Ein Fahndungsbild
Die Farbstifte schmeckten an diesem Tag anders als sonst. Konzentriert kaute Mila auf dem roten Stift herum, während sie auf das Blatt Papier vor ihr auf dem Tisch starrte. So sehr sie sich auch bemühte, sie bekam das Auto einfach nicht richtig hin. Die Farben waren nicht grell genug. Und Lara war auch nicht richtig getroffen. Ihre blonden Haare waren gelb. Mit Grünstich. Weil Mila mal Gelb und Grün gemischt hatte. Dabei war es wichtig, Lara so genau wie möglich zu zeichnen.
Mila rieb die nackten Füße aneinander, während sie die Hand hob und Zwitscher ansah. »Zeig sie mir noch mal«, bat sie leise.
Zwitscher öffnete sich langsam. Sie war an diesem Morgen sehr müde, da Mila sie die ganze Nacht wach gehalten hatte. Von dem Moment an, als Lara mit Timo zum Auge gebeamt worden war, hatte Mila sie beobachtet. Und konnte einfach nicht genug bekommen. Es war so aufregend! Mila hatte noch nie einen Menschen gekannt, der die Welten jenseits ihrer Hand besucht hatte. Bisher hatte sie immer nur Wildfremden dabei zugesehen, wie sie bei dem Auge auftauchten und dann durch ein Fenster verschwanden. Und jetzt war Lara dort!
Sie warf einen Blick durch Zwitscher und entdeckte Lara sofort und musste lächeln. Gut, Styx war rechtzeitig bei ihr gewesen.
Als ihre Eltern das Wohnzimmer betraten, beeilte sich Mila damit, das Auto fertig zu zeichnen. Die Hektik und Sorge der beiden übertrug sich auf sie. Dabei wusste sie doch, dass sich niemand Sorgen machen musste.
»Wie soll ich denn jetzt ein Foto von ihr finden? Dein Bruder hat ja alles unter Verschluss gehalten!«
Ihre Mutter durchsuchte den ganzen Tisch, auf dem Mila sich mit ihren Stiften ausgebreitet hatte.
»Schatz, kau nicht auf den Stiften herum«, bat sie nebenher, nachdem sie Milas Ordnung völlig durcheinander gebracht hatte.
»Sie hat doch bestimmt ein Foto bei ihren Sachen?«, hoffte ihr Vater.
»Lara ist 16. Da trägt man kein Foto von sich herum. Das ist doch alles auf ihrem Smartphone.«
Er rieb sich an seiner großen Nase. Mila liebte seine Nase. Wenn er sie zum Lachen bringen wollte, tat er immer so, als könnte er damit Ameisen aufsaugen.
»Wir haben keine Zeit mehr. Wir müssen jetzt zur Polizei. Dann geben wir eben nur eine Beschreibung ab.«
»Hast du Konrad immer noch nicht erreicht?«
Ihr Vater schüttelte den Kopf. »Ich habe ihm auf die Mailbox gesprochen. Bestimmt ruft er bald zurück.«
»Was ist mit Laras Freundin? Ayse. Können wir die nicht anrufen? Hast du ihren Nachnamen?«
»Versuch es über Frau Meier, diese Hauswirtin. Die kann dich bestimmt weiterleiten.«
Ihre Mutter verschwand aus dem Zimmer, und ihr Vater setzte sich neben Mila. »Schatz, wir müssen los. Ziehst du bitte deine Schuhe an?«
Ein letzter Strich ... Mila hob das Blatt hoch und reichte es ihm. »Hier. Lara ist da! «
Verwundert nahm er ihr das Blatt ab und betrachtete es. »Das ... soll Lara sein?«
Sie seufzte. Okay. Blond. Nicht gelb. Aber mit ein bisschen Fantasie war das doch eindeutig!
»Was sind das für Häuser? Und das? Ist das ein Auto?«
»Na, da ist sie eben. Kannst du der Polizei sagen.«
Zufrieden lehnte sie sich zurück.
»Liebes, es ist ja süß, dass du Berlin gemalt hast, aber ...«
»Das ist nicht Berlin!«, protestierte Mila. »Das ist auf der anderen Seite. Sie hat da einen Mann besucht. Den kenne ich aber nicht.«
Jo nahm ein weiteres Bild in die Hand. Es stellte ein Auge dar, das in einem weißen Raum in der Luft schwebte. Nachdenklich legte er beide Bilder auf den Tisch und wuschelte ihr durch die Haare. »Danke, Schatz. Aber wir versuchen lieber, ein richtiges Foto von Lara aufzutreiben.«
Richtiger als das hier konnte es doch gar nicht sein! Mila hielt das Bild erneut hoch, als ihre Mutter zurück ins Wohnzimmer kam.
»Diese Frau Meier gibt meine Nummer an Ayse weiter. Sie wollte erst gar nicht mit mir reden. Führt sich auf wie ein Wachhund. Sie dachte, ich bin von der Presse und will über Peters Verschwinden schreiben. Als ich ihr gesagt habe, wer ich bin und dass Lara verschwunden ist, hat sie endlich zugehört. Sie glaubt, dass Ayse etwas über Laras Verbleib weiß. Anscheinend gibt es die Mädchen nur im Doppelpack.«
»So wie Maja und du damals«, entgegnete Milas Vater lä chelnd.
Der Blick ihrer Mutter wurde für einen Moment traurig. Mila beobachtete genau ihre Mimik. Wann immer die beiden über Laras Mama sprachen, schaute ihre eigene Mutter völlig verloren aus. Mila sah, wie sie sich Haare und Traurigkeit aus dem Gesicht strich.
»Hoffen wir, dass Ayse sich meldet.«
Mila wedelte weiter mit der Zeichnung rum. »Mama! Lara ist hier! Sie ist okay.«
Ihre Mutter nahm sich die Zeichnung. Hinter ihr stapfte schwerfällig Styx ins Zimmer. Die Katze setzte sich auf ihren dicken Hintern und starrte Mila an.
»Die andere Welt«, betonte Jo.
An seinem Tonfall erkannte Mila, was ihr Vater ihrer Mutter zu verstehen geben wollte: Unsere Kleine spinnt mal wieder.
Ihre Mutter legte das Bild achtlos weg. »Schatz. Lara geht es gut.«
Natürlich ging es ihr gut! Das sagte Mila doch die ganze Zeit.
»Sie macht sich Sorgen um Lara. Also katapultiert sie sie in ihre Fantasiewelt. Wo niemandem etwas passieren kann.«
Mila hörte das Flüstern ihrer Mutter sehr wohl, auch wenn es nicht für ihre Ohren bestimmt war.
Wo niemandem etwas passieren kann? Wenn die wüsste!
»Das denke ich auch«, erklärte ihr Vater.
»Vielleicht sollten wir doch Dr. Merbels Rat befolgen.«
Dr. Merbels? Noch ein Arzt?
Mila war es gewohnt, dass sie zu ihrer Freundschaft mit Zwitscher befragt wurde. Etliche Ärzte hatten ihre ausgeprägte Fantasie betont. Man müsse nur darauf achten, dass sie den Kontakt zur realen Welt nicht verliere.
Die reale Welt.
Sahen sie denn wirklich nicht?
Der Blick durch Zwitscher in die anderen Welten war so real, wie eine Welt nur sein konnte. Zwitscher selbst war schon immer auf ihrer Hand gewesen. Seit Mila das erste Mal ihre Augen geöffnet hatte. Und trotzdem behaupteten sie, dass das Auge nur aufgemalt sei. Jeden Abend rubbelte ihre Mutter mit einem Waschlappen über Zwitscher und tat dann immer so, als wäre das Auge verschwunden. Nur um am nächsten Morgen verwundert festzustellen, dass es wieder da war. Als könnte sie Zwitscher einfach abwaschen!
Alles wäre so viel einfacher, wenn ihre Eltern nicht so blind wären.
Mila wollte das Bild noch einmal zum Gesprächsthema machen, als Styx mit plötzlicher Leichtigkeit auf den Tisch sprang und sich auf das Bild setzte. Wütend sah Mila das Tier an, das es sich auf ihrem Gemälde bequem machte und sie nicht beachtete.
Ihre Mutter nahm sie an der Hand. »Nun komm schon. Wir müssen endlich los. Wo sind deine Schuhe?«
Mila ließ sich von ihr aus dem Zimmer ziehen.
Sobald alle das Zimmer verlassen hatten, kam Bewegung in die Katze. Sie hob den Hintern, streckte sich in einen Buckel, nahm das Bild zwischen die Zähne und sprang vom Tisch.
Durch den Flur in die Küche, dann durch die Katzenklappe in den Garten. Styx bahnte sich einen Weg durch die Kräuter in den Wald. Das Bild wehte wie eine Fahne über ihrem Kopf.