Land Fünf
Mutterland
Sie verharrte regungslos. Genau wie Maja, deren Augen vor Staunen weit aufgerissen waren. Sie trug ein ledernes Top und eine dazu passende Hose. Ihre Haut leuchtete golden, und sie war barfuß. Das Bild einer freien Kriegerin, die jedoch eingesperrt war zwischen den Stäben des Waldes.
»Du bist es wirklich«, flüsterte Maja. Langsam kam sie auf Lara zu. »Ich habe dich vorhin wahrgenommen, aber ich dachte, es ist unmöglich. Wie sollte meine Tochter hierherkommen?«
»Du hast mich wahrgenommen?«, flüsterte Lara, die sich wie in einem Traum vorkam.
»Ja. Ich kann es schwer beschreiben. Ich wollte mich zeigen, aber dann ... habe ich dich wahrgenommen und wollte dich sehen.«
Laras Herz klopfte so heftig, dass sie vermutete, man könnte es in diesem Urwald für eine Trommel halten. Maja ging einen Schritt auf sie zu und hob die Hand, um ihrer Tochter über die Wange zu streichen.
Die Berührung brachte alle Dämme zum Einsturz. Lara warf sich in die Arme ihrer Mutter und weinte. Die Tränen schwemmten den ganzen Kummer heraus. Über ihren Vater, Timo, diese ganze Reise und vor allem über all die Jahre, die sie ihre Mutter entbehrt hatte; nicht gewusst hatte, wie es sich anfühlte, eine Mutter zu haben, die einen an der Hand nimmt und einem das Leben zeigt. Eine Mutter, die im rechten Moment das Richtige sagt. Eine Mutter, mit der man sich streiten,
gegen die man rebellieren, aber bei der man auch Zuflucht suchen konnte, wenn man vom Leben eine Auszeit brauchte.
So zumindest hatte Ayse ihr Verhältnis zu ihrer Mutter beschrieben.
Lara klammerte sich an Maja fest, die ihre Umarmung ebenso fest erwiderte.
Da ertönte ein Räuspern hinter ihr. »Geh zur Seite«, befahl das Auge.
Lara löste sich aus der Umarmung und stellte sich schützend vor Maja. »Mach die Augen zu!«, rief sie.
Maja stutzte. »Was?«
»Frag nicht. Mach die Augen zu!«
»Lara, was wird das?« Die Stimme des Auges klang drohend, während der große Vogel seine Flügel spreizen wollte.
Erst jetzt erkannte sie die Ausmaße des Tiers. Die Flügel waren jeweils gut anderthalb Meter lang.
»Das Innere muss mich ansehen.«
»Ich weiß. Und dann taucht ein Fenster auf und verschluckt sie. Und ich bleibe wieder allein zurück. Aber diesmal nicht!«
Sie beobachtete, wie der Vogel fliegen wollte, aber seine Flügel aufgrund des eng zusammenstehenden Bambus nicht spreizen konnte. Ihr kam eine Idee. Sie packte den Vogel und drückte seine Flügel zusammen.
»Nicht anfassen!«, rief das Auge und brachte Lara mit seinem Willen fast dazu, den Griff wieder zu lockern.
Doch die Tatsache, dass ihre Mutter direkt hinter ihr stand, gab Laras eigenem Willen eine ungeahnte Kraft. Alles, was sie wollte, war ein bisschen Zeit. Zeit mit
ihrer Mutter. Ein bisschen nachholen von dem, was sie aneinander verpasst hatten.
Sie schlängelte sich durch die Bambusstäbe, den sich windenden Vogel in den Händen. »Warte auf mich!«, rief sie ihrer Mutter zu.
»Loslassen!«, rief das Auge.
Doch Lara ging weiter. Sie hatte keine Ahnung, was sie mit dem Vogel tun würde, als sie an einen Abgrund kam, der ihren Weg plötzlich beendete.
»Bring mich zurück! Du darfst es nicht aufhalten!«, rief das Auge. »Alles muss seine Ordnung haben!«
»Nichts hat seine Ordnung.«
Lara entdeckte einen Bambusstamm, der vom Grund des Abgrunds zu ihr emporwuchs. Keine Blätter wuchsen mehr an diesem Stamm. Er war längst abgestorben, aber noch stabil. Die Öffnung am hohlen Stamm war breit genug für den schlanken Körper des Adlers.
»Denk nicht mal dran!«, rief das Auge.
Doch Lara hob den Vogel über den hohlen Stamm und stopfte ihn hinein. Der Vogel steckte fest. Nur sein Schnabel schaute noch heraus.
Als sie den Schrei des Auges in ihrem Inneren hörte, verspürte sie den Impuls, ihre Tat sofort wieder rückgängig zu machen. Doch da legte sich eine Hand auf ihre Schulter.
»Was tust du da?«, fragte Maja, die ihr gefolgt war.
Lara drehte sich nicht um. Sie konnte sich nicht rühren.
So fühlte sich also die Berührung einer Mutter an.
»Ich habe uns beiden Zeit verschafft«, sagte sie entschlossen
.
Lara begleitete ihre Mutter auf eine Anhöhe. Eine Höhle im Berg war Majas Zuhause. Lara hatte allerdings kein Auge für die Umgebung. Nur aus den Augenwinkeln heraus nahm sie wahr, dass der Bambuswald sich bis zum Horizont erstreckte. Die Stimme des Auges in ihrem Inneren wurde immer leiser, je weiter sie sich von dessen hölzernem Gefängnis entfernte.
Maja kniete sich vor der Höhle an eine Feuerstelle und machte mit ein paar Steinen Feuer. Ihre Handlungen waren routiniert. Dann setzte sie einen Topf voll Wasser auf zwei Steine, zwischen denen die Flammen hervortraten. Sie tat einige Kräuter hinein und wartete, bis das Aroma des Tees sich verteilte.
Lara verfolgte jede ihrer Bewegungen. Sie sah die langen, schlanken Finger, deren Skelett bis vor Kurzem alles gewesen war, was sie von ihrer Mutter kannte. Dann betrachtete sie die grünen Augen, die von kleinen Falten umgeben waren. Die langen, blonden Haare waren am Hinterkopf verknotet.
Maja setzte sich und betrachtete ihre Tochter ebenso. Beide schwiegen einen Moment lang. Die Ähnlichkeit zwischen ihnen war unverkennbar.
Lara zog die Elfe im Halbmond aus der Tasche.
Als sie den Anhänger sah, lächelte Maja. »Gefällt sie dir?«
»Gehört sie dir?«
Maja schüttelte den Kopf. »Sie gehört Karin. Wir hatten sie gemeinsam auf einem Weihnachtsmarkt entdeckt. Karin hat die Elfe gesehen und mir erklärt, wie schrecklich sie es fand, erwachsen zu werden. Sie vermisste die kleinen Wunder, die sie als Kind immer zu
sehen geglaubt hatte. Und fand es furchtbar, die Welt nur noch mit der Vernunft zu betrachten. Aber weil sie und Jo keine Kinder bekamen, hat sie den Glauben in Wunder und in das Gute zunehmend verloren. Ich fand die Vorstellung, dass Karin nicht mehr an Wunder glaubt, furchtbar. Deshalb habe ich die Elfe für sie gekauft. Ich wollte sie ihr zum Geburtstag schenken. Aber ich kam nicht mehr dazu.«
»Deshalb hat mich dieser Gegenstand nicht zu dir geführt! Er gehört dir eigentlich nicht.«
Maja sah Lara fragend an. »Wieso sollte dich die Elfe zu mir führen?«
Lara erzählte. Von ihrem Aufbruch in den Schwarzwald und dem Programm. Und schließlich von allem, was sie bereits über das Totenreich herausgefunden hatte: Immer sieben Länder gehörten laut Luxus zusammen, der zwar das große Geheimnis kannte, es aber nicht verraten wollte. Seine Aufgabe war es jedenfalls, die anderen abzuholen.
Maja hatte bei dieser Erzählung genickt. Auch sie hatte Luxus im Moment ihres Todes gesehen. Und schien zu den wenigen zu gehören, die auch verstanden hatten, dass es mit ihrem Leben vorbei war. Aber sobald sie ihr eigenes Land erschaffen hatte, war Luxus fort gewesen.
Sie berichtete auch von dem Auge. Davon, dass das Auge sie alle erlöste und sie dann weiterzogen. Wohin, das wusste sie nicht.
Lara konnte zu den Sieben Luxus, Fred, Dorothea und Maja zählen. Luxus hatte auch Frau Meier abgeholt, was darauf schließen ließ, dass sie ebenfalls
dazu gehörte. Auch wenn Maja noch nie von ihr gehört hatte.
Lara ließ aus, dass sie nur eine bestimmte Zeit in einem Land bleiben konnte, ehe sie eins damit wurde, was laut Luxus ihr Todesurteil sein würde.
Sie ließ auch aus, Timos Lebenszeit aufs Spiel zu setzen, indem sie das Auge in Form des Adlers in den hohlen Bambus gesteckt hatte. Und damit die Weiterreise und die Chance, Timo zu finden, auf unbestimmte Zeit verschoben hatte.
Als Letztes berichtete sie, dass Luxus auch Peter abgeholt hatte.
Maja musterte ihre Tochter ernst. »Dein Vater hätte dieses Programm niemals erschaffen dürfen.« Aufgewühlt stand sie auf.
»Das habe ich auch gedacht. Bis ich nun bei dir gelandet bin.«
Maja drehte sich um. Eine tiefe Sorgenfalte zeichnete sich zwischen ihren Augen ab. Dann zog sie einen Ring aus ihrer Hosentasche. Es war der Ehering, den Peter vom Friedhof hatte mitgehen lassen. »Du weißt also, dass dein Vater hier gewesen ist.«
Lara starrte auf den Ehering. »Er wurde eins mit deinem Land, richtig?«
Maja nickte. »Peter war so glücklich, dass er mich gefunden hatte. Er wollte Zeit mit mir verbringen, aber ich habe ihn dazu angetrieben, einen Weg zurück zu finden. Zu dir! Er hat es versucht. Und ich hatte das Gefühl, er war auf eine Lösung gekommen. Aber dann ...« Sie blickte auf ihre Hände und betrachtete dann die von Lara. »Er hat sich verwandelt. Es fing ganz langsam
an. Seine Hände, seine Finger, sie ... haben sich in Bambus verwandelt. Eines Tages kam er nicht zurück zur Höhle, und ich habe ihn gesucht. Er konnte nicht mehr laufen. Seine Füße hatten sich mit dem Boden verwurzelt und ...« Mit Tränen in den Augen sah Maja Lara an. »Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie er sich in Bambus verwandelt hat. Am Ende haben nur noch seine Augen herausgeblickt. Aber Peter ... war verschwunden.«
Lara verbarg das Gesicht zwischen den Knien und atmete tief durch. Ihr Vater hatte seine große Liebe wiedergefunden. Um ein weiteres Mal von ihr getrennt zu werden.
Maja sah Lara ernst an. »Dir blüht das gleiche, richtig? Wenn du hierbleibst? Dann wirst du sterben.«
Lara nickte. »Aber die Verwandlung hat noch nicht eingesetzt«, rief sie. »Wir haben noch etwas Zeit.«
Maja zögerte. »Ich werde also von dem Gefühl, das ich hier habe, erlöst, wenn ich in das Auge blicke?«
»So funktioniert es wohl«, gestand Lara.
»Dann ist das Auge ... das Auge Gottes? Das uns mit seiner Gnade verzeiht, sodass wir uns verzeihen können?«
Lara zuckte mit den Schultern. »Ich bin mir nicht so sicher, dass dieses Auge das Auge Gottes ist. Mal angenommen, es gibt so was wie einen Gott. Es ist vergesslich und ziemlich schnell beleidigt. Wenn das Gott ist, sind wir alle geliefert.«
»Hast du mal die Bibel gelesen? Wie schnell Gott beleidigt ist und ganze Völker vernichtet?«
»Aber er hat nie vergessen, wer er ist, oder?«, hakte Lara nach.
»Nein«, bestätigte Maja. »Du glaubst also nicht an Gott?
«
Lara schüttelte den Kopf. »Ich kann nichts glauben, was ich nie gesehen habe.«
Maja lächelte und schwieg dazu. Dann stand sie auf. »Wir müssen das Auge befreien. Jetzt. Wenn es die einzige Möglichkeit ist, dass du weiterkommst, dann müssen wir das tun.«
Aber wie sollte Lara in diesem Augenblick gehen? Ihre Mutter war tot, aber sie stand leibhaftig vor ihr. Es gab so viel zu erzählen.
»Ich verwandle mich noch nicht. Wenn die Verwandlung einsetzt, habe ich noch genug Zeit. Dann gehen wir sofort zu dem Bambusstamm und holen das Auge heraus. Aber bis dahin ... Bitte! Schick mich nicht weg!« Bei diesen Worten klammerte sie sich an ihre Mutter, die ihr tröstend über den Rücken strich.
»Wie könnte ich das«, murmelte sie.
Tage und Nächte zogen vorbei. Anders als in Luxus‘ Land gab es an diesem Ort keine Jahreszeiten, dafür aber Tag und Nacht. Erstaunt stellte Lara fest, dass sie sogar schlafen konnte. Die Temperatur blieb immer dieselbe. Es gab nicht viel zu tun, außer ab und zu einen Spaziergang durch den Wald zu machen. Doch aufgrund der engen Stäbe kamen sie immer nur langsam voran. Hunger oder Durst kannten sie nicht. Das Ritual des Teetrinkens war reines Vergnügen und keine Notwendigkeit.
Maja löcherte Lara mit Fragen nach ihrem Leben. Lara erzählte ihr von Ayse, von Karin und Jo. Von ihren Träumen und ihrer Verwirrung, was ihren eigenen Glauben
anging.
»Was ist mit dir?«, fragte Lara. »Du warst Jüdin und wurdest katholisch. Ist das nicht verwirrend?«
Maja lächelte traurig. »Ich habe nie aufgehört, Jüdin zu sein. In meinem Inneren. Die Hochzeit mit deinem Vater, der Wechsel zum katholischen Glauben, all das waren Versuche, meiner Mutter zu entkommen.«
»Eure Hochzeit war ein Versuch, Oma zu entkommen?« Lara konnte die Enttäuschung in ihrer Stimme nicht verbergen. Sie hätte sich mehr die romantische Variante gewünscht. »War es nicht schlimm für dich, von Oma getrennt zu sein?«
»Doch. Natürlich«, gestand Maja, »aber siehst du all diese Bambusstäbe? So habe ich mich ein Leben lang gefühlt. Meine ganze Kindheit ... meine Jugend ... Ich hatte immer das Gefühl, eingesperrt zu sein. Eingesperrt im Glauben meiner Mutter, in all ihren jüdischen Geboten und Verboten. Jeden Tag musste ich ihr ein Verbot und ein Gebot aufsagen. Es gibt 365 Verbote und 285 Gebote. Irgendwann war ich verwirrt. Ich wusste nicht mehr, was richtig und was falsch ist. Und die nichtjüdischen Kinder um mich herum scherten sich nicht um diese Verbote und Gebote. Manche glaubten nicht mal an Gott. Wie du. Sie kamen mir so frei vor, verstehst du? Ich habe nie aufgehört, an Gott zu glauben. Aber das war nicht meine Rettung. Sondern nur ein weiterer Gitterstab. Als wir dann von Wien in den Schwarzwald zogen und ich die Jungs kennenlernte ...« Auf Majas Gesicht legte sich ein liebevolles Lächeln. »Bei ihnen hatte ich das Gefühl, frei zu sein. Sie scherten sich nicht darum, was ich glaubte. Und noch weniger interessierte es sie, was ich alles nicht tun durfte.
Ich roch die Freiheit, und ich wollte mehr davon. Ich kam mit deinem Vater zusammen, und wir flogen vor Dorothea auf.«
»Wegen Fred.«
Maja nickte. »Das Lied, das er komponiert hat, ich wusste, dass er es nicht für uns, sondern für Peter geschrieben hat.«
Lara schwieg.
»Mutter wollte mich nach Jerusalem bringen. Aber ich konnte einfach nicht weg. Also habe ich deinen Vater geheiratet. Das war die einzige Möglichkeit, als Jüdin den Glauben abzulegen. Offiziell wurde ich katholisch, und meine Mutter hat nie wieder mit mir gesprochen. Das Letzte, was sie mir sagte, war: Als meine Tochter wirst du immer Jüdin sein.«
Mit Gänsehaut erinnerte sich Lara an die Zettel in der Klagemauer.
»Und weißt du was? Sie hatte recht. Ich betete auf die jüdische Art, ich sagte immer noch die Gebote und Verbote auf. Jeden Tag. Aber das hätte ich vor ihr niemals zugeben können.« Maja schüttelte den Kopf. »Jetzt wünschte ich, ich könnte es ihr sagen.«
Lara zögerte. Dann lächelte sie. »Sie hat nie aufgehört, dich zu lieben«, erklärte sie ihrer Mutter.
Maja lächelte glücklich. »Ich weiß. Und ich habe nie aufgehört, sie zu lieben. Immer, wenn ich an ihrer Liebe zweifelte, erinnerte ich mich an einen ganz besonderen Tag. Es war ganz am Anfang, als wir in den Schwarzwald gezogen waren. Wir kannten noch niemanden, außer Fred natürlich. Und wir haben eine Fahrradtour in die Rheinebene gemacht.
Wir hatten uns verfahren, und ich hatte Hunger. Es war im Spätsommer, und so haben wir die Räder an einer Wiese abgestellt. Wir klauten uns Äpfel und Walnüsse und aßen sie gemeinsam. Ich werde den Geschmack nie vergessen. Das war der Tag, der nur uns beiden gehört hat. Keine Religion, die Mutter die Laune verdorben hat. Kein Streit zwischen uns, weil ich die Unterschiede zwischen Juden und Christen in Frage stellte.« Maja schüttelte den Kopf. »Natürlich blieb es nicht dabei. Mutter wurde immer fanatischer. Ich wusste, dass ich meine eigene Wahrheit leben musste. Wenn ich nicht in einem Gefängnis stecken wollte. Also bin ich weg von ihr. Aber dieser Tag! Unser gemeinsamer Tag! Der hat mich immer daran erinnert, dass wir uns lieben. Und dass diese Liebe irgendwann über allem anderen stehen wird.«
Lara sah ihre Mutter nachdenklich an. Dann betrachtete sie den Bambuswald. War es richtig von ihr, ihre Mutter in diesem Gefühl zu lassen? Wenn sie doch wusste, dass sie ihrem Gefängnis entkommen konnte, sobald sie das Auge sah?
Doch da nahm Maja Laras Hand, und gemeinsam gingen sie weiter.
»Was hat dir Peter über meinen Tod erzählt?«, fragte Maja irgendwann.
»Er hat nie darüber gesprochen«, antwortete Lara leise und war sich unsicher, ob sie den genauen Hergang hören wollte. Ihre Mutter kam ihr gerade sehr lebendig vor. Sie wollte nicht über den Tod reden.
Doch Maja schien es wichtig zu sein. »Ich habe deinen Vater geliebt, Lara. Aber er hat genau wie ich in
einem Gefängnis gelebt. Er hat seine Eltern sehr früh verloren, wusstest du das?«
Benommen schüttelte Lara den Kopf.
»Sie kamen bei einem Flugzeugabsturz ums Leben. Peter fand, dass es im eigenen Haus am sichersten war. Dort hatte er die Kontrolle. Er glaubte, dass ihm dort nichts passieren konnte. Nach seinem Studium hat er das Haus so gut wie nicht mehr verlassen. Ich dachte, ich drehe durch! Von mir verlangte er nämlich, dass ich es genauso mache. Besonders, nachdem du geboren warst. Er hatte ständig Angst, uns beide zu verlieren. Und er sollte recht behalten.« Sie sah Lara ernst an, die ihr gebannt lauschte. »Nach der Hochzeit erlebte ich das gleiche Gefängnis in meiner Ehe, das ich in meiner Jugend mit meiner Mutter erlebt hatte. Peter wollte mich nicht einmal mehr vor die Tür lassen. Ich fühlte mich eingesperrt. Und das konnte ich nicht ertragen.«
Maja schwieg eine Weile, und Lara wich ihrem Blick aus. Unsicher, ob sie das Folgende hören wollte.
»Ich wollte ihn verlassen, Lara. Ich wollte zu Konrad nach Berlin.«
Fassungslos sah Lara auf.
»Dich wollte ich mitnehmen!«, rief Maja schnell, als würde es das besser machen.
Lara stand auf. »Du wolltest Papa verlassen?«
»Ich hatte schon einen Koffer gepackt. Und ihn versteckt. Auf dem Straßenfest, als wir Konrad verabschiedet haben, wollte ich es Konrad sagen. Ich wusste, dass er mich liebt. Ich habe geglaubt, dass er meine Chance ist, endlich frei zu sein.«
Wütend ballte Lara
die Hände.
Doch Maja erzählte weiter. »Peter hat den Koffer gefunden. Er rief mich an, als ich auf dem Straßenfest war. Und er sagte, dass er dich behalten würde, wenn ich ihn verließe.«
Lara schluckte die Tränen der Wut hinunter. Sie wollte ihrer Mutter ihren Schmerz nicht zeigen.
»Ich bin sofort ins Auto und wollte dich holen. Aber auf dem Heimweg war ich so aufgeregt, dass ich den Laster übersah. Er hat mich frontal erwischt. Ich war sofort tot.«
Lara zitterte.
»Da hatte ich meine Freiheit«, fuhr Maja bitter fort. »Sieh dich um. Ich bin schon wieder in einem Gefängnis gelandet. Wahrscheinlich habe ich es nicht anders verdient.«
Lara sprang auf. »Wir waren eine Familie. Und du hast alles kaputtgemacht! Ich hätte mit dir aufwachsen können. Wir ... alle zusammen. Hättest du Papa nicht helfen können? Dass er seine Angst überwindet?«
Maja kam auf sie zu. »Er wollte meine Hilfe nicht! Er wollte seine absurde Sicherheit.« Bittend schaute sie Lara an. »Ich kann es nicht rückgängig machen. Ich wollte frei sein. Und ich hätte alles dafür getan. Ich würde es nicht anders machen.«
Lara verlor den Kampf gegen die Tränen. All ihre Visionen von ihrer Mutter, von der Liebe zwischen ihren Eltern, all das, woran sie sich jahrelang festgehalten hatte, war mit einem Mal dahin.
»Ich wünschte, ich wäre dir nie begegnet!«, rief sie verzweifelt und
rannte durch den Wald davon.
Durch die Bambusstäbe bahnte sie sich ihren Weg. Doch je länger sie ging, desto anstrengender kam ihr der Marsch vor. Es war, als würden die Bäume in die Höhe schießen und als würde die Welt um sie herum immer größer werden. Lara schnaufte und fühlte sich einsam und verlassen. Irgendwann ließ sie sich einfach auf den Boden fallen.
Als sie Schritte hörte, war es Lara, als hätte sie geschlafen. Sie sah auf, der Wald kam ihr noch größer vor.
Maja kniete sich zu ihr. »Ich habe dich gesucht und ...« Erschrocken sah Maja ihre Tochter an.
»Was? Beginnt die Verwandlung?« Lara sah an sich herunter. Doch es waren keine Bambusblätter, die ihre Mutter so erschreckten. Verdutzt betrachtete Lara ihre Hände, die ihr winzig vorkamen. Verwirrt stand sie auf. Ihre Kleider hingen bis zum Boden. Ihre Haare waren kurz geschnitten, und ihre Füße steckten in viel zu großen Vans.
Sie war wieder zum Kind geworden.
Maja sah sie an, als hätte sie ein Wunder gesehen.
»So hast du ausgesehen, als ich dich das letzte Mal gesehen habe.« Sie nahm Lara in den Arm, die sich an sie klammerte.
Offenbar konnte die Tochter im Land der Mutter nicht sterben. Sie wurde wieder zum Kind.
Maja trug sie zur Höhle zurück, kochte ihr einen Tee und sang ihr ein Gute-Nacht-Lied vor. Trotz des Grolls, den Lara gerade noch auf ihre Mutter gespürt hatte, genoss sie es, bemuttert zu werden
.
Die Flasche in ihrer Hosentasche, die im Gegensatz zu Lara nicht geschrumpft war, hatte sie unter einen Stein gelegt. Sie hatte keine Verwendung mehr für sie. Sie würde bei ihrer Mutter bleiben. Nichts sollte sie wieder trennen.
Nicht einmal der Tod.