Der Beginn einer Freundschaft
Lara lag im Dunkeln. Tränen liefen ihr übers Gesicht. »Warum hast du mich nicht mit ihr gehen lassen?«, rief sie in die Dunkelheit.
Stille.
Wo war das Auge?
»Hey! Wo steckst du?«
Keine Antwort.
Noch mehr Tränen liefen ihr die Wangen hinunter. Nicht nur, dass sie tot war, sie war auch noch allein. Schon wieder. Ein Zustand, vor dem sie ihr ganzes Leben lang geflohen war. Ein Leben, das mal eben so vorbei war. Zack! Sie war dem Willen dieses Auges und seines Schimmers ausgeliefert. Sie war schuld an Timos Tod. Und Ayse? Was war mit ihr? Würde Lara sie je wiedersehen?
Als Lara an ihre Freundin dachte, kam ihr mit einem Mal ein Gedanke, der ihre Tränenflut stoppte. Sie hatte gesehen, wie Konrad gestürzt war. Er war auf natürliche Weise gestorben und hatte ein eigenes Land gehabt. Ihre Großmutter auch. Aber Lara nicht. Sie erschuf kein eigenes Land. Bedeutete das vielleicht, dass sie gar nicht tot war? Es könnte durchaus einen Sinn ergeben. Schließlich waren sie, ihr Vater und Timo durch das Programm hierhergekommen und nicht auf natürliche Weise gestorben.
Lara schöpfte neue Hoffnung. Sie war im Land der Toten. Aber ihr Tod schien ein anderer zu sein als der von Konrad oder ihrer Großmutter. Vielleicht konnte ihr Vater Timo, sich selbst und sie doch noch zurück ins Leben
bringen?
Sie erinnerte sich, dass das Auge ein baldiges Wiedersehen mit der Großmutter prophezeit hatte. Wenn es das wusste, hatte es sich wieder an etwas erinnert? Wo war es jetzt?
Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und steckte den Korken zurück auf die Flasche. Wo auch immer sie jetzt war: Sie durfte nicht aufgeben.
Während sie die Flasche in die Tasche steckte, wanderten ihre Gedanken zu Timo. Nach der Erfahrung, dass Konrads Stick sie zu ihrem Patenonkel gebracht hatte, lag es nahe, dass Timo durch Sazans Laptop zu Sazan gebracht worden war. Wie würde sie Sazans Land finden?
Ein ungutes Gefühl breitete sich in ihrem Bauch aus. Ging das Mädchen etwa gerade mit Timo Hand in Hand durch das Totenreich? Er hatte immer noch Gefühle für Sazan gehabt, so viel hatte selbst Lara verstanden. Was, wenn er von Sazan gar nicht mehr wegwollte?
Doch dann erinnerte sie sich daran, dass sie sich in das Land verwandelte, wenn sie zu lange in ihm blieb. Hatte er sich auch verwandelt? Was geschah, wenn die Verwandlung vollendet war?
Lara atmete ungeduldig durch. Die mittlerweile gewohnte Dunkelheit umgab sie, und wenn es in diesem Reich eine gewisse Regelmäßigkeit gab, würde sich bald ein Licht auftun und ihr die Lebensgeschichte des Menschen näherbringen, den sie als Nächstes treffen würde.
Plötzlich wurde sie aufgeregt. Bei wem war sie gelandet? Würde sie nach ihrer Großmutter nun ihrer Mutter
begegnen?
»Hat Zottel sich beruhigt?«
Als sie die vertraute Stimme hörte, zuckte sie zusammen. »Auge?«
»Wer denn sonst?«
»Seit wann bist du hier?«
»Ich bin immer hier.«
»Und warum hast du vorhin nichts gesagt?«
»Du warst so aufgeregt. Ich dachte, du solltest dich erst einmal beruhigen.«
»Meine Hand wurde unsichtbar!«, rief Lara aufgewühlt.
»Du brichst sehr schnell in Panik aus«, stellte das Auge fest.
»Ich weiß jetzt, wo ich bin, Auge.«
Schweigen.
»Ich bin wirklich im Totenreich.«
»Schön für dich«, gab das Auge zurück.
»Nein. Es ist nicht schön für mich! Ich will von dir wissen, was das alles soll? Warum gibt es diese Länder und wohin ist meine Großmutter verschwunden?«
»Keine Ahnung.«
»Du hast behauptet, dass ich sie wiedersehe!«
»Schon, aber erst, wenn wir sie wiedersehen, richtig?«
Lara verzweifelte an dieser Logik. »Was bist du? Bist du ... Gott?«
Bitte sag nein! Bitte sag nein!
»Keine Ahnung, was dieses Gott sein soll.«
»Nicht dieses
Gott. Der Gott. Ein Mann mit einem weißen Bart. Oder ein helles Licht. Oder ein Elefant mit vielen Armen. Irgendjemand, der all das hier erschaffen hat. Macht es irgendwie Klick?
«
»Der all das hier erschaffen hat?«, fragte das Auge erstaunt.
»Ja, genau!« Gespannt hielt Lara den Atem an.
»Der all das hier erschaffen hat?«, fragte das Auge erneut.
»Ja doch.«
»Mich auch?«
»Na ja. Dich vermutlich auch. Wenn du es selbst nicht warst?«
»Nein«, kam es prompt.
Lara gab sich wirklich Mühe, geduldig zu sein. »Du hast vorhin behauptet, der Spiegel des Inneren zu sein«, versuchte sie es erneut.
»Oh ja! Ich bin der Spiegel«, klang es würdevoll in Laras Innerem. »Und ich bin an den Schimmer gebunden. Wo der Schimmer ist, da bin auch ich.«
Okay. Das klang gar nicht mehr nach einem verwirrten, vergesslichen Auge. »Du hast dich also erinnert?« Schweigen. »Es macht nichts, wenn du dich nicht an alles
erinnern kannst«, versicherte Lara schnell. »Erzähl mir einfach, was du weißt.«
Sie hörte ein Räuspern und hoffte, dass das Auge nicht die unbändige Freude spüren konnte, die sie aufgrund seiner Anwesenheit empfand. Auf keinen Fall wollte sie hilfsbedürftig wirken!
»Das Innere gelangt in den Raum der Bestimmung ...«
»Moment. Das Innere? Ist das die Seele?«
»Was ist eine Seele?«
»Das Innere eines Menschen.« Besser konnte Lara es nicht beschreiben
.
»Sag ich doch. Das Innere.«
»Ich wollte ja nur sichergehen, dass wir von ein und demselben sprechen«, betonte Lara.
»Da du mir eine Frage gestellt hast, verstehe ich nicht, warum du die ganze Zeit plapperst.« Das Auge klang ziemlich genervt.
»Auf jeden Fall«, tönte es ungeduldig weiter, »erschafft das Innere, und ein Durchgang öffnet sich.«
»Deshalb hast du die ganze Zeit Erschaffe! Erschaffe!
gerufen.«
»Du redest ja schon wieder.«
Lara verstummte artig.
»Dann verweilt das Innere, bis ... also eine Zeit lang.«
Sie ahnte, dass dem Auge dieser Teil der Erinnerung noch fehlte.
»Und wenn es so weit ist, reise ich mit dem Schimmer von einem Inneren zum nächsten.«
»Wenn was
so weit ist?«, bohrte Lara nach.
»Das ... weiß ich nicht mehr so genau. Aber der Schimmer weiß, wann es so weit ist.« Der Tonfall wurde bereits etwas störrisch.
»Und woher weiß er das? Woher kommt der Schimmer?«
Schweigen.
»Okay. Sonst noch was?«
»Ich besuche das Innere. Sie sehen in mir ihr eigenes Spiegelbild.«
»Moment. Die Spinne war das Spiegelbild meiner Großmutter?« Lara staunte und fragte sich unbehaglich, was wohl ihr Spiegelbild sein mochte.
»Wenn das Innere sich selbst erblickt, wird ihm klar, was ihm bisher gefehlt hat. Warum es wie gehandelt
hat. Es ist erlöst, kann sich verzeihen, und ich besuche das nächste Land.«
Land. Sieben Länder
.
»Moment! Land? Wie viele Länder gibt es denn?«
Schweigen.
Dann fuhr das Auge fort, als hätte Lara die Frage gar nicht gestellt. »Jede Erschaffung ist ein Land. Sie folgen aufeinander«, erklärte es würdevoll.
»Und wir reisen jetzt von einem Land ins nächste?« Es mussten
die Länder sein, die ihr Vater entdeckt hatte. »Versuch dich zu erinnern: Wie viele Länder gibt es? Du hast in diesem Raum der Bestimmung gesagt, dass es immer nur sieben Fenster waren. Sind es also auch sieben Länder?«
»Es sind so viele Länder, wie es Innere gibt«, kam die Antwort.
»Hast du eine Ahnung, was es mit der Zahl Sieben auf sich hat?«
Schweigen.
Also nein. Aber vielleicht hatte Laras Vater etwas gewusst, das das Auge vergessen hatte. Und wenn von sieben Ländern die Rede war, hatte Lara bereits zwei bereist. Diese Reise war also möglicherweise endlich.
»Okay. Eine Frage noch: Warum verwandle ich mich in diesen Ländern in die Umgebung? Und warum wurde ich am Ende unsichtbar?«
»Offenbar hast du die Eigenschaft, dich mit dem Land zu verbinden. Warum das so ist, weiß ich nicht. Aber wenn das Innere sein Land verlässt, löst sich das Land auf. Es existiert dann nicht mehr, weil es nicht mehr gebraucht wird.
«
Lara schluckte. »Und was passiert mit mir, wenn sich das Land auflöst?«
Schweigen.
»Weißt du es nicht? Oder willst du es mir nicht sagen?«
»Du hast kein eigenes Land erschaffen. Ich weiß nicht, was das bedeutet. Warum du mich begleitest. Ich weiß nicht, ob du dich mit auflösen würdest. Aber ich würde vorschlagen, dass wir es nicht darauf ankommen lassen. Solange ich ein Auge auf dich habe ...«
Lara konnte spüren, wie das Auge bei dieser doppeldeutigen Ausdrucksweise still in sich hinein kicherte.
»... sorge ich dafür, dass dir nichts passiert.«
»Was in diesem Fall bedeutet, dass du eingreifst, bevor ich mich auflöse.«
»So in etwa«, murmelte das Auge leicht verlegen.
Sie spürte die Zuneigung, die das Auge für sie empfand. Sie wusste nicht, womit sie sich diese Zuneigung verdient hatte. Aber sie freute sich in einer Art und Weise darüber, die sie selbst überraschte. »Danke.«
»Ich will mir ja später nicht sagen lassen, ich hätte nicht auf dich aufgepasst.«
In diesem Moment merkte sie, dass ein kleines Lichtchen sie ansteuerte. »Was hat es mit diesen Filmen auf sich?«, fragte sie aufgeregt.
»Das Innere zeigt sich mir. Es zeigt mir, woher es kommt. Und wie es gegangen ist.«
Die Seele zeigte dem Auge also, was sie erlebt hatte und wie der Körper gestorben war.
Das Licht kam näher.
Lara setzte sich in der dunklen Schwerelosigkeit in den Schneidersitz und wünschte
sich eine Tüte Popcorn. Gleich würde es losgehen. Bei der Vorstellung, wem sie nun alles begegnen konnte, zitterten ihr die Hände.
Doch das Licht blieb stehen.
»Was ist denn jetzt los?«, fragte Lara.
»Es hat Angst«, erklärte das Auge, als sei es das Normalste der Welt.
»Es ist ein Licht. Es kann keine Angst haben.«
»Es ist Teil des Inneren. Da ich der Spiegel bin, verstehe ich von diesen Dingen mehr als du.«
Langsam näherte sich das Licht.
»Es kommt. Siehst du? Ich hatte recht«, behauptete Lara.
Doch im selben Augenblick zog sich das Licht wieder zurück. Wie ein kleines Kind, das sich hinter den Beinen der Mutter versteckte.
»Wie kommen wir dem Licht denn nun näher?«
»Wir warten.«
Warten gehörte nicht zu Laras Stärken. Doch sie bemühte sich. Natürlich gab es aufgrund der Dunkelheit nichts weiter zu sehen als das schwache Licht, das sich mal näherte, dann wieder entfernte.
Ein Mal dachte Lara sogar, dass es nun losgehen würde. Das Licht schien regelrecht Anlauf zu nehmen und mit waghalsigem Mut auf sie zuzufliegen. Doch dann, als Lara fast so etwas wie Umrisse ausmachen konnte, verschwand es wieder.
Nach einer Weile hatte sie genug. »Das dauert zu lange!«, rief sie und schwebte auf das Licht zu.
»Nicht! Du verschreckst es!
«
Der Wille des Auges versuchte erneut, ihren Willen zu brechen. Aber so langsam hatte sie Spaß an dem Willenskampf gefunden und trudelte weiter durch die Dunkelheit.
Doch das Licht, dem sie zu folgen versuchte, harrte nur einen Moment aus, um sich dann immer weiter von ihr zu entfernen.
»Jetzt bleib doch da! Ich tu dir nichts!«
Sie blieb in der Schwerelosigkeit hängen. Warum musste das Auge immer recht behalten?
»Na? Zufrieden?«
Nun war es an Lara, zu schweigen.
»Du hast dich mit deinem Inneren auch noch nicht versöhnt. Sonst wärst du nicht so unruhig«, verkündete das Auge, das es offensichtlich genoss, mit seinem wiedererlangten Wissen um sich zu werfen.
»Wenn das bedeutet, dass ich noch nicht tot bin, kann ich damit leben.«
Dann ging es plötzlich los!
Ein greller Lichtstrahl stach ihr in die Augen. Sie hielt sich die Hand davor und blinzelte zwischen den Fingern hindurch.
Ein buntes Spektakel spielte sich vor ihren Augen ab. Ein Festzug. Schrill und bunt gekleidete Menschen, die lange, schmale Hüte trugen, schritten an Lara vorbei. Ihre Anzüge bestanden aus Stofffetzen, die notdürftig aneinandergenäht waren. Die Schuhe hatten Löcher, aus denen die Zehen herauslugten. Doch die Gesichter strahlten, und die Leute warfen Bonbons und Schokolade um sich.
»He!« Eine Tafel Schokolade hatte Lara an der Stirn getroffen
.
Verwundert nahm sie die Tafel, auf der in schnörkeliger Schrift Glück! Glück! Glück!
stand.
Dann schrie sie erneut auf. Etwas steckte in ihrem Arm fest. Obwohl sie keinen Schmerz empfand, erfüllte sie der Anblick mit Entsetzen: In ihrem Arm steckte eine Spritze. Anstelle von Schokolade warfen die bunten Leute nun mit Spritzen und Tabletten um sich.
Lara wollte sich verkriechen. Sie drehte sich zu dem Auge um, das wieder die Szenerie erhellte, und hielt erstaunt inne.
Das Auge hatte sich verändert. Der graue Schimmer wurde an manchen Stellen von einem glänzenden Silber durchbrochen. Doch das Licht, das aus dem Auge trat, war so grell, dass Lara nicht sicher sein konnte.
»Kannst du nicht ein bisschen weniger strahlen? Die sind ja alle total verrückt!«, bat sie.
»Das mache nicht ich. Das macht das Innere.«
Lara wurde von einer Pillenpackung getroffen. Doch als sie sich umsehen und beschweren wollte, erstarrte sie mitten in der Bewegung.
Zu der bizarren Vorstellung drang nun eine Melodie an ihr Ohr. Diese Melodie war ihr wohlvertraut. Es war das Stück von der CD, die sie mit Ayse in der schwarzen Schachtel entdeckt hatte.
»Das Lied kenne ich!«
Sie war zutiefst berührt von dem traurigen Lied, das im krassen Gegensatz zu den zum Lachen verzogenen Fratzen stand, die mit Spritzen nach ihr warfen.
Da erkannte Lara, was diese Wesen wirklich empfanden. Sie wollten glücklich wirken. Aber ihre zu Fratzen entstellten Gesichter zeigten, dass sie in Wahrheit alles andere als glücklich waren.