein Vater war schon immer ein Genie. Er hat mit seinem
Programmieren Dinge vollbracht, die alle Professoren an unserer Uni in Erstaunen versetzten. Er hatte eine Wahrnehmung von der Welt, die niemand nachvollziehen konnte. Nach dem Tod deiner Mutter führte er Experimente durch. Mit Mäusen, die er der Reihe nach umbrachte.«
Lara wurde schlecht. Erneut hatte sie das Gefühl, dass ihre Knie weich wurden. Nicht aus Nervosität, sondern aus Entsetzen. Sie wollte nichts mehr hören. Doch Konrad redete unbeirrt weiter.
»Er erkannte, dass die Körper dieser Tiere einen winzigen Teil ihres Gewichts verlieren. Im Moment ihres Todes. Ein Teil von ihnen entgleitet dem Körper sozusagen. Durch seine Versuche erkannte er, dass dieser Teil aus Energie besteht. Energie verlässt uns im Moment des Todes, Lara. Und beamt sich quasi hierher. Das hier ist das Totenreich.«
Fassungslos sah sie ihn an. Er redete wirr. Er war komplett durchgedreht und gehörte in die Gummizelle, in der sie gerade noch mit diesem verwirrten Auge gewesen war.
»Vater hat das Programm auch Sieben Länder
genannt. Was hat das deiner Meinung nach mit dem Totenreich zu tun?«, hakte sie in der Hoffnung nach, dass er sich in Widersprüche verstricken und seinen Fehler einsehen würde.
»Keine Ahnung«, konterte er fast schon gelangweilt. »Aber weißt du was? Es ist mir auch egal. Jetzt ist es sowieso zu spät.« Er sah ihr tief in die Augen. »Du glaubst mir nicht, mhm? Dann erkläre mir mal, liebe Lara: Warum glaubst du, hat Peter das Programm Styx
genannt?
«
Sie schwieg, und er lächelte bitter.
»Du hast es selbst gesagt: Das Programm ist der Übergang zwischen dem Land der Lebenden und dem Land der Toten. Ein Beamer. So einfach ist das.«
Einfach?
Sein Blick wanderte zu einem der Wagen. »Den will ich haben!«, rief er und lief auf das Auto zu.
Lara erkannte aufs Neue die Habgier, die Konrad erfüllte. Er wollte das größte, schnellste und schönste Auto. Und dieses Auto war Maja gewesen. Ihre Mutter. Ein Auto, das er nie hatte besitzen können.
Lara wollte ihm nach. »Warte!«, rief sie, stolperte dabei aber über die eigenen Füße.
Konrad drehte sich um.
»Wenn das alles wahr ist, warum hast du dann mitgemacht?«
Er lachte auf. »Peter wollte Maja aus dem Totenreich zurück ins Leben holen. Wie würde sie wohl auf ihren Retter reagieren?«
Lara verstand. »Du wolltest das Programm selbst benutzen!«
»Natürlich wollte ich das. Aber am Tag eures dämlichen Friedhofsbesuchs hat dein Vater Panik gekriegt. Die Knochen haben ihm klargemacht, dass Maja in keinen Körper zurück kann, verstehst du? Sie ist jetzt nur noch diese Energie. Wohin soll sie, wenn sie zurück auf der Erde ist? Dein Vater konnte noch nie gut mit der Realität umgehen. Anstatt das Programm auf Eis zu legen, ist er deiner Mutter hinterher.«
»Warum hast du es nicht viel früher ausprobiert?«
Er sah sie an, als hätte sie das Wichtigste nicht
verstanden.
»Weil es nicht fertig war, du dummes Ding! Wir haben den Weg in
das Totenreich gefunden. Aber den Weg zurück kennen wir nicht.«
Sie wollte auf ihn zugehen. Doch ihre Füße waren schwer wie Blei. »Du bist wahnsinnig«, keuchte sie.
Er öffnete die Autotür. »Wir sind tot, Lara. Dich hat das Programm hergebracht. Und ich bin gestürzt. Beim Versuch, dir den Stick wegzunehmen. Direkt in den Abgrund. Und diesen Absturz habe ich nicht überlebt.«
Leicht hysterisch sah Lara sich um. »Das hier kann niemals das Totenreich sein.«
»All die Geschichten über den Himmel, Lara ... Es sind Märchen. Die uns das Leben erleichtern sollen. Als Kind glaubst du noch, dass das Leben ein Laden voller Süßigkeiten ist. Und wenn du dich nur genug anstrengst, dann schaffst du es irgendwann, die leckeren Bonbons ganz oben im Regal zu probieren. Aber irgendwann kapierst du, dass diese Bonbons nur in deiner Fantasie existieren. Genauso ist es mit dem Tod. Sieh dich um. Lauter Bonbons. Aber sie können niemals alle dir gehören.«
Sein Blick war zu dem Auto gewandert. Begehren lag darin.
»Wenn wir alle tot sind, wo ist dann mein Vater? Und meine Mutter! Und wo ist Timo?«, rief Lara in dem verzweifelten Versuch, seine Worte als Lüge zu entlarven.
Tatsächlich sah er sie nachdenklich an. »Keine Ahnung.«
»Und was ist dieses Auge?«, bohrte sie weiter.
»Das Auge ... ja ... Das war lustig, nicht? Erschaffe! Erschaffe!«, äffte er das Auge
nach. »Und schwupp, hat sich mir ein Fenster geöffnet und ich war hier. Nachdem ich jemanden wiedergesehen habe ... nach langer Zeit«, fügte er nachdenklich hinzu.
Lara wollte gerade nachhaken, wer dieser Jemand gewesen war, doch nun erkannte sie, warum ihre Füße ihr so schwer vorkamen.
Ein Entsetzensschrei entfuhr ihr. Sie hatte keine Füße mehr. Sie steckte bis zu den Knien im Straßenasphalt!
»Was passiert mit mir?«
Konrad musterte sie ungerührt. »Du wirst von der Straße verschluckt. «
»Und was gedenkst du dagegen zu tun?«, fragte sie panisch, während sie versuchte, sich mit den Händen vom Asphalt abzustoßen. Doch schon klebten ihre Hände an der Straße fest.
»Ich kenne die Regeln nicht. Du hast mir meinen Stick nicht gegeben, du musstest ja unbedingt das Programm ausprobieren.«
»Ich wollte Papa finden!«, rief sie den Tränen nahe.
»Und jetzt bist du tot. Er hat uns alle umgebracht. Erst Maja, dann sich selbst und jetzt uns beide. Finde dich damit ab.« Er ging auf ein Auto zu.
»Konrad! Bleib hier!«
»Ich will das haben«, erklärte er, während er die Wagentür öffnete.
»Du bist mein Patenonkel!«
Lachend drehte er sich um. »Ich bin dein Patenonkel geworden, weil ich deine Mutter glücklich machen wollte. Mit dir hatte das nichts zu tun.«
Damit setzte er sich in den Wagen und fuhr davon
.
Hilflos sah sich Lara um. Was passierte mit ihr? Sie war festgewachsen. Mehr noch. Sie hatte das Gefühl, sich in diese Straße zu verwandeln
.
»Ayse!« Sie schrie aus Leibeskräften. Auch wenn sie wusste, dass es nutzlos war.
In diesem Moment nahm sie plötzlich ein Vibrieren an ihrem linken, noch nicht ganz zur Straße verwandelten Arm wahr. Ungläubig schüttelte sie den Kopf. Styx strich um ihren Oberkörper.
»Was tust du hier?«
Styxʼ Anwesenheit erfüllte sie mit Hoffnung. Während die Katze den Kopf an Laras Arm rieb, redete sie dem Tier gut zu.
»Okay. Mila hat gesagt, du kannst zwischen den Welten reisen. Was ich bisher von dir gesehen habe, war durchaus beeindruckend. Du warst in Berlin, dann im Schwarzwald, du kannst ein Computerprogramm knacken. Kannst du mich auch von hier wegbringen?«
Styx erwiderte ihren verzweifelten Blick ruhig, ehe sie entschlossen und fest in ihren Arm biss.
»Au!«, rief Lara.
Dann wurde es dunkel.