MagicMarc666
Es war schon dunkel. Cem lenkte den Wagen langsam die Schwarzwaldhochstraße entlang. Er lauschte gebannt dem Telefonat auf dem Beifahrersitz. Ayse diskutierte mit ihrer Mutter. Sie weinte. Und wie immer machten ihre Tränen Cem extrem nervös.
Der Besuch bei Jo und Karin hatte alles verändert.
Ayse hatte sich zunächst geweigert, mit ihrer Wunde in ein Krankenhaus zu gehen, weil sie nicht wollte, dass ihre Eltern erfuhren, wo sie war. Aber die Wunde hinter dem Ohr hatte immer wieder geblutet. Das hatte Cem ziemlich nervös gemacht, und schließlich hatte er sie überzeugt, zu Jo zu gehen. Der besaß immerhin eine Apotheke, konnte die Wunde verarzten, und vielleicht hatten sie Neuigkeiten über Lara. Wie sich herausgestellt hatte, wussten sie jedoch etwas über Laras Vater.
Ayse hatte ihrer Mutter gerade erzählt, dass die Polizei die Leiche von Laras Vater gefunden hatte. Ayse war seitdem völlig außer sich. Sie sagte es nicht, aber sie schien überzeugt davon, dass auch Lara nicht mehr zurückkommen würde.
Während sie sich parallel zum Telefonat die Tränen aus dem Gesicht wischte, mutmaßte Cem, dass Lara für Ayse wie eine Schwester war. Und er dachte an Sazan. Sie zu verlieren hatte bedeutet, einen Teil von sich selbst zu verlieren, den er nie wieder zurückbekommen würde. Er hatte einen Schlag gegen die Brust gespürt, als sein Vater mit vor Blut verschmierten Händen und vor Trauer schreiend nach Hause gekommen war. Cem hatte keine Sekunde lang an der Story seines Vaters gezweifelt. Sazan war extrem gewesen, seit sie auf die Welt gekommen war. Sie hatte jeden vereinnahmt, der sich ihr näherte und der ihr von Nutzen sein konnte. Niemand hatte Sazan so gekannt wie Cem. Und niemand hatte sie so geliebt. Das machte Geschwistersein doch aus. Dass man sich liebte. Ganz egal, wie unterschiedlich man war.
Timo hatte sich eingebildet, sie genauso zu lieben. Aber der hatte nur ihre Schönheit gesehen. Cem hatte ihre Abgründe gekannt. Und die waren tief. So tief, dass nicht einmal Sazan selbst hatte hineinblicken können. Ihre Freiheit hatte über allem gestanden, und jeder in ihrer Umgebung war einzig dafür da, ihr diese Freiheit zu verschaffen. Cem war klar gewesen, dass sie die Hochzeit niemals durchgezogen hätte. Dass sie sich deshalb vor einen Zug geschmissen hatte, war extrem – und genau deshalb hatte es zu ihr gepasst.
Cem hatte auf das Blut gesehen. Er hatte das Schreien seines Vaters gehört. Und das Weinen seiner Mutter. Und gerade, als all seine Wut aus ihm hatte herausbrechen wollen, war plötzlich überall Polizei gewesen. Und Timo, der extra dazugekommen war, um seinen Vater anzuklagen.
Ayse und Lara waren wie Schwestern. So viel hatte Cem kapiert. Weil er das Gefühl kannte. Timo war wie sein Bruder gewesen. Er hätte alles für ihn getan. Alles. Warum hatte er nicht mit Cem geredet? Warum war er sofort zu den Bullen gerannt? Wie hatte er ihn und seine Familie so verraten können?
Ab da hatte Cem nichts mehr gespürt. Nichts für Timo. Und nichts für Sazan. Keine Trauer. Keine Liebe. Es war einfach nur dumpf und taub in ihm gewesen. Nicht mal auf Sazans Beerdigung hatte er geweint. Er hatte einfach nur schnell wieder nach Hause gewollt. Vor seinen Rechner. In die Welt eintauchen, in der er Ordnung schaffen konnte.
Seit Ayse da war, kehrten seine Gefühle zurück. Die Taubheit löste sich auf. Aber mit den durchaus aufregenden Gefühlen, die er für das schönste Mädchen der Welt empfand, kam auch der Schmerz zurück. Als wäre ihm der Fuß erst eingeschlafen und kribbelte und schmerzte nun. So hatte Cem in der einen Sekunde das Bedürfnis, Ayse zu küssen, und in der nächsten wollte er sie am liebsten in einen Zug setzen und nie wiedersehen.
»Halt an«, sagte sie plötzlich auf Deutsch zu ihm. »Sie will mit dir sprechen.«
Die kurvige Straße, die den Schwarzwald hochführte, hatte immer wieder kleine Haltebuchten an der Seite, von denen man einen besonders schönen Blick hatte. Cem lenkte den Wagen in die nächste Lücke und fuhr sich nervös durchs Haar.
»Was will sie denn von mir?«, fragte er leise. Er antwortete auf Türkisch, was Ayse ein kleines Lächeln entlockte. Sie war noch viel hübscher, wenn sie lächelte.
»Sie will sichergehen, dass ich bei deiner Familie gut aufgehoben bin. Und dass wir beide nicht ... Du weißt schon.«
Cem guckte angestrengt auf das Lenkrad. Er nahm Ayse das Handy aus der Hand und begrüßte bemüht fröhlich deren Mutter.
Das Gespräch war kurz und bestand aus zahlreichen Anweisungen. Cem durfte Ayse nicht in Gefahr bringen, er durfte die Nacht nicht mit ihr in einem Zimmer verbringen, er sollte ihr einen Tee machen. Pfefferminz mit Zitrone. Das würde ihre Nerven beruhigen, bis Begüm höchstpersönlich eintreffen würde.
Sie würde herkommen?!
Ja, das würde sie. Der Nachtzug würde in einer Stunde starten, und Cem sollte am nächsten Morgen um acht am Bahnhof in Karlsruhe sein. Dann verlangte sie noch die Telefonnummer seiner Eltern, damit sie ihren Besuch auch mit ihnen abklären konnte.
Verblüfft legte Cem auf.
Und Ayse lachte. »Du solltest dein Gesicht sehen!«
»Sie kommt her.«
»Natürlich kommt sie her. Lara ist wie eine Tochter für sie.«
Cem wusste nicht, wie er heimlich an dem Programm weiterarbeiten sollte, wenn neben Karin nun auch noch Ayses Mutter herumgluckte. Aber als er Ayses Gesicht sah und erkannte, wie viel Mut sie daraus schöpfte, dass ihre Mutter sich gerade in den Nachtzug schwang, war ihm alles recht. Hauptsache, sie würde nicht mehr weinen.
Sie verpackte das Handy in der Tasche und sah ihn erwartungsvoll an. »Also. Wie weit ist es noch?«
Cem hatte nach dem Besuch in der Waldapotheke und den schlechten Nachrichten, die auch ihn verdammt nervös machten, den richtigen Zeitpunkt gesehen, Ayse sein kleines Geheimnis zu verraten: Styx war in seinem Besitz. Und möglicherweise hatte er durch MagicMarc666 einen Weg gefunden, den Eyecode zu knacken. Angeblich war er im Besitz eines Programms, das Cem helfen konnte.
Ayse hatte ihm daraufhin erst eine Ohrfeige erteilt und ihn dann umarmt, was jeglichen Schmerz augenblicklich weggewischt hatte. Dann hatte sie darauf bestanden, Cem zu MagicMarc666 zu begleiten.
Er wusste, wer sich hinter dem wenig originellen User-Namen verbarg. Timo und er hatten ihn nie leiden können. Besonders, seit Isabelle sich in ihn verknallt hatte. Aber abgesehen davon, dass er ein Idiot war, war er leider auch ein Genie. Bei jedem anderen hätte Cem gezögert, die angebotene Hilfe anzunehmen. Aber bei MagicMarc666 bestand durchaus die Möglichkeit, Styx zu knacken.
Cem stoppte den Wagen und sah Ayse an. »Bist du dir sicher? Du kannst auch hier im Wagen warten.«
»Ich komme mit.« Sie löste den Sicherheitsgurt und stieg aus.
Cem tat es ihr gleich. Im Dunkeln traten sie auf den Vorplatz des Hotels, das mitten im Wald an der Schwarzwaldhochstraße stand. Hier wohnte der Kerl mittlerweile?
Der Putz bröckelte von den Wänden, einige der Fensterscheiben waren eingeschlagen. Das ganze Gebäude schien zu schreien: Geh weg!
Unbeeindruckt ging Ayse die Stufen zum Eingang hoch und öffnete die Tür. Die Dunkelheit verschluckte sie, als hätte sie das Tor zur Hölle betreten.