Land Vier
Jahreszeiten
Diesmal erlebte Lara keine Dunkelheit. Kein Licht kam auf sie zu und erzählte ihr von dem Leben des Verstorbenen. Sie landete direkt auf hartem Untergrund und starrte in die Krone eines mächtigen Baums, der die ersten Knospen bereits in den Himmel streckte. Lara fröstelte, und im selben Augenblick entdeckte sie eine Lederjacke neben sich am Boden. Das helle Braun war bereits abgewetzt, und die Jacke war Lara viel zu groß, dennoch zog sie sie an. Der Geruch des Menschen, der die Jacke vor ihr getragen hatte, hing noch in dem alten Leder. Eine Mischung aus sonnengebräunter Haut und etwas, das Lara schwach an die Räucherstäbchen des Buddhisten erinnerte, der in Berlin mit ihr im selben Haus gelebt hatte.
Lara warf einen Blick auf ihr Handy, das immer noch vollen Empfang anzeigte. Im Totenreich hatte sie mehr Empfang als in der Berliner U-Bahn. Dennoch schien keine Kommunikation möglich. Sie konnte Ayse nicht erreichen.
Der Gedanke an Ayse rief auch die Erinnerungen an ihren Vater wach. An die Menschen, die sie nach seinem Verschwinden kennengelernt hatte. Jo und Karin, die sich mittlerweile über ihr Verschwinden wundern mussten.
Und natürlich Timo.
Sie erinnerte sich an den letzten Moment mit ihm auf dem Katzenbuckel. Mittlerweile kam es ihr wie ein anderes Leben vor - wie das Leben
eben. Wenn
er den Laptop nicht aufgefangen hätte, wäre er jetzt nicht bei Sazan, sondern bei ihr. Und sie würden diese abstruse Reise durch Totenländer gemeinsam machen.
Lara sah sich um. Sie war auf einem Weg gelandet, der seinen Ursprung im Stamm des riesigen Baums hatte. Feiner Kies drückte sich in ihre Hände. Am Wegesrand blühten zahlreiche Frühlingsblumen.
Lara lauschte und erwartete das süße Zirpen der Vögel. Doch es herrschte absolute Stille.
Sie stand auf und entdeckte ein Gebäude in einiger Entfernung. Ein kleines Häuschen neben einem Mühlrad. Sie hatte den Eindruck, dass es schon eine ganze Weile stillstand. Das Holz splitterte bereits ab.
Sie sah sich nach ihrem treuen Begleiter um. »Auge?«
»Ich bin direkt hinter dir.«
Kurz erstarrte sie. Das Auge hatte mit einer Ruhe und Ausgeglichenheit gesprochen, die jeglichen Rest von Laras Nervosität im Keim erstickte. Sie drehte sich um und sah in die freundlichen, voller Liebe zurückschauenden Augen eines Hundes. Die Augen waren mit den ihren auf gleicher Höhe.
Lara trat einen Schritt zurück. »Wow, du bist ganz schön groß.«
Es war der größte Hund, dem sie jemals begegnet war. Fast so groß wie der Esel aus Freds Land. Und genauso grau. Die behaarten Ohren aufrecht, die feuchte Schnauze dicht vor Laras Nase. Der Hund roch ein bisschen aus dem Maul.
»Willst du mir wieder einreden, dass ich mich verwandelt habe?«, fragte das Auge hochnä
sig.
Inzwischen konnte sie über die Sturheit des Auges nur noch lachen, das immer noch davon überzeugt war, keines der Tiere darzustellen, in die es sich bereits verwandelt hatte. Dass Lara sich daran erfreute, anstatt sich zu ärgern, war eines der Dinge, die dieses Land mit ihr machten. Es strahlte eine sehr beruhigende Wirkung aus.
»Warum haben wir keinen Film gesehen?«, erkundigte sie sich.
»Wenn das Innere schon mit sich im Einklang ist, muss es sich mir nicht mehr zeigen.«
»Keine Erlösung nötig?« Lara war beeindruckt. »Aber warum existiert das Land dann noch?«
»Ich weiß nicht.«
»Hast du neue Erinnerungen?«
»Wieso? Habe ich etwas vergessen?«
Lara lächelte in sich hinein und streichelte den Kopf des Hundes.
»Was machst du da?«
»Ich streichle deinen Kopf.«
»Als Auge habe ich keinen Kopf.«
Sie lachte und wandte sich der Mühle zu. »Ich denke, wir sollten in diese Richtung gehen.«
Sie marschierte los.
Nach einer Weile stellte Lara fest, dass die Mühle keinen Zentimeter nähergekommen war.
Sie ging den Weg entlang, hatte den Baum schon lange hinter sich gelassen. Doch der Weg überraschte stets mit neuen Blumen und seltsam geformten Steinen. Mittlerweile stand die Sonne hoch am Himmel. Lara zog die
Lederjacke aus und band sie sich um die Hüfte. Es war heiß. Rosen- und Lavendelsträucher standen in voller Blüte.
Lara lief weiter. Sie kannte weder Hunger noch Durst, ihre Beine wurden nicht müde. Eine seltsame Freude schien von dieser Umgebung auf sie überzugehen.
Selbst die Tatsache, dass ihre Finger sich in die blühenden Rosenknospen verwandelten und anstelle ihrer Haare duftende Lavendelblüten ihren Körper hinabwuchsen, konnte ihre Freude nicht trüben. Das Auge in Form des riesigen Hundes schien jedoch alarmiert.
»Du verwandelst dich. Wir sollten uns beeilen«, fand es.
Lara ließ sich von dem Hund antreiben, obwohl sie sich nicht mehr erinnern konnte, warum sie es plötzlich so eilig hatten.
Das herabfallende Laub, das nun den Weg säumte, ließ den Schluss zu, dass es mittlerweile Herbst geworden war. Kürbisfelder trugen Früchte wie Laternen, und Lara erkannte, dass sich ihr gesamter Unterleib in einen orange leuchtenden Kürbis verwandelte. Schneller. Immer schneller trieb der Hund sie an. Doch je länger sie lief und je mehr sie sich verwandelte, desto mehr vergaß sie, einmal Lara gewesen zu sein. Bis sie irgendwann nicht mehr einsah, sich zu beeilen.
Ihre Beine trugen sie weiter, bis der erste Schnee fiel und das Laub überdeckte. Lara kämpfte sich durch den mittlerweile kniehohen Schnee, bis sie einfach nicht mehr weiterlaufen konnte. Ihre Beine blieben im Schnee stecken und waren selbst zu Schnee geworden. Wie ein Schneemann stand sie aufrecht, bis ihr Kürbiskörper fast gänzlich eingeschneit war
.
Trotz dieser nach außen hin doch sehr misslichen Lage empfand Lara nichts mehr. Sie konnte sich kaum noch daran erinnern, dass sie etwas anderes war als diese Mischung aus Pflanzen und Schnee. Daher verstand sie auch nicht die Sorge im Gesicht des Hundes, der sich vor ihren Augen aufbaute und winselte.
»Zottel? Hallo?«
Sie sah, wie der Hund durch den Schnee davonrannte.
Im selben Moment hatte sie vergessen, wer sie war.
Der Schnee um sie herum schmolz und damit auch Laras Beine, als sie endlich wieder den grauen Körper wahrnahm, der sich ihr näherte. Nun blickte sie jedoch aus einer Höhe, die nur dicht über dem Wegesrand sein musste. Sie war geschrumpft. Da Lara aber vergessen hatte, dass sie existierte, spielte das keine Rolle mehr für sie.
Und dann sah sie, wie direkt vor ihren Augen ein neues Land entstand. Zuerst waren da nur Farben. Die Farben des Regenbogens und etliche mehr, die sie noch nie gesehen hatte. Wie von selbst entschied sich Lara für eine Farbe. Ein blasses Lila, das sie als beruhigend empfand. Die Farbe hüllte sie ein, und Lara konnte die Konturen eines Bergs erkennen. Ein Wasserfall plätscherte den Hang hinunter. Ein schmaler Weg schlängelte sich links vom Wasserfall empor. Dieser Ort kam Lara entfernt bekannt vor. Aber er wäre noch viel hübscher, wenn gerade die Sonne untergehen würde. Als sie diesen Gedanken hatte, erschien am Himmel eine untergehende Sonne. Und sie begriff, dass sie selbst
diesen Ort gestaltete. Mit dem, was von ihr übrig war. Ihrem Bewusstsein. Fasziniert wollte sie den nächsten Gedanken zulassen, als ...
»Lara?«
Sie kannte die Stimme nicht. Doch mit einem Mal fand sie sich vor der Mühle wieder. Ein Mann beugte sich herunter und sah ihr direkt in die Augen.
Hätte sie noch einen Funken Erinnerung daran besessen, wer sie einmal gewesen war und was sie in ihrem Leben gesehen hatte, dann hätte sie dieses wunderschöne Gesicht dem Mann auf dem Foto zuordnen können, das sie einst in der schwarzen Schachtel gefunden hatte. Luxus.
Doch über Laras Augen legte sich nun ein Schatten. Das Letzte, was sie sah, war eine Hand, die sich ihr näherte.