Luxus
Lara kam zu sich. In ihren Schläfen hämmerte das Blut. Mit vor Schmerz verzerrtem Gesicht hielt sie sich den Kopf.
»Was ist passiert?«, stieß sie hervor.
»Ich musste dich mitnehmen«, erklärte eine ruhige Stimme.
Langsam öffnete sie die Augen und atmete den frischen Duft von Tannennadeln ein. Ein kühler Wind wehte. Sie saß auf dem Weg, der vor dem kleinen Holzhaus endete.
Lara fühlte sich wieder ganz wie sie selbst. Das führte dazu, dass ihre Ungeduld sie zwang, aufzustehen, um die Beine wieder zu spüren. Eine Reaktion, die sie schnell bereute, denn die Welt um sie herum schwankte einmal hoch und wieder herunter. Sie verlor den Halt ...
»Ups!«
... und fand sich in den Armen eines Mannes wieder, der direkt hinter ihr gestanden hatte.
»Langsam.« Fröhliche, hellblaue Augen blickten sie an.
Für einen Moment lang versank sie in diesem Anblick und lächelte benommen. Was war das nur für ein gut aussehender Mann? Und warum kam ihr sein Gesicht so bekannt vor?
Langsam kehrte ihr Gleichgewicht zurück.
Der Mann ließ sie los. »Geht es wieder?«
Sie nickte und holte tief Luft. Und nun erinnerte sich Lara, woher sie ihn kannte. Luxus stand lä
chelnd vor ihr. Hinter ihm drehte sich das Mühlrad in der Luft. Wann hatte es sich in Bewegung gesetzt? Und warum schwebte es?
Lara erinnerte sich vage. Sie war einen Weg gegangen. Und hatte sich in Laub und Gemüse verwandelt.
»Ich dachte schon, wir hätten dich verloren«, sagte Luxus. »Geht es dir wirklich gut? Du siehst ein bisschen orange aus«, fügte er besorgt hinzu.
»Das liegt vermutlich daran, dass ich ein Kürbis war.«
Luxus lachte. »Wie ist das passiert?«, fragte er dann mit wissbegierigem Blick.
»Ich weiß nicht genau, wie es funktioniert. Aber in jedem Land verwandle ich mich irgendwann in die Umgebung, welche das Innere erschaffen hat.« Verdutzt erkannte Lara, dass sie sich bereits wie das Auge anhörte. »Mit Innerem meine ich so was wie die Seele, die das Land erschaffen hat.«
»Schon klar.«
»Du weißt also Bescheid? Über die Länder und so weiter?«, fragte Lara verblüfft.
»Längst nicht alles. Was ist mit dir passiert während dieser Verwandlung? Ich meine, mit deinem Bewusstsein?«
Sie versuchte, sich zu erinnern. »Ich glaube, ich habe vergessen, wer ich bin.«
Doch jetzt, da sie wieder wusste, wer sie war, kam ihr das sehr töricht vor. Mit schlechtem Gewissen dachte sie daran, dass sie dem Auge immer genau das zum Vorwurf gemacht hatte.
»Dann habe ich Farben gesehen und dann ... ist irgendwie eine Welt vor mir entstanden. Der Kreuzberg.
«
Luxus nickte nachdenklich.
»Was bedeutet das?«
»Du warst kurz davor, zu sterben«, erklärte er ruhig.
»Dann bin ich nicht richtig tot?«, fragte sie mit aufkeimender Hoffnung.
»Nein«, war die schlichte Antwort.
Also war an ihrer Theorie doch etwas dran. Dass das Programm einen nicht umbrachte, sondern lebendig ins Totenreich katapultierte?
»Ich kann dir jetzt nicht alles erklären, dafür fehlt die Zeit«, betonte Luxus schnell, »aber ich habe beobachten können, was Peter versucht hat ...« Bei der Erwähnung ihres Vaters geriet Luxus für einen Moment ins Stocken. Er zögerte, doch dann fuhr er fort. »Dieses Programm hat euch tatsächlich in die Totenländer gebracht. Aber es hat euch nicht getötet. Ihr habt eure Körper mitgenommen, dein Vater, Timo und du. Aber ihr habt eure Körper nicht verlassen.«
Laras Augen wurden immer größer.
»Ich habe keine Ahnung, warum. Und vor allem habe ich keine Ahnung, wie du zurück ins Leben kommen kannst. Aber Fakt ist: Wenn du zu lange in einem Land bleibst, entsteht dein eigenes Land. Und das bedeutet, dass du in diesem Moment stirbst. Der Prozess hatte bei dir gerade eben schon eingesetzt. Das Land, das du vor dir gesehen hast, war deine eigene Erschaffung. Aus diesem Grund habe ich dich aus meinem Land mitgenommen. Ich musste deinen Tod aufhalten.«
»Mitgenommen wohin?«, fragte sie verwirrt und sah sich um. Der Waldweg kam ihr vertraut vor.
»Zunächst musst du mir noch ein paar Fragen beantworten. Ich konnte dich beobachten, bis du mit dem
Jungen vom Programm verschluckt wurdest. Was ist dann passiert?«
Lara vertagte ihre Frage, wie Luxus sie hatte beobachten können, auf später und erzählte ihm ihre ganze Geschichte.
Er entpuppte sich als geduldiger Zuhörer, der jedoch sehr ernst wurde, als sie ihm von dem vergesslichen Auge erzählte.
»Es hat seine Bestimmung vergessen?«
»Du guckst so, als wäre das schlecht.«
»Es ist immer schlecht, wenn man seine Bestimmung vergisst. Das gilt für uns Menschen, aber besonders gilt es für das Auge.«
»Was ist denn das Auge?«, hakte Lara aufgeregt nach.
Er zögerte und musterte sie eingehend. »Sagen wir einfach, wenn das Auge den Überblick verliert, hat ihn niemand mehr. Also, du glaubst, es erlangt seine Erinnerungen wieder?«
»Ja. Und jedes Mal tut es dann so, als hätte es nie etwas vergessen. Das nervt total!«
Luxus lächelte, und Lara vermutete, dass dieses Lächeln die Frauenwelt ganz schön durcheinander gebracht hatte.
»Wobei ich mittlerweile nachvollziehen kann, warum das Auge das wirklich glaubt. Ich kann auch kaum noch glauben, dass ich für einen Moment vergessen habe, wer ich bin«, gestand sie.
Dann berichtete sie ihm, wie sie Timo verloren hatte. Von ihrem Besuch bei Konrad, davon, dass sie dem Auge den Schimmer hatte stehlen wollen und von ihren Besuchen bei ihrer Großmutter
und Fred.
»Irgendwie treffe ich nur Leute aus eurer Clique.«
»Das ist kein Zufall«, erklärte Luxus. »Du wirst noch begreifen, warum.«
Sie musterte ihn mit neuer Hoffnung. »Du glaubst also nicht, dass ich tot bin?«
»Konrad hatte recht«, erklärte er, »wir erschaffen nach unserem Tod ein Land. Das Land der Emotion, mit der wir aus dem Leben gegangen sind. Wir wollen das, verstehst du? Wir wollen so lange wie möglich in diesem Gefühl bleiben.«
»Warum? Und was passiert, wenn wir dieses Land verlassen?«
Wieder zögerte er. »Ich bin mir nicht sicher, wie viel ich dir erzählen soll. Das Vergessen ist ein wichtiger Bestandteil unserer Existenz. Und das Erlangen der Erinnerung ebenfalls. Wenn ich dir jetzt einfach das ganze Paket anvertraue, dann ... ist es, als wenn ich dir das Ende einer Geschichte verrate, die du gerade erst anfängst zu lesen.«
Lara glaubte zu verstehen.
»Was ich dir aber verraten kann, ist, dass immer sieben Länder zusammengehören. Sie hängen zusammen. Gehören zueinander. Das eine kann ohne das andere nicht existieren. So viel hat dein Vater auch verstanden. Deshalb hat er sein Programm danach benannt.«
»Und wie gehören sie zusammen?«, fragte Lara gebannt. »Bisher war ich tatsächlich nur bei Menschen, die irgendwie miteinander zu tun hatten.«
»Diese Information sollte dir vorerst reichen. Es ist immer besser, wir finden die Dinge selbst heraus.
«
»Okay, aber ich habe in deinem Land keinen Film von dir gesehen. Ich weiß nicht, wie du gestorben bist.«
»Das liegt daran, dass das Auge mich nicht erlösen muss«, erklärte er ruhig.
»Das hat es auch gesagt. Aber warum nicht?«
Erneut dieser Blick. Luxus schien sich unsicher zu sein, wie viel er Lara erzählen durfte.
»Und wo ist das Auge überhaupt?« Sie hörte keine Stimme in sich. »Ich meine den Hund, in den es sich verwandelt hat?«
»Gönnen wir dem Auge eine kleine Pause.«
»Warum ist dein Inneres ein Hund?«, fragte sie neugierig.
»Alle Tiere spiegeln unser Inneres wider. Auch in unserem Leben. Was wir unseren Tieren antun, das tun wir uns selbst an«, erklärte Luxus ernst.
Lara verzog bei dieser Vorstellung das Gesicht. »Dann gehen wir nicht gut mit uns um.«
»Das ist keine Neuigkeit, oder? Jedes Tier steht für eine der Eigenschaften der Menschen. Viele Tiere haben wir noch gar nicht entdeckt. Wir werden noch erstaunt sein, was alles in uns steckt«, fuhr Luxus fort. »In unserem Land ist dann nur noch unser Inneres übrig. Ich selbst bin mit dem Gefühl absoluter Liebe gegangen. Deshalb ist mein Inneres dieser Hund.«
Mit einem Mal sah er auf. Dann berichtete er schnell, als wollte er diese Geschichte unbedingt noch loswerden, bevor etwas anderes geschah.
»Ich bin in einer sehr reichen Familie aufgewachsen. Nach meinem Studium bin ich nach Berlin, um dort die Geschäfte meines Vaters fortzufü
hren. Wir expandierten. Ich hatte ein Händchen für diese Art der Geschäfte, und nach außen hin hätte ich ein glücklicher Mann sein können. Ich war reich. Ich konnte mir alles kaufen. Meine Eltern gaben mir das Gefühl, genau das zu sein, was sie sich gewünscht hatten. Aber dann ...« Er schwieg einen Moment lang. »Es war ein schleichender Prozess. Erst konnte ich nicht mehr durchschlafen. Ich wachte mitten in der Nacht auf und wurde von einer Traurigkeit überfallen, die ich zunächst auf den Arbeitsstress schob. Doch mit der Zeit verfolgte mich diese Traurigkeit in den Tag hinein. Ich verlor die Freude an allem. Alle Farben wirkten grau. Jeder Geschmack von Essen war verloren ...«
Irritiert betrachtete sie ihn. Es war schwer vorstellbar, dass dieser Mann einmal etwas Trauriges empfunden haben sollte.
»Nach einigen Monaten bin ich zum Arzt. Ich war an Depression erkrankt. Ich machte eine Therapie. Nahm Medikamente ... Doch nichts half mir. Die Nächte wurden immer länger. Ich begann, während geschäftlicher Sitzungen zu weinen. Du kannst dir vorstellen, wie das auf meine Angestellten gewirkt hat. Sie hielten mich für durchgeknallt. Es dauerte nicht lange, bis die ersten Haie kamen, um meine Beute zu stehlen. Ich musste eine Lösung finden.« Auf sein ernstes Gesicht legte sich plötzlich ein Lächeln. »Dann habe ich sie getroffen. Sie war die dickste Frau, die ich jemals gesehen hatte.«
Lara horchte auf.
»Sie hatte überall Muffins versteckt. In ihrem Rock. In ihrer Tasche ... Du kennst sie gut«, ergänzte Luxus mit einem Augenzwinkern
.
»Frau Meier?«
Er nickte. »Es passierte, bevor du mit deinem Vater eingezogen bist. Ich joggte am Maybachufer entlang. Weil mein Arzt mir erklärt hatte, dass Bewegung gut gegen Depressionen sei. Ich war ganz in die Musik über meine Kopfhörer versunken, als ich genau in sie hineinrannte. Sie war dabei, den Müll rauszutragen, und ließ wegen mir die Tüten fallen. Sie lagen aufgerissen am Boden. In meinem ganzen Leben hat mich niemand so beschimpft wie Frau Meier!«
Das wiederum konnte sich Lara sehr gut vorstellen.
»Während ich ihr geholfen habe, den Müll aufzusammeln, hielt sie mir einen ihrer Muffins unter die Nase, der ebenfalls im Dreck gelandet war. Sie warf mir vor, ihren Besitz zerstört zu haben, und verlangte Schadensersatz. Im ersten Moment dachte ich, dass die Frau völlig wahnsinnig sei. Bis mir klar wurde, dass sie genau mein Spiegelbild war.«
Frau Meier Luxusʼ Spiegelbild? Schwer vorstellbar!
»Sie hielt an ihrem Besitz fest. Genau wie ich. Sie konnte nur daran denken, ihn zu vermehren. Noch mehr Muffins in sich reinzustopfen. Genau wie ich das Geld. Also tat ich etwas, was mein Arzt als Nervenzusammenbruch deklarierte: Ich zahlte Frau Meier als Entschädigung für ihren Muffin zehntausend Euro.«
»Sie hatte das Geld also von dir?« Lara konnte es nicht fassen.
»Ja. Sie hat nicht viel damit anzufangen gewusst, nicht wahr?«
Lara kam aus dem Staunen nicht mehr heraus, während Luxus
weitererzählte.
»Ich ging nach Hause, sprach ein letztes Mal mit meinem Arzt und ließ dann alles hinter mir. Mit ein paar Euros und meinem Ausweis bin ich losgewandert. Manchmal habe ich auf einer Parkbank geschlafen. Manchmal hat mich ein gütiger Mensch aufgenommen. Ich wusste nicht, wohin meine Reise ging. Bis mich schließlich ein Hippiepärchen in seinem alten Bus bis nach Nepal mitgenommen hat. Was mich dort erwartete, hat alles verändert. Ich kam in einem Kloster unter und mit dem buddhistischen Glauben in Berührung. Die Idee der Reinkarnation und das Ausgleichen des Karmas, die absolute Ablehnung von Gewalt haben mich schwer beeindruckt. Ich lernte einen Mönch kennen, zerschnitt meinen Ausweis, gab meine alte Identität auf und wurde selbst Mönch. Ich erkannte, dass der wahre Luxus im Leben darin bestand, nichts zu besitzen.«
Lara hatte staunend zugehört. Das Lächeln auf seinem Gesicht war so zufrieden, dass sie ihm glaubte.
»Zwei Jahre verbrachte ich damit, zu meditieren. Es waren die besten zwei Jahre meines Lebens. Ich empfand keine Traurigkeit mehr. Keine Ungeduld. Aber die große Weisheit, auf die ich wartete, die ganz große Zufriedenheit, die mein Freund der Mönch empfand, stellte sich bei mir nicht ein. Dann, eines Nachts, hatte ich einen Traum. Ich sah meine alten Freunde vor mir. Deine Eltern, Konrad, Fred. Sie streckten ihre Hände nach mir aus. Dein Vater trat vor und gab mir eine Ohrfeige. Er rief: Wach auf! Du musst uns holen! Ich hatte geglaubt, dass ich meine alten Freunde zum Buddhismus bekehren und aus Deutschland holen sollte«, lachte Luxus. »Ich
wollte zurück. Meine alten Kontakte aktivieren und mir wieder Papiere besorgen. Ich wollte zurück ins Leben. Ich verabschiedete mich von den Mönchen, dankte ihnen für alles, was sie für mich getan hatten. Dann packte ich meine wenigen Sachen und machte mich auf den Weg. Zu Fuß ins nächste Dorf, von dort wollte ich den Bus in die nächste Stadt nehmen und einige Anrufe machen. Es kam anders. Als ich einen schmalen Weg über einem Abhang entlang ging, trat ich plötzlich ins Leere. Ich fand keinen Halt mehr und stürzte. Während ich fiel, verstand ich mit einem Mal alles.«
Lara hielt den Atem an. Luxus war so in seiner Erzählung versunken, dass er ihr vielleicht aus Versehen das große Geheimnis erzählte. Aber er stand auf und hielt ihr die Hand hin. »Dann war es auch schon vorbei. Komm. Es ist Zeit.«
»Moment!«, rief sie verwirrt. »Was hast du verstanden?« Sie ergriff seine Hand und ließ sich von ihm aufhelfen.
Er machte keine Anstalten, ihr zu antworten.
»Den Sinn des Lebens? Warum wir hier sind und so weiter? Sag schon! Ich erzähl es auch nicht weiter.«
»Ich könnte es dir erzählen. Aber es gehört zu den Dingen, die man selbst erfahren, die man mit eigenen Augen sehen muss. Sonst glaubt man sie nicht.« Er sah hinter sich. »Es ist jetzt an der Zeit. Du weißt, dass es sieben Länder gibt, die zusammengehören. Ich bin derjenige, der alle abholt. Komm mit.«
Auf wackeligen Beinen folgte sie ihm zu dem kleinen Gebäude. Zu ihrer Verwunderung schwebte das Mühlrad ihm hinterher.
Da erkannte Lara das Haus.
Es war das Haus von Jo und Karin.