Im Netz der Spinne
Lara konnte nichts mehr sehen. Sie spürte, wie sich der Boden unter ihr auflöste. Sie fiel ins Bodenlose und versuchte, nach rechts und links zu greifen. Doch dank ihrer zu Grashalmen gewordenen Finger hätte sie sich sowieso an nichts festhalten können.
Also ließ sie sich fallen. Angst flammte in ihr auf. Sie hatte das Gefühl, dass der Sturz kein Ende nahm, als sie plötzlich aufgefangen wurde. Und mit dem Aufprall spürte Lara ihre Hände wieder.
Sie konnte die Augen öffnen und sah, dass sie an silbernen Fäden hing. Mitten in der Dunkelheit schimmerten unzählige, silberne Fäden, die zusammen ein riesiges Spinnennetz bildeten.
Sie entdeckte die Spinne, die ein wenig abseits von ihr am Rande des Netzes saß. Und ihre Großmutter, die mit erstauntem Gesichtsausdruck neben Lara lag.
»Das war ein langer Fall, oder?«, fragte sie mit kaum unterdrückter Begeisterung in der Stimme.
»Ziemlich«, erwiderte Lara.
»Mein Leben lang habe ich geglaubt, dass ich an allem festhalten muss. Dabei hätte ich mich fallen lassen können. Ich hätte mich selbst aufgefangen. Verstehst du?«
Dorothea versuchte aufzustehen und deutete auf die Spinne.
»Ich hatte die Spinne in meinem Inneren. Ich habe ihr nur nicht vertraut!«, rief sie begeistert.
Geschmeichelt senkte die Spinne den Blick ihrer acht Augen .
Lara betrachtete erstaunt das Strahlen im Gesicht ihrer Großmutter. Mit diesem Lächeln sah sie wunderschön aus. Jegliche Härte war aus ihrem Gesicht gewichen, als sie sich zu ihr beugte. »Und jetzt? Was kommt jetzt?«, fragte sie aufgeregt.
»Keine Ahnung«, gestand Lara.
»Warum bist du hier?« Dorothea setzte sich neben sie. »Und wo ist Maja? Kann ich sie sehen?«
Lara schwieg. Auf all diese Fragen hatte sie keine Antwort. Außerdem bekam sie eine Gänsehaut, weil die Spinne langsam auf sie zukrabbelte.
»Die Flasche!«, rief das Auge in Gestalt der Spinne aufgeregt.
Jetzt sollte sie gehen? Jetzt, da sie sich endlich in Ruhe mit ihrer Oma unterhalten konnte?
»Zottel! Hol die Flasche!«, rief das Auge erneut, während neben Dorothea ein silberner Schimmer in der Dunkelheit erschien, der sich immer mehr als Fenster entpuppte.
Kein weißes Fenster wie in der Gummizelle. Es leuchtete silbern, und sein Anblick entlockte Lara ein Lächeln.
Das Fenster öffnete sich.
»Ich heiße nicht Zottel!«
Sie würde keinen Tropfen des Schimmers vergeuden, sondern mit ihrer Großmutter durch das Fenster gehen. Das stand fest. Vielleicht trafen sie gemeinsam Laras Mutter?
Als hätte die Spinne ihre Gedanken gelesen, krabbelte sie nun auf Lara hinauf. Lara spiegelte sich in den acht leuchtenden Augen, die sie streng betrachteten .
»Die Flasche!«, rief es so bestimmt in ihrem Inneren, dass sie ihren Ekel vergaß und die Hand automatisch zu ihrer Tasche wanderte, in der die Flasche steckte.
»Aber ich will mit!«, bettelte Lara.
Sie sah, wie ihre Großmutter aufstand und ihr die Hand entgegenstreckte.
»Kommst du?«, fragte sie.
»Ich möchte ja«, rief Lara und versuchte, die Flasche wieder zurück in die Tasche zu schieben.
»Du gehörst da nicht hin«, erklärte die Spinne bestimmt und tänzelte mit ihren acht Beinchen auf Lara herum, dass diese schier einen Brechreiz bekam. Der Wille des Auges war nun so stark, dass sie die Flasche aus der Tasche zog.
»Woher willst du das wissen! Du hast doch alles vergessen. Ich will nicht mehr alleine sein«, versuchte sie vergeblich, ihren Willen durchzusetzen. Doch ihre andere Hand wanderte bereits zum Korken.
»Ich weiß, dass dein Weg ein anderer ist.« Die Spinne wandte sich Dorothea zu. »Lass sie los! Mach nicht den gleichen Fehler wie bei deiner Tochter. Ihr werdet euch wiedersehen. Aber diesen Weg muss sie alleine gehen.«
Dorothea zögerte. Das Fenster öffnete sich, und ein Sog erfasste Laras Großmutter.
»Nein!«, rief Lara verzweifelt.
Doch dann lächelte Dorothea plötzlich. »Finde deinen eigenen Glauben, Lara. Schma Israel!«
Dann wurde sie von dem Sog erfasst. Das Fenster schloss sich.
»Die Flasche!«, rief die Spinne .
Plötzlich hatte Lara das Gefühl, sich in alle Bestandteile aufzulösen. Das Netz unter ihr verschwand, und sie fiel erneut. Das Reich ihrer Großmutter löste sich auf.
Panik erfasste sie, und sie öffnete die Flasche. Ein Schrei entfuhr ihr, als sie erkannte, dass ihre Hand unsichtbar wurde.
Ein kleiner Tropfen lugte aus dem Flaschenhals, als würde er die Umgebung erkunden, und stieg schließlich empor. Dann wurde es dunkel.