Eine Klavierspielerin mit einem Stern
Lara schwebte in der Dunkelheit. In den Händen spürte sie die Flasche und den Korken, den sie schnell auf den Flaschenhals setzte.
Es hatte funktioniert! Die Flasche half ihr dabei, aus der Gummizelle herauszukommen. Nur ... wohin? Sie steckte die Flasche in die Hosentasche.
War sie wieder bei Konrad? Da die Fenster in der Gummizelle alle gleich aussahen, war es unmöglich zu wissen, ob sich für sie dasselbe Fenster erneut geöffnet hatte.
»Hallo? Zottel?«
Lara zuckte erschrocken zusammen, als sie die Stimme des Auges in ihrem Inneren hörte. »Du bist mitgekommen?« Sie freute sich mehr über diese Tatsache, als ihr lieb war. Aber wer war Zottel?
»Wo sind wir?«, wollte das Auge wissen, das ihre Frage einfach ignorierte.
»Ich weiß es nicht. Wer ist Zottel?«
»Na, du.«
»Ich?«
»Hast du schon mal einen Blick auf deine Haare geworfen?«, fragte das Auge leicht schnippisch.
Lara strich sich über den Kopf. »Meine Haare sind das Beste an mir. Sie sind nicht zottelig!«
»Das sehe ich anders, Zottel.«
Sie wollte gerade protestieren, als das Auge mit verstimmtem Tonfall weiterredete: »Meine Erinnerungen sind immer noch nicht zurück.«
»Hey, ich habe nicht gesagt, dass wir dein Gedächtnis sofort wiederfinden. «
»Aber wenn ich hier bin, wer ist dann bei mir?«, fragte das Auge mit einem Anflug von Sorge.
»Mit bei dir meinst du die Gummizelle?«
»Den Raum der Bestimmung«, erwiderte das Auge würdevoll.
Lara hielt inne. Raum der Bestimmung? »Die Gummizelle ist der Raum der Bestimmung?«
»Ja, natürlich.«
Für einen Moment lang war sie abgelenkt. Sie erinnerte sich an das Gefühl der Liebe in ihr, als sie mit Timo dort gewesen war. Hatte das eine Bedeutung? Und hatte es eine Bedeutung, dass sich der Raum ohne ihn so leer und sinnlos angefühlt hatte?
»Seit wann weißt du das?«, fragte sie leise.
»Schon immer. Hast du den Schimmer?«, fragte das Auge weiter.
»Den Schimmer?«
»Der uns hierher gebracht hat.«
»Du meinst die Flüssigkeit?«
»Was denn sonst!«
»Woher weißt du, dass sie Schimmer heißt?«
»Das wusste ich schon immer.«
»Gerade eben hattest du keine Ahnung!«
»Red keinen Unsinn«, ließ das Auge in einem Tonfall vermelden, der für Laras Geschmack ein bisschen zu hochnäsig klang.
Kaum erinnerte sich das Auge an etwas, fühlte es sich gleich als etwas Besseres!
»Hey, seit wir die Flasche geöffnet haben, erinnerst du dich.«
Kurzes Schweigen. »Dann mach die Flasche wieder auf! Vielleicht kommt noch mehr Erinnerung zurü ck!«, befahl das Auge. »Auch wenn ich nie vergessen hatte, dass der Schimmer der Schimmer ist«, fügte es schnell hinzu.
Der Wille des Auges war in Laras Innerem schon wieder so übermächtig, dass ihre Hand bereits zu der Flasche wanderte. Doch da sah sie von Weitem ein Licht auf sich zukommen. Diesmal war es jedoch keine Leinwand, sondern eine Bühne. Ein dicker, roter Vorhang versperrte die Sicht.
»Lass uns noch abwarten«, bat sie.
»Und wer macht meine Arbeit, solange ich nicht da bin?«, wollte das Auge mit einer Dringlichkeit wissen, die Lara ganz nervös machte.
»Du hast doch eh vergessen, was dein Job ist«, erwiderte sie gereizt, abgelenkt durch die Bühne, die nun dicht vor ihnen schwebte.
Das Auge verstummte.
»Siehst du das auch?«, wollte Lara wissen.
Da hob sich der Vorhang, und die Bühne wurde von einem weißen Licht angestrahlt.
Die Bühne war mit altem, abgewetztem Parkett ausgelegt. Ein einsamer Stuhl aus hellem Holz stand in der Mitte. Schmal, mit einer hohen Lehne, die mit Rosenblüten verziert war. Am Kopf der Bühne war ein Souffleurkasten angebracht, aus dem es wisperte.
Neugierig versuchte Lara, in den Kasten zu schielen und herauszufinden, wer darin saß. Aber so sehr sie auch mit den Armen ruderte, sie konnte sich der Bühne nicht nähern.
Als ein alter Mann mit einem dichten, grauen Bart die Bühne betrat, gab sie den Versuch auf. Er verbeugte sich steif. Seine Haare waren streng zurückgekämmt.
Der Mann setzte sich auf den Stuhl. Missmutig blitzten seine Augen auf, als ein kleines Mädchen mit dichten, schwarzen Locken seilspringend die Bühne eroberte.
Während es sich hüpfend dem alten Mann näherte, summte es eine kleine Melodie vor sich hin. Doch plötzlich blieb es stehen. Aus dem Kasten konnte Lara ein Wispern hören, aber nicht verstehen, was die Souffleuse dem Mädchen sagte. Es wandte sich dem alten Mann auf dem Stuhl zu, als sich das Springseil gleichzeitig in eine braune Schlange verwandelte, die mit ihrer scharfen, schwarzen Zunge nach dem Mädchen züngelte. Verängstigt ließ es das Tier fallen, das sich schnell und zischend von der Bühne schlängelte.
Das Mädchen sprang auf den Schoß des alten Mannes, der den Zeigefinger hob und das Mädchen streng anblickte.
Dann deutete er auf etwas, das sich hinter dem Mädchen befand. Das Kind drehte sich um. Wie aus dem Nichts stand da plötzlich ein großer, schwarzer Flügel. Das Mädchen erhob sich, setzte sich auf den Klavierhocker und legte die Hände auf die Tasten.
Vor Erstaunen blieb Lara der Mund offen stehen, als die kleinen Hände des Mädchens über die Tastatur sausten und eine wunderschöne Melodie produzierten. Am liebsten hätte sie applaudiert, als das Mädchen plötzlich einen Fehler machte. Wütend über sich selbst schlug es auf die Tasten ein. Dann spielte es die gleiche Stelle noch einmal.
Wie konnte man sich nur in diesem Alter über einen so kleinen Fehler ärgern?
Als sie sich erneut verspielte, stand der alte Mann neben ihr und schlug ihr auf die Hände.
Lara hatte das Bedürfnis, aufzustehen und den Mann zu vertreiben. Aber wie zuvor auch kam sie der Bühne einfach nicht näher.
»Tu doch was!«, rief Lara dem Auge zu und drehte sich zu ihm um. Doch sofort verstummte sie wieder. Denn das weiße Licht, mit dem die Bühne erleuchtet wurde, drang aus dem Auge selbst. »Was machst du da?«, fragte sie erstaunt.
»Pst.«
Lara wandte sich erneut der Bühne zu.
Dort kauerte das Mädchen erschöpft auf dem Hocker, die Hände auf den Tasten des Flügels. Lara sah ihre Müdigkeit und hatte tiefes Mitgefühl. Wieder trat der alte Mann auf die Bühne und zeigte dem Mädchen etwas. Lara versuchte, ebenfalls in die angedeutete Richtung zu blicken. Plötzlich bebte die Bühne unter den Schritten unzähliger Soldaten, die von rechts nach links marschierten. Allen voran ein Fahnenträger. Das Hakenkreuz der Nationalsozialisten wehte auf der Flagge mit den Schritten der Soldaten hin und her. Vor sich her trieben sie nackte Menschen, die mit gelben Sternen bemalt waren.
Das Mädchen blickte gebannt auf das Szenario, das der alte Mann ihr präsentierte. Die nackten Menschen fielen plötzlich zu Boden, und ihre Augen starrten leblos nach oben.
Als Lara wieder zu dem Kind blickte, trug es einen gelben Stern am Kleid. Den Judenstern .
Sie konnte sehen, wie sich eine tiefe Traurigkeit im Gesicht des Mädchens abzeichnete. Und diese Traurigkeit brachte es dazu, weiter auf dem Flügel zu spielen. Ein leises Stück mit tiefen Tönen. Als könnte sie mit dem Spiel ihre Meinung über die grausigen Vorfälle kundtun. Wieder schritten unzählige Menschen an dem Flügel vorbei. Diesmal ohne Stern. Doch sie hörten das Mädchen nicht. Sie traten über die Leichen, ohne sie zu bemerken. Sie vergaßen das Verbrechen.
Lara konnte sehen, wie die Traurigkeit des Mädchens sich in Wut wandelte. Sie schien den Wunsch zu haben, das Verbrechen festzuhalten, die Welt immer wieder aufs Neue an das zu erinnern, was geschehen war.
Während das Mädchen spielte, wurde es älter. Die Kindlichkeit verschwand aus dem Gesicht, die Beine wurden länger, genau wie der Oberkörper. Die Kleidung passte sich dem Wachstum an. Bis das Mädchen schließlich als Frau vor dem Flügel saß.
Und diese Frau kannte Lara. Sie war die Frau aus der schwarzen Schachtel. Das verblichene Foto. Ihre Großmutter.
Sie hatte das Gefühl, als würde sich ein Abgrund vor ihr auftun. Ihre Großmutter war schon lange tot.
Lara hörte begeistertes Publikum, und plötzlich saß jemand anderes an dem Flügel. Ein junger Mann, den Lara noch nie gesehen hatte. Ihre Großmutter saß in einem Stuhl davor. Jemand trat zu ihr und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Entsetzen breitete sich im Gesicht ihrer Großmutter aus.
Dann brach sie zusammen.
Die Bühne verschwand, und es wurde hell.
Lara hatte das Gefühl zu fallen, bevor sie plötzlich feuchtes, dichtes Gras unter ihren Händen spürte. Über sich erkannte sie blauen Himmel. Aufgeregt sah sie sich um. War sie zurück auf die Erde gefallen? In jeder Richtung, in die sie sah, war nur Gras. Eine riesige Wiese, die sich bis zum Horizont erstreckte.
Nein. Das war nicht die Erde.
Sie war im Land ihrer Großmutter. So wie sie zuvor in Konrads Land gewesen war. Styx. Sieben Länder . Ihr Vater hatte von diesen Ländern gewusst.
Schnell redete sich Lara diese Erkenntnis wieder aus. Sie hatte nur ein kleines Theaterstück gesehen. Nichts deutete darauf hin, dass ihr ihre tote Großmutter tatsächlich begegnen würde!