Ein aufgeregtes Licht
Sie fand sich schwebend in der Dunkelheit wieder. Sie war überrascht, offenbar wieder in einem Land gelandet zu sein. Schließlich reiste sie nicht mehr in Begleitung des Auges. Das Rad hatte sie hergebracht.
Angestrengt starrte sie in die Dunkelheit, konnte aber kein Licht ausmachen. Stille umgab sie. Lara vermisste die Stimme des Auges in ihrem Inneren. In dessen Gegenwart hatte sie sich nie allein gefühlt.
Sie konzentrierte sich und versuchte, das Gefühl in ihrer Erinnerung wachzurufen, das sie hatte, wenn sie die Stimme hörte.
»Hallo.« Noch war es nur ein Flüstern.
Lara lächelte.
»Zottel?«
Sie schreckte auf, weil die Stimme so fordernd wurde.
»Jetzt rede endlich!«
»Auge? Du bist da?«
»Ich bin immer da.«
Sie strahlte vor Freude in die Dunkelheit. Wie gern hätte sie das Auge umarmt!
»Aber wo warst du? Warum warst du nicht bei Luxus und mir?«
»Ich war da.«
Lara schwieg verblüfft.
»Ich habe dich gesehen. Die ganze Zeit.«
»Und warum hast du nichts gesagt?«
»Du warst beschäftigt«, erklärte das Auge gelassen.
»Ich hätte deinen Beistand gut gebrauchen können!« Ihre Freude schlug rasch in Wut um. Sie hatte sich
so verloren gefühlt. Hatte sich fast dazu entschieden, ihr Dasein als Geist auf der Erde zu fristen. Dabei war das Auge die ganze Zeit bei ihr gewesen. »Warum habe ich dich nicht gesehen?«
»Du hättest dich nur umdrehen müssen.« Das Auge klang nun verstimmt.
»Wenn ich dir das nächste Mal den Rücken zudrehe, dann ruf mich doch einfach.«
»Na gut.«
Lara zögerte. »Ist schön, dass du da bist«, sagte sie dann.
»Ja, nicht wahr?«, erwiderte das Auge.
Sie schmunzelte. »Hast du die Flasche?«, fragte sie leise. Irgendwie fühlte sie sich sicherer, wenn sie den Schimmer in der Tasche hatte, der sie mit dem Auge verband und ihr garantierte, dass sie in keinem Land stecken bleiben konnte.
Kaum ausgesprochen, spürte sie die vertraute Form der Flasche in ihren Händen.
»Ich habe sie dir abgenommen, als du dich in dieses scheußliche Gewächs verwandelt hast«, erklärte das Auge.
»Ich war ein ziemlich gesundes Gemüse«, konterte Lara.
Da schoss ein helles Licht aus der Dunkelheit auf sie zu. Schon erwartete Lara eine Bühne oder ähnliches, die ihr Aufschluss darüber geben würde, in wessen Land sie nun gelandet war. Hoffentlich bei ihrem Vater, dachte sie. Er könnte ihr helfen und sie ... könnte ihn noch einmal sehen. Doch das Licht hing wie ein strahlender Wirbel direkt vor ihr in der Dunkelheit. Es war, als würde
es sie ansehen. Als würde ihr Anblick es in ziemliche Aufregung versetzen, denn es begann, auf und ab zu hüpfen.
Lara fragte sich, wo das Auge war und drehte sich seiner letzten Aufforderung gehorchend um.
Und da war es. Das Auge. Sie war sprachlos. Es schimmerte in goldenen und silbernen Farbtönen. Kein Ausdruck der Verwirrung, kein blasses Grau mehr. Es wirkte nicht mehr verloren, sondern erhaben.
»Wow. Du hast Farbe bekommen.«
Doch das Auge blickte an Lara vorbei. Es schien beunruhigt.
»Das Licht erkennt dich«, stellte es fest.
Also war sie vielleicht wirklich bei ihrem Vater? Sie wandte sich wieder dem Licht zu, das nun vor ihr nervös nach rechts und nach links schoss.
»Das ist nicht gut«, fand das Auge.
Das Licht schoss zurück in die Dunkelheit.
Lara fiel und landete auf sandigem Boden.
Die Sonne schien, Lara hörte Vögel zwitschern. Doch als sie sich aufrichten wollte, hatte sie das Gefühl, in einem Käfig zu sitzen.
Um sie herum waren Gitterstäbe, durch die sie nur hindurchgehen konnte, wenn sie sich sehr schmal machte. Beim genaueren Hinsehen erkannte sie, dass es jedoch keine Gitterstäbe waren, sondern Bambusstäbe. Sie war mitten in einem Bambuswald gelandet. Die Stämme ragten neben ihr hoch in den Himmel, sodass Lara kaum ihr Ende ausmachen konnte
.
»Was ist denn jetzt passiert?«, fragte sie in den Wald hinein. »Warum haben wir diesmal keine Bühnenshow bekommen?«
»Ich fürchte, das ist deine Schuld«, erklang die Stimme des Auges in ihrem Inneren.
»Meine Schuld?« Sie war betroffen.
»Das Licht hat dich erkannt. Und aus irgendeinem Grund wollte es sich mir nicht zeigen.«
»Und was bedeutet das?«
»Das würde bedeuten, dass das Innere sich weigert, weiterzuziehen. Weil es dich gesehen hat.«
Lara spürte das Kribbeln einer Ahnung in sich, als sich ihr ein riesiger Vogel auf die Schulter setzte.
Erschrocken zuckte sie zusammen, konnte aber aufgrund der eng zusammen stehenden Bambusstäbe nicht fliehen.
»Bist du das?«, fragte Lara schnell.
»Willst du etwa schon wieder behaupten, dass ich mich verwandelt habe?«, fragte das Auge schnippisch.
Warum hatte es nur so schlechte Laune?
Der Vogel hüpfte von ihrer Schulter auf den Boden. Es war ein Greifvogel. Ein greller, orangener Schnabel drang aus dem kleinen, braun gefiederten Kopf, der auf einem mächtigen, mit großen Flügeln versehenen Körper saß. Ein Adler. Kleine, dunkle Augen funkelten Lara mahnend an.
»Du wirst schön in meiner Nähe bleiben«, drohte das Auge.
»Du bist wunderschön.«
Da hörte sie eine Stimme hinter sich.
»Lara?
«
Obwohl sie diese Stimme seit so vielen Jahren nicht gehört und ihren Klang sogar vergessen hatte, erkannte Lara sie sofort. Sie drehte sich um und sah nach zwölf Jahren das erste Mal wieder ihrer Mutter ins Gesicht.