Land Drei
Treppen
Im nächsten Moment fand sich Lara auf festem Untergrund wieder. Sie stand auf und vermisste im gleichen Augenblick das Gefühl der Schwerelosigkeit, an das sie sich bereits so gewöhnt hatte.
Sie hatte weder erkannt, wer dieses Land erschaffen hatte, noch wie derjenige gestorben war. Neugierig sah sie sich um. Sie saß am oberen Ende einer langen Treppe, die mitten im Nichts endete. Lara drehte sich nach allen Seiten hin um und erkannte erstaunt, dass um sie herum endlos viele Treppen schwebten. Mal hatten sie nur vier kleine Stufen aus glänzendem Mahagoniholz, mal bestanden sie aus Metall, manche hatten ein verschnörkeltes Geländer mit wundersam geschnitzten Rosenknospen, wieder andere besaßen gar kein Geländer oder eines, das schon schief zur Seite stand und jeden Moment abzubrechen drohte. Teilweise passten die Materialien nicht zusammen. Die Holztreppe hatte ein Geländer aus Metall, die Metalltreppe war mit den schönen Rosenknospen aus Holz verziert.
Lara folgte ihnen mit dem Blick. Sowohl nach oben als auch nach unten schien es kein Ende zu geben.
Außerdem standen die Treppen nicht still. Sie bewegten sich! Aufeinander zu, voneinander weg. Die Treppe, die in diesem Moment auf sie zu schwebte, führte weiter nach oben. Sie hatte das Bedürfnis, diesen Weg zu erkunden, als sie misstrauisch wurde. Wo war das Auge? Hatte es sich wieder in eine Spinne verwandelt?
»Auge?«, fragte sie in den endlosen Raum voller Treppen .
»Hier!«, rief die Stimme in ihrem Inneren, doch das machte es ihr unmöglich zu erahnen, wo sich das Auge befand.
»Bist du wieder eine Spinne?«, fragte sie misstrauisch und suchte die umherfliegenden Treppen nach einem Tier ab.
»Ich bin der Spiegel«, wiederholte das Auge sehr stolz.
»Ja doch«, erwiderte Lara genervt. »Aber hast du dich wieder in ein Tier verwandelt?«
»Ich habe mich noch nie verwandelt«, behauptete das Auge.
Sie richtete sich auf, als sie auf einer der Treppen, die auf sie zukamen, zwei lange Ohren ausmachen konnte. Der Rest des Körpers war noch hinter einer anderen Treppe versteckt.
»Da du nur ein Auge bist und keinen eigenen Spiegel hast, lass dir versichern: Du hast dich bereits schon einmal in ein Tier verwandelt. Und jetzt bist du eine ... du bist ein ...«
Die Treppe flog behäbig zur Seite und machte Platz für ein graues Tier auf vier Beinen mit großen, schwarzen Augen. Ein dünner Schwanz schwang am runden Hinterteil nach rechts und links.
»Du bist ein Esel!«, rief Lara erfreut.
Sie mochte Esel. Vor ihm würde sie nicht davonrennen müssen.
»Auch wenn ich es nicht bin ... Was ist ein Esel?«
»Nicht so wichtig. Komm!«, rief sie und sprang auf eine vorbeifliegende Treppe zu. Eine Holztreppe. Auch die kletterte Lara hoch .
»Wo willst du hin?«
Sie drehte sich zu dem Esel um, der auf einer der Treppen auf seinem Hintern saß und sie unruhig beobachtete.
»Ich suche das Innere dieses Landes. Den Erschaffer«, erklärte Lara fachmännisch.
»Aber die Treppen nehmen kein Ende.«
»Hast du einen besseren Vorschlag?«
Als das Auge schwieg, setzte sie ihren Weg fort. Jetzt, da sie erkannte, wie schwerfällig der Esel auf den Treppen vorankam, wurde ihr klar, warum das Auge nicht weiterlaufen wollte: Es war ihr unterlegen. Es konnte nur langsam hinter ihr herkommen. Und das passte ihm nicht. Lara grinste in sich hinein und kletterte weiter.
Immer wieder hörte sie die Stimme des Auges in ihrem Inneren und das dumpfe Aufprallen, wenn der schwere Körper des Esels auf einer anderen Treppe gelandet war und diese damit zum Schwanken brachte. Dennoch weigerte sich das Auge beharrlich, eine Verwandlung zuzugeben.
Während Lara von einer Treppe zur nächsten sprang, fragte sie sich, was die Gestalt des Esels zu bedeuten hatte. Wenn die Spinne ihrer Großmutter hatte helfen können, indem sie ein Netz spannte, in das Dorothea sich endlich hatte fallen lassen können, wofür stand dann der Esel? Fehlte dem Bewohner dieses Landes ein fester Tritt in den Hintern?
Lara blickte schon gar nicht mehr nach oben, als sie mit einem Mal gezwungen war, stehenzubleiben. Keine weitere Treppe führte sie höher. Sie war tatsächlich oben angekommen.
Hinter sich hörte sie das Keuchen des Esels. Er war nur eine Treppe unter ihr, und ihre eigene Treppe schaukelte ein wenig, als der Esel den Sprung darauf wagte.
Lara schaute nach oben.
»Und jetzt?«, fragte der Esel.
Darauf hätte sie zu gern eine Antwort gewusst. Doch anstatt sich ihre Unwissenheit einzugestehen, wandte sie sich dem Esel zu. »Warum begegnen wir nicht dem Inneren?«
»Das entscheide doch nicht ich«, erklärte der Esel in einem Ton, der implizierte, wie dumm Laras Frage gewesen sein musste. »Das Innere entscheidet, wann es in den Spiegel blickt«, predigte das Auge in der Form des Esels weiter.
Sie wollte gerade dagegenhalten, dass bei Dorothea auch Überredungskunst gefragt gewesen war, als sie plötzlich etwas wahrnahm, das durch die Treppen auf sie zuflog. Eine kleine Plattform, auf der sich Personen befanden.
Neugierig hob sie den Kopf.
Die Plattform war ein schwebender Holzboden, auf dem vier Personen standen. Sie waren grau. Komplett. Graue Haut, graue Haare, graue Augen, graue Anzüge. Und graue Instrumente. Es war ein Quartett. Einer hielt eine graue Geige in der Hand, in der anderen den Bogen. Ein anderer saß an einem grauen Schlagzeug, die Stöcke leblos in der Hand. Der Dritte hielt einen Kontrabass und der Vierte ein Saxophon. Alle vier starrten mit ihren grauen Augen ins Leere und regten sich nicht. Lara konnte sich nicht erinnern, jemals traurigere Menschen gesehen zu haben.
»Wer von euch ist es?«, fragte sie. »Wer von euch hat dieses Land geschaffen?«
Keine Reaktion. Die Gestalten kamen ihr wie leblose Puppen vor.
»Keiner von ihnen. Sie sind nur Teil davon«, stellte das Auge fest.
Sie sah sich um. Außer dieser Plattform war nichts zu erkennen. Wie sollten sie wen auch immer nur finden?
»Er findet uns«, erklärte das Auge, als hätte es Laras Frage gehört.
»Aber wie?«
In diesem Moment segelte ein kleines Holzstückchen herunter. Es war an zwei Seilen befestigt, und als Lara daran emporsah, erkannte sie, dass es sich um das Ende einer Strickleiter handelte.
»Es geht wohl doch noch weiter hinauf, was?«, fragte das Auge besserwisserisch.
Genervt kletterte sie die Strickleiter hoch. Auf halber Strecke erkannte sie, dass sich eine Luke am Ende der Strickleiter befand. Einen Augenblick zuvor war sie noch nicht da gewesen. Lara fühlte sich unsicher. Wollte sie wirklich wissen, wer oder was sich dahinter verbarg? Sie musste an all die Spritzen und Pillen aus der kleinen Vorführung denken.
Sie sah sich zu dem Esel um. »Kommst du?«
»Wie denn?«, fragte er, setzte sich auf seinen Hintern und hielt ihr die Hufe entgegen.
»Also siehst du nun doch, dass du ein Esel bist? «
»Ich bin der Spiegel!«
Sie hätte gern ein bisschen weitergestritten – das Streiten mit dem Auge war überraschend belebend -, aber sie hatte andere Probleme.
»Wenn du nicht mitkommst, wie willst du wen auch immer erlösen?«
»Du musst ihn wohl dazu bringen, zu mir zu kommen.«
Lara hielt inne. »Und wie soll ich das anstellen?«
»Lass dir etwas einfallen. Bist ja nicht auf den Mund gefallen.«
»Aber sonst machst du das doch auch allein!«
»Wo du schon mal da bist, kannst du dich ja auch nützlich machen.«
Lara zögerte. Sie war schon eine Weile in diesem Land unterwegs. Wie viel Zeit blieb ihr noch, ehe sie sich verwandelte? Schnell kletterte sie die Strickleiter empor und öffnete die Luke.