Der Muffin
Lara fand sich in einer engen, vollgestellten Wohnung wieder. Schränke türmten sich bis an die Decke und verschluckten alles Tageslicht, das von außen eindringen wollte. Sie folgte Luxus, der erneut von dem sich drehenden Mühlrad verfolgt wurde, benommen in ein Zimmer. Das alles ging ihr viel zu schnell. Warum hatte sie nicht mit Mila reden können? Styx konnte zwischen Totenreich und Leben hin und her wechseln. Ihr Name war also alles andere als ein Zufall. Lara hatte das Gefühl, dass ihr Kopf zu voll war mit Informationen und zu vielen offenen Fragen. Der Tod ihres Vaters fühlte sich wie ein heißes Messer in ihrer Brust an. Sie wollte Luxus bitten, sie zurückzubringen. Aber der starrte gebannt auf eine Tür. Lara sah sich um.
Das Zimmer war kaum begehbar. Überall standen Kartons, volle Mülltüten lagen herum, zwischen den einzelnen Gegenständen krabbelte es verdächtig.
Sie hatte die Wohnungen von Messies im Fernsehen gesehen, aber nie geglaubt, dass ein Mensch tatsächlich so leben konnte. Doch als ihr ein Tablett und dessen Inhalt auffielen, ahnte sie plötzlich, bei wem sie waren.
Auf dem Tablett lagen säuberlich nebeneinander verteilt sieben Muffins. Sie waren bei Frau Meier!
Die Frau Meier, die immer Sauberkeit predigte und allen damit auf die Nerven ging. Lara war mit einem Schlag klar, warum man nie zu ihr reingelassen wurde. Der Gestank im Erdgeschoss des Hauses kam also aus ihrer Wohnung
!
»Ich hab dir doch gesagt, sie kann nicht loslassen.« Er lachte. Wie konnte er in dieser Situation lachen?
»Warum kannst du zu all diesen Menschen gehen? Und was machen wir hier?«
»Ich sehe immer mal nach ihnen. Und wenn es so weit ist, hole ich sie ab.«
»Das heißt, du bist öfter hier gewesen? Und hast mich auch besucht?«
»Ich habe deinen Vater besucht. Und dabei ab und zu einen Blick auf dich geworfen«, erklärte Luxus entschuldigend. »Ich bin immer zu den Menschen gegangen, die zu den Sieben gehören. Aber ich entscheide nicht, wann ich wohin gehe. Das entscheidet allein die unsichtbare Kraft, die auch das Auge und dich mit Hilfe des Schimmers lenkt. Der Trick an der Sache ist, dieser Kraft blind zu vertrauen. Was sie tut, ergibt immer einen Sinn. Auch wenn er uns nicht ersichtlich scheint.« Er sah ihr fest in die Augen. »Das darfst du nie vergessen, Lara. Auch wenn dir im Moment alles unüberwindlich erscheint.«
Sie wich seinem Blick aus. Was sollte der Tod ihres Vaters für einen Sinn ergeben?
»Jetzt bin ich entweder hier, um Frau Meier zu besuchen oder um sie abzuholen. Das war der Grund, warum ich diesen Traum hatte. Ich musste sterben, um meiner Aufgabe nachzukommen.«
Lara erinnerte sich an Konrads Worte. Er hatte erzählt, jemanden wiedergetroffen zu haben. Im Moment seines Todes. Er hatte von Luxus gesprochen.
Dieser sah auf. »Sie kommt.« Er wandte sich dem Schatten zu, der ins Zimmer fiel
.
Frau Meier trat ein.
Sie kletterte über die Müllberge, bis sie das Tablett mit den Muffins erreicht hatte. Sie machte sich nicht einmal die Mühe, sich zu setzen, bevor sie den ersten Muffin verschlang.
Einer nach dem anderen verschwand in ihrem Mund.
Als sie von dem Letzten der sieben einen großen Bissen nahm, hielt sie plötzlich angeekelt inne. Ihr Blick war auf den Boden gerichtet, oder wie auch immer man den mit Dreck belegten Untergrund nennen wollte, auf dem sie stand.
Eine Kakerlake krabbelte auf ihren Fuß. Sie hob den Fuß, um das Tier abzuschütteln. Sie wollte schreien, blieb jedoch mit aufgerissenem Mund stehen. Das Tablett fiel ihr aus der Hand, die an ihren Hals wanderte.
Der letzte Bissen! Er steckte fest!
»Sie erstickt!«, rief Lara erschrocken. »Tu doch was!«
Doch Luxus tat nichts. Seelenruhig sah er dabei zu, wie Frau Meier in den Dreck fiel, blau anlief und ihr Leben aushauchte.
Wie gelähmt starrte Lara auf die Leiche. Die Masse von Frau Meiers Körper wirkte nun noch monströser. Als hätte sie im letzten Augenblick ihres Lebens noch einmal schnell zwei Kilo zugenommen.
Verzweifelt sah Lara Luxus an. »Warum tun wir nichts? Es ist nicht okay, die Leute einfach so sterben zu lassen! Es ist überhaupt nicht okay, zu sterben!«
Luxus ignorierte sie und kniete sich neben Frau Meier. Er schob den Ärmel ihres Kleides hoch und zwickte sie in den Oberarm.
Lara wollte schon protestieren,
doch dann sah sie, wie Frau Meier aufstand. Gleichzeitig blieb ihr Körper liegen. Lara vergaß ihre Wut und betrachtete fasziniert das Spektakel. Frau Meier wirkte verwirrt. Sie war als Geist genauso dick wie zu Lebzeiten. Sie wandte sich an Luxus, der sie angrinste.
»Sie?«, fragte Frau Meier verblüfft.
Er antwortete nicht und wies stattdessen auf das weiße Fenster, das neben ihr erschienen war. Es öffnete sich.
Das Mühlrad drehte sich nur noch langsam.
Frau Meier und Luxus wurden von einem Sog erfasst.
Frau Meier erkannte Lara und wirkte überrascht, während Luxus Lara zuzwinkerte.
»Ich muss jetzt gehen. Aber du weißt, was zu tun ist! Vertrau der Kraft!«
Mit diesen Worten wurden er und Frau Meier von dem Fenster verschluckt.
Atemlos stand Lara neben dem Berg von Frau Meiers Leiche. Das Rad drehte sich lautlos und langsam. Lara schnappte nach Luft. Er hatte sie einfach allein gelassen! Sie wusste überhaupt nicht, was zu tun war. Sie hatte keine Ahnung. Sie sollte der Kraft vertrauen? Tolle Idee. Eine Kraft, die ihr erst beide Eltern genommen und sie dann ins Totenreich katapultiert hatte. Gar nichts würde sie vertrauen. Und sie würde erst recht nicht irgendetwas machen. Es ergab doch sowieso keinen Sinn. Wie sollte sie jemals Timo finden? Warum traf sie alle möglichen Leute, aber nicht ihren Vater? Oder ihre Mutter?
Lara spürte, wie die Wut in ihr hochstieg. Sie war so wütend auf ihren Vater, der sie und sich selbst in diese
Situation gebracht hatte. Warum war er nicht zufrieden gewesen? Mit einem Leben mit ihr? Warum hatte er ihre Mutter nicht loslassen können? Warum war er nicht für sie dagewesen?
Am liebsten hätte sie die ganze Wohnung verwüstet. Man hätte es bei dem Chaos nicht einmal bemerkt. Aber sie konnte die Sachen ja nicht anfassen! Außer dem Mühlrad ...
Trotzig starrte Lara auf das Rad. Sie würde einfach abwarten. Sie würde gar nichts mehr tun. Sollte die Kraft doch sehen, was sie dann mit ihr anstellte. Sie hatte kein Interesse mehr daran, zu kämpfen. Wofür denn? Ein Leben ohne Eltern? Zu wem würde sie gehen? Zu einem Onkel und einer Tante, die sie nicht kannte? Wenn sie denn überhaupt jemals dorthin zurückfand.
Lara gab auf. Sie setzte sich auf den Boden und beobachtete eine Kakerlake, die sich langsam und behäbig auf den Weg zu Frau Meiers Körper machte. Ansonsten geschah nichts. Von wegen, eine unsichtbare Kraft war hier am Werk. Lara fühlte nichts. Was ihr nur den Beweis dafür gab, dass nichts Göttliches um sie herum war. Sondern nur irgendwelche Leute, die ständig verschwanden.
Die Kakerlake hatte den riesigen Körper erreicht und versuchte, ihn zu erklimmen. Mit ihren kleinen Beinchen krabbelte sie an Frau Meiers Schürze hoch. Lara konnte erkennen, welche Anstrengung es dem kleinen Tierchen abverlangte. Aber es gab nicht auf. Es krabbelte langsam immer weiter, bis es oben angekommen war und sich nun über die Muffinreste auf Frau Meiers Schürze
hermachte.
Lara wandte den Blick ab. Wenn sie aufgab, was würde dann mit Timo passieren? Hatte Konrad recht, und es war noch nicht zu spät? Wenn ja, dann hatte Lara doch zumindest die Pflicht, alles zu geben, um Timo wieder zurückzubringen.
Und was war mit Ayse? Sie war in den Schwarzwald gefahren, um sie zu suchen. Sie glaubte daran, dass es für Lara noch eine Chance gab. Eine geringe zwar. Aber sie würde nicht ruhen können, wenn sie nicht alles versucht hatte. Sie konnte ihren Vater finden. Und ihre Mutter. Sie konnte sie um Hilfe bitten. Um Timo zu retten. Das war sie ihm schuldig.
Lara starrte auf das Rad, das mittlerweile fast zum Stillstand gekommen war. Wenn es wirklich eine unsichtbare Kraft gab, dann könnte Lara dieser zumindest eine Chance geben.
Noch ehe das Rad stillstand, hob Lara die Hand und gab ihm einen erneuten Stoß.