Die SMS
Ayse kratzte sich mit ihrer mit Henna bemalten Hand hinter dem rechten Ohr. Die Wunde unter dem Kopftuch juckte. Aber wenn sie kratzte, ging die Wunde wieder auf. Ihre Mutter würde das Blut sehen. Mist!
Wenn sie sich ganz entspannt gab, vielleicht gab es dann noch eine Möglichkeit, die Schnapsidee ihrer Mutter abzuwenden. Ayse starrte auf das Blatt Papier vor ihr auf dem Tisch. Drei Argumente hatte sie schon zusammen:
1 Entwurzlung
2 spreche die Sprache kaum
3 keine Lara
Ayse strich Punkt zwei von der Liste. Sie befürchtete, dass ihre Mutter dieses Argument gegen sie verwenden könnte. Schließlich sollte jede Gelegenheit genutzt werden, um die Muttersprache zu lernen. Weshalb ihre Mutter immer auf Türkisch mit ihr sprach.
Punkt drei war nicht zu widerlegen. Selbst ihre Mutter musste anerkennen, dass ein Dasein ohne Lara für Ayse nicht in Frage kam.
Aber wo steckte Lara bloß?
Vor einer Stunde hatte Frau Meier vor der Tür gestanden und ihr die Telefonnummer von Laras Tante Karin in die Hand gedrückt. Sie solle umgehend dort anrufen. Ayse hatte genau gesehen, dass Frau Meier am liebsten neben ihr gestanden und den Anruf verfolgt hätte. Aber Ayse war sich nicht sicher, was zu tun war. Sie hatte Lara seit dem Tag zuvor nicht mehr gesprochen. War es in Laras Sinn, wenn sie diese Karin zurückrief? Oder war ihre Freundin absichtlich gegangen? Mit diesem Hinterwäldler?
Ayse betrachtete nachdenklich das Muster auf ihrer Hand. Sarala, das Mädchen aus dem Jugendclub, hatte sich hier verewigt. Ein wirres Muster aus Linien und Kreisen. Sie wollte irgendwann einen eigenen Laden eröffnen und übte an jeder Hand, die ihr entgegengestreckt wurde. Ayse seufzte und betrachtete nun die Telefonnummer, die neben der Liste lag. Sie spürte einen Hauch Eifersucht. Zugleich schämte sie sich dafür, während sie auf das Blatt Papier Kreise und Herzchen malte. Lara hatte immer nur ihren Vater gehabt. Und Ayse. Das war ihre Familie gewesen. Jetzt tauchte da plötzlich ein ganzer Haufen Hinterwäldler auf, die einen auf glückliche Familie und verloren gegangene Nichte machten. Ayse wollte sich für Lara freuen. Wirklich. Mit der ganzen Kraft ihres großen Herzens. Aber diese Familie lebte so weit weg. Wenn Peter nicht mehr auftauchte – und die Chancen dafür standen verdammt gut –, würde Lara dann in den Schwarzwald ziehen? Würde sie Ayse und Berlin verlassen?
Das wiederum würde ihrer Mutter genug Anlass geben, ihren Plan umzusetzen.
Ayse schimpfte mit sich selbst. Konnte man so egoistisch sein? Laras Vater war weg. Lara verschwunden. Und Ayse hatte nichts Besseres zu tun, als sich um ihre eigene Zukunft Sorgen zu machen? Wenn Lara wie ihr Vater überhaupt nicht mehr auftauchte, war Ayses potentieller Umzug das kleinste Problem.
Unbewusst kratzte sie sich an der Wunde, die prompt zu bluten begann. Das auch noch. Sie musste ihr Kopftuch wechseln. Ihre Mutter befand sich in dem Glauben, dass die Wunde längst verheilt und nicht so dramatisch war, weshalb Ayse auch nicht zu einem Arzt gehen konnte. Sie hatte nämlich behauptet, dass längst nicht so viele Steine bei der Demonstration geflogen waren, wie die Zeitung geschrieben hatte.
In Wirklichkeit waren es wesentlich mehr Steine gewesen.
Ihre Mutter war von Anfang an dagegen gewesen. Ständig machte sie sich Sorgen. Als wäre Ayse immer noch das kleine Mädchen, das zahnlos in die Schule gegangen war. Dabei hatte keiner damit gerechnet, dass die Demonstration derart eskalierte.
Alles hatte friedlich begonnen, und dann waren aus dem Nichts Steine geflogen. Ayse hatte es nicht kommen sehen. Der Stein hatte sie hinter dem Ohr erwischt. Nur eine kleine Wunde. Aber das hätte auch anders ausgehen können.
Sie war nach Hause gegangen, um sich im Bad selbst zu verarzten. Aber gerade, als sie Jod auf die blutende Stelle hatte tupfen wollen, war ihre Mutter heimgekehrt. Und hatte beim Anblick der Wunde festgestellt, dass Ayse aus dem wilden Berlin wegmusste. Ab in die Türkei zur Schwester ihrer Mutter. Den Wunsch hatte sie schon vor ein paar Monaten ausgesprochen. Es war ihr wichtig, dass Ayse ihre Heimat kennenlernte. Richtig kennenlernte. Nicht nur im Urlaub. In der Theorie gab Ayse ihrer Mutter recht. Sie war selbst interessiert an ihren Wurzeln. Ihrer Kultur. Aber sie wollte den Zeitpunkt selbst bestimmen .
Ayse hatte nicht verstanden, warum ihre Mutter plötzlich so scharf darauf war, sie loszuwerden. Erst jetzt begriff sie, dass ihr eigenes Engagement ihrer Mutter offensichtlich Angst machte. Weshalb sie sie in das kleine Bergdorf abschieben wollte, aus dem sie einst gekommen war. Ayse verzweifelte über dieser Einstellung. Sie wollte in Berlin sein. Fliegende Steine machten ihr keine Angst. Die Möglichkeit, etwas zu verpassen – das machte ihr Angst.
Nach nur zwei Minuten hatte es eine weitere Eskalation gegeben. Am Küchentisch. Ayses Brüder hatten vage versucht, sich auf ihre Seite zu stellen. Kein Wunder. Sie war ihre einzige Quelle, dem mysteriösen Verhalten der Frauen auf die Schliche zu kommen. Ohne sie waren sie verloren und dazu verdammt, immer weiter zu rätseln, was die Frauen denn nun wollten und was nicht. Gegen das Machtwort der Mutter kamen sie jedoch genauso wenig an wie Ayse.
Lara gegenüber hatte Ayse die Pläne ihrer Mutter nie erwähnt. Sie wollte Lara nicht damit belasten und hatte gehofft, dass es sowieso nicht passieren würde.
Nun saß Ayse in ihrem Zimmer. Die Hände zitterten, das Blut sickerte durch das neue Kopftuch. Sie hörte die Stimme ihrer Mutter durch die Wände, die bereits mit der Tante telefonierte. Wenn die erst einmal auf ihrer Seite war, würde auch Ayses Vater keine Chance mehr haben. Die Frauen würden so lange auf ihn einreden, bis auch er davon überzeugt wäre, dass das Leben seiner Tochter bedroht war, würde sie auch nur einen Tag länger in Berlin bleiben.
Panik machte sich in ihr breit. Sie musste sich mit Lara besprechen. Gemeinsam würden sie ihre Mutter überzeugen können, dass Ayse bleiben musste. Sie nahm ihr Handy. Melde dich, verdammt!
Auf keinen Fall war Lara auf dem Weg nach Berlin. Schon gar nicht mit diesem Typen. Es war nicht ihre Art, nach einem Tag mit einem Fremden abzuhauen. Dazu hatte sie zu aufgeregt über die wundersame Tatsache gewirkt, einen Onkel zu haben.
Irgendetwas stank an dieser ganzen Story. Und zwar gewaltig. Aber was?
Nervös durchsuchte Ayse das Chaos auf ihrem Schreibtisch. Laut Frau Meier brauchte diese Karin ein Foto von Lara. Für die Polizei. Ayse fragte sich, warum Peter nie etwas von diesen Verwandten erzählt hatte. Sie witterte eine tragische Liebesgeschichte hinter all den Geheimnissen. Normalerweise wäre sie bereits dabei gewesen, dieses Geheimnis zu entschlüsseln. Wenn sie in Gedanken nicht mit dem Umzug beschäftigt gewesen wäre.
Unter dem Wust von Unterlagen fand sie schließlich ein Foto von Lara und sich, als ihr Handy vibrierte.
Endlich! Eine Nachricht von Lara! Schnell klickte sie die SMS an. Ein einziges Wort stand auf dem Display: Cem .
Was sollte das nun wieder bedeuten? Hatte Lara eine Nachricht angefangen, die sie nicht hatte zu Ende schreiben können?
Ayse wählte, doch wieder war Laras Handy tot. Ganze 24 Stunden kein Kontakt. Und dann das?
Sie wurde nervös. Das Jucken der Wunde wurde unerträglich. Deshalb riss sie sich das Kopftuch herunter und schüttelte ihre dunkle Mähne aus. Für einen Moment atmete sie befreit durch. Das Jucken stoppte augenblicklich. Ayse dachte nach.
Cem. Das war doch der Typ, der das Programm knacken sollte. Was, wenn Peter doch entführt worden war? Und die gleichen Typen hatten sich jetzt Lara und den Hinterwäldler geschnappt? Lara hatte gerade noch Zeit gehabt, diese eine SMS zu schreiben, bevor ihr Handy in einen wilden Bach in diesem finsteren, unheimlichen Wald geschmissen worden war. Ayse sah die Bilder so deutlich vor sich, als wäre sie dabei gewesen. Ihr Puls beschleunigte sich. Natürlich! Cem hatte das Programm. Und Lara wollte von Ayse, dass sie diesen Cem warnte!
Sie sprang auf. Sie konnte nicht länger untätig herumsitzen. Stattdessen musste sie in den Schwarzwald fahren und Cem aufsuchen.
Natürlich könnte sie auch über Karin versuchen, ihn telefonisch zu erreichen. Aber eine kleine Reise hätte noch einen anderen, entscheidenden Vorteil: Sie würde ihre Abschiebung ins Bergdorf zumindest für eine gewisse Zeit hinauszögern. Und ihrer Mutter einen Vorgeschmack darauf geben, wie sich ein Leben ohne Ayse in Berlin anfühlte. Möglicherweise würde ihre Mutter dann noch einmal umdenken.
Kurz entschlossen steckte Ayse das Geld aus der mit Rosenbildern beklebten Box für absolute Notfälle ein und packte.