Stillstand
Maja beobachtete ihre Tochter, die mit Steinchen spielte. Ihre kurzen Haare standen nach allen Seiten hin ab. Im Spiel murmelte sie vor sich hin. Intensive Diskussionen fanden zwischen den Steinchen statt.
Wellen der Zärtlichkeit überfluteten Maja. Sie war gestorben, weil sie sich ein Leben ohne ihre Tochter vorgestellt hatte und dabei in Panik geraten war. Nun waren sie endlich wieder vereint, und nichts würde sie diesmal trennen. Das versprach sie ihrer Tochter jeden Abend, ehe sie sie ins Bett brachte.
Doch ab und zu schweifte Majas Blick zum Bambuswald. In die Richtung, in der Lara das Auge entsorgt hatte. Sie hatte es Lara nicht erzählt, aber sie mied das Auge nicht nur Lara zuliebe. Die Vorstellung, ihrem eigenen Inneren zu begegnen, hatte sie in Panik versetzt. Sie hatte gelernt, was gut und was falsch war. Und es hatte sich einiges angesammelt, auf das sie nicht stolz war. Sie hatte den Freund ihres Mannes begehrt, sie hatte Vater und Mutter nicht geehrt, und jetzt fühlte sie sich auch noch schuldig am Tod ihres Mannes. Und früher oder später auch an dem ihrer Tochter.
Das, was Maja sich für ihr Leben gewünscht hatte - ihre Freiheit -, war eine Sünde. Deshalb ging sie davon aus, dass ihr Inneres nur der Teufel persönlich sein konnte, obwohl es in der jüdischen Religion keine Hölle gab. Seit sie gestorben war, hatte es kein Gericht gegeben. Kein Buch des Lebens, in dem ihre guten und schlechten Taten standen. Sie war dem Auge kurz begegnet, das ihr befohlen hatte, zu erschaffen. Als Nächstes hatte sie sich in diesem Wald wiedergefunden. Und auch, wenn dieser Wald wie ein Gefängnis war, er war mit Sicherheit besser als die Hölle.
Mutter und Tochter genossen ihre Zweisamkeit und holten auf, was sie versäumt hatten. Doch mit den Tagen und Nächten schlich sich zunehmend das schlechte Gewissen bei Maja ein, denn sie bemerkte, dass ihre Tochter nicht wuchs. Hatten sie zuvor Angst vor der Veränderung gehabt, die Lara in diesem Land erleben würde, so vermisste Maja nun Laras Heranwachsen. Das war es doch gewesen, was sie so gern mit ihr erlebt hätte. Doch Lara blieb ein kleines Kind. Nichts veränderte sich. Ihre Haare wurden nicht länger, Arme und Beine blieben kurz.
Das Kind konnte im Land der Mutter nicht sterben. Aber offensichtlich konnte es auch nicht erwachsen werden. Und Maja war Mutter genug, um zu wissen, dass sie ihrer Tochter diese Erfahrung nicht nehmen durfte.
Sie fragte sich, wie viel Zeit Lara auf Erden schon versäumt hatte. Waren die Tage und Nächte in ihrem Land genauso lang wie die Tage und Nächte auf der Erde? Letztendlich spielte es keine Rolle. Schon ein verlorener Tag in Laras Leben war ein Tag zu viel.
Aber jedes Mal, wenn sie Lara darauf ansprach, weinte das Kind heftig und ließ sich versprechen, dass ihre Mutter sie nicht noch einmal allein lassen würde. Mit dem Körper schien nun auch Laras Wesen wieder das einer Vierjährigen zu sein.
Maja brach es das Herz. Sie fühlte sich schuldig. Wäre sie dem Drang nach Freiheit nicht gefolgt, dann wäre sie noch am Leben. Also folgte sie dem Wunsch ihrer Tochter und war für sie da, so gut sie konnte.
Aber es gab eine Kraft, die Maja nicht stoppen konnte. Das Land um sie herum veränderte sich.
Als die Blätter des Bambuswaldes sich zusammenrollten, bevor sie auf dem Boden eine bunte Laubschicht bildeten, dachte sich Maja noch nichts dabei. Als das Grün der Stämme sich erst in ein helles, dann in ein dunkles Braun verfärbte, wurde sie aufmerksam. Und als sie einen Bambusstamm berühren wollte, bröckelte das Holz unter ihren Händen weg. Ihr Land verfaulte.
Aber nicht einmal jetzt war Maja in der Lage, etwas zu verändern. Die Angst, ihrem Inneren entgegenzutreten, verstärkte sich, je länger sie diese Begegnung vor sich her schob. Die Vorstellung, Lara wieder hergeben zu müssen, schien unerträglich. So sah sie tatenlos dabei zu, wie der Wald um sie herum in sich zusammenfiel.
Eines Tages, als Lara schlief und Maja versuchte, mit dem verfaulten Holz ein Feuer zu machen, nahm sie eine Bewegung wahr. Konzentriert sah sie auf. In ihrem Wald hatte es zu keiner Zeit Tiere gegeben. Doch in diesem Moment kroch etwas aus dem hohlen Inneren eines verfaulten Stamms hervor. Ein dünner, ausgemergelter Körper, der sich nach allen Seiten hin streckte und zwei große Flügel ausbreitete. Ein Adler, der die wiedergewonnene Freiheit genoss, ehe sich der Blick seiner dunklen Augen direkt auf sie richtete.
Maja wusste, was dieses Tier war. Sie hatte es vorher nicht erkannt, weil Lara sich schützend davorgestellt hatte. Aber es gab keinen Zweifel: Dieses Wesen war ihr Innerstes. Ihr Herzschlag beschleunigte sich.
Die riesigen Flügel des Tiers schlugen dreimal in die Luft. Dann hoben sie den Körper in die Höhe, und mit eleganten Schwingen flog der Adler auf Maja zu, ehe er vor ihr auf dem Boden landete.
Sie war sprachlos. Die Schönheit des Vogels nahm ihr den Atem. Er war elegant, selbstbewusst und sah sie an, als würde er keine Scheu oder Angst kennen.
Abgesehen davon wirkte das Tier ziemlich wütend.
Maja sah in seine Augen und spürte eine Antwort auf eine Frage, die sie gar nicht gestellt hatte. Sie spürte, dass sie ihr Leben lang für Freiheit gekämpft hatte, diese Freiheit aber immer mit einem anderen Menschen verbunden hatte. Um ihrer Mutter zu entfliehen, hatte sie sich an Peter gebunden. Um Peter zu entfliehen, wollte sie sich an Konrad binden. Nie hatte sie den Mut gehabt, allein zu gehen. So wie dieser Adler allein zu fliegen. Das Tier besaß die Gabe, seine ganz eigene Freiheit unabhängig von allen anderen zu leben.
Plötzlich begriff sie, dass ihr Wunsch nach Freiheit keine Sünde war. Dass es die Sünde gar nicht gab! Ihr tiefster Wunsch war ein heiliger Wunsch gewesen: sich selbst zu verwirklichen. Das Leben in vollen Zügen zu genießen und sich von keinen Verboten und Ängsten einsperren zu lassen. Es gab nichts, was Maja sich vorwerfen musste .
Sie wünschte, sie hätte dieses Tier zu Lebzeiten durchschaut und sich dessen Eigenschaften zu eigen gemacht.
Das war also ihr Inneres. Kein Teufel, sondern etwas Erhabenes.
»Nein!«
Sie fuhr herum. Lara stand vor dem Eingang der Höhle. Die kleinen Hände zu Fäusten geballt. Tränen schossen dem Mädchen aus den Augen. Der Adler funkelte ihre Tochter gereizt an.
»Sie kann nichts dafür«, erklärte Maja schnell. »Ich hätte dich befreien müssen. Ich hätte nicht so lange warten dürfen. Sie ist doch noch ein Kind!«
Doch Maja erkannte an dem Blick des Adlers, dass das letzte Wort in dieser Angelegenheit noch nicht gesprochen war.
Sie wusste, dass sie Lara würde gehen lassen müssen, so sehr sie ihre Tochter auch liebte. Gerade diese Liebe ließ sie erkennen, dass sie Lara zurück in ihr eigenes Leben schicken musste. Lara durfte sie nicht begleiten.
Maja beugte sich zu dem Adler. »Gibt es eine Möglichkeit, dass sie zurück kann?«
Der Adler erwiderte ihren Blick ruhig, schwieg jedoch.
Da trat Lara an ihre Seite und klammerte sich an ihrem Bein fest. Maja streichelte ihr über den Rücken und redete auf sie ein.
»Du gehörst nicht hierher, mein Kind. Ich bin vor langer Zeit gegangen. Es ist falsch, wenn ich dich bei mir behalte. Verstehst du das?«
Lara schüttelte heftig den Kopf und klammerte sich an ihr fest. Maja spürte einen Schmerz in der Brust. Sie verlor ihre Tochter ein zweites Mal. Aber dieses Mal wusste sie, dass es richtig war.
»Du gehst jetzt los. Und lebst dein Leben! Hörst du?«
Das Kind wand sich in ihren Armen. »Ich will nicht! Ich will bei dir bleiben!«
»Ich werde immer bei dir sein.«
Lara war untröstlich. Als Maja sie absetzen wollte, klammerte sie sich an ihr Bein. Hilflos sah Maja zu dem Adler.
»Der Schimmer!«, hörte sie in ihrem Inneren.
So also kommunizierte der Adler. Oder das Auge. Lara hatte es ebenfalls gehört. Sie schrie vor Wut auf.
»Wo hast du den Schimmer versteckt?«, bohrte das Auge weiter.
Lara schüttelte den Kopf und verschränkte trotzig die Arme vor der Brust.
»Hör zu. Du hast mich in einen Bambusstamm gesteckt. Du hast versucht, den Lauf der Dinge aufzuhalten. Das ist nicht möglich. Stillstand ist entgegen eurer Natur. Es macht euch krank. Es bringt euch dazu, zu verfaulen. Du musst den Schimmer holen. Deine Mutter muss hier weg. Und du auch.«
Maja sah zu dem weinenden Kind. Sie lächelte voller Liebe, ehe sie zu dem Stein ging, unter dem Lara die Flasche mit dem Schimmer versteckt hatte. Eine Mutter wusste immer, wo ihre Tochter ihre Schätze hütete.
Lara krallte sich an ihr Bein, doch Maja stellte die Flasche vor den Adler, der den Schimmer mit seinem Blick durchbohrte.
Doch nichts geschah. Der Schimmer hatte andere Pläne.
Lara klatschte fröhlich in die Hände, während der Adler nachdenklich zu dem letzten Rest des Bambusstamms blickte, in dem er so lange gesteckt hatte.
Er spreizte die Flügel, erhob sich in die Luft und landete auf den faulen Überresten seines ehemaligen Gefängnisses.
Sein Schnabel pickte in den Überresten herum. Schließlich holte er etwas hervor und flog damit zu ihnen zurück.
Als er das Gefundene vor Maja auf den Boden legte, erkannte sie eine Kette mit ihrem Anhänger daran. Ein kleines, silbernes Skateboard.
»Diese Kette gehört mir. Sie war ein Geschenk meiner Mutter«, stellte Maja fest. »Aber den Anhänger kenne ich nicht.«
»Deine Kette hat den Anhänger mit hierhergebracht«, sagte das Auge. »Ich kenne mich mit herumreisenden Gegenständen nicht aus. Aber während ich in diesem engen Ding festsaß, hatte ich genug Zeit, nachzudenken«, betonte das Auge mit einem ungnädigen Blick in Laras Richtung. »Ich nehme an, dass manche Gegenstände mit mehr emotionaler Energie behaftet sind als andere. Deine Kette hat dir viel bedeutet. Weshalb sie zu dir geflogen kam. Dieses Ding hier ...«
»Ein Skateboard.«
»Was auch immer, es scheint weniger Bedeutung für seinen Besitzer zu haben und wurde deshalb von deiner Kette hier festgehalten. Dennoch wird es zweifellos zu seinem Besitzer reisen, wenn es von deiner Kette nicht mehr in deinem Land festgehalten wird. Ich habe mich daran erinnert, dass Zottel dieses Skateboard bei sich trug, als ich sie das erste Mal gesehen habe. Wer weiß, wohin es sie bringen kann, wenn du es von deiner Kette befreist.«
Maja drehte sich zu Lara. »Zottel?«, fragte sie verwundert.
»Hast du dir mal ihre Haare angesehen?«
Lara hatte den beiden den Rücken zugedreht. Ihr kleiner Körper bebte, und Maja konnte die Anzahl der Tränen nur erahnen, die ihrer Tochter über das Gesicht strömten.
Sie betrachtete das Skateboard an der Kette. Dann drehte sie Lara sanft zu sich, wischte ihr die Tränen aus dem Gesicht und holte den Anhänger mit der Elfe im Halbmond aus Laras Tasche. Sie befestigte diese neben dem Skateboard.
»Ich schenke dir diese Kette. Möge dich das Skateboard zu deinem nächsten Ziel bringen.« Sie legte ihr die Kette um. »Leb dein Leben, mein Kind.«
In diesem Moment zuckte das Skateboard an Laras Kette. Nun, da es nicht mehr in Majas Land festgehalten wurde, wollte es zurück. Zu seinem Besitzer. Ein Fenster erschien neben Lara, das das kleine Skateboard magisch anzog.
»Mama!«
Die kleinen Hände versuchten vergeblich, nach denen ihrer Mutter zu greifen. Doch Lara wurde von dem Fenster verschluckt. Das Letzte, was sie sah, waren die Tränen in Majas Augen.