Lara und Timo
Teilnahmslos sah Lara dabei zu, wie ihre Füße sich langsam in Sand verwandelten. Sazan saß ihr gegenüber und betrachtete die Verwandlung interessiert, aber ohne jegliche Emotion.
»Glaubst du wirklich, dass du Allah ausgetrickst hast?«, fragte Lara schließlich.
»Siehst du ihn hier irgendwo?«, erwiderte Sazan.
»Ich meine, vielleicht gibt es ihn ja gar nicht. Ich war bei einem Christen, einer Jüdin, einem Buddhisten ... Keiner ist bei dem Gott gelandet, den er zu Lebzeiten angebetet hat. Was ist, wenn diese seltsamen Länder alles sind, was uns erwartet?« Lara fühlte eine plötzlich Leere in sich. »Ich hatte die ganze Zeit über recht. Gott gibt es nicht.«
Sazan sprang auf. »Ungläubige!«, rief sie erregt.
Doch Lara hielt ihrem Blick stand. »Dein Tod war umsonst. Genau wie der meines Vaters. Du kriegst deine Freiheit nicht zurück. Und mein Vater nicht meine Mutter. Es ist einfach nur, wie es ist. Kein Sinn. Kein Gott.«
»Hör auf, ihn zu verleugnen!« Sazan zerrte Lara aus dem kleinen Raum.
»Was machst du da?«
»Du hast in meiner Moschee nichts zu suchen!« Sie zog an Laras übrig gebliebenem Bein.
Lara war es sowieso egal, wo sie sich in Sand verwandelte. Sie hätte sich der ungestümen Wut genauso teilnahmslos hingegeben wie ihrer Verwandlung. Doch als ihre Hand über den Sandberg neben ihr streifte, bewegte sich plötzlich das Skateboard an der Kette! Sie hatte es völlig vergessen. Es segelte empor und zog in Richtung des Sandhügels. Als wollte es nicht von dort weg. Auch der Rucksack, in den Lara alle Spraydosen zurückgelegt hatte, blieb an dem Sandberg kleben.
Sie begriff. Der Sandberg neben ihr war Timo!
Hektisch befreite sie sich aus Sazans hartem Griff. »Lass mich!«
Natürlich! Warum hatte sie zuvor nicht schon daran gedacht! Solange seine Gegenstände hier waren, war Timo auch hier. Wenn er gestorben wäre, wenn er sein eigenes Land erschaffen hätte, dann wären seine Sachen ihm längst dorthin gefolgt.
Irgendwo in diesem Sandhaufen steckte noch etwas von Timo.
Sie buddelte sich durch den Berg. Nichts war zu sehen. Der Sand rieselte ihr durch die Finger, und mit Schrecken erkannte sie, dass sich ihre eigenen Hände bereits auflösten.
Sazan wollte sie erneut packen, als Lara ihr mit dem noch halbwegs vorhandenen Fuß in den Bauch stieß. Sazan flog zurück, und Lara buddelte schnell weiter. Da! Sie berührte etwas! Sie schaufelte den Sand weg und sah den Laptop. Sazans Laptop. Dazwischen klemmte ein Stofffetzen. Eine Hand hielt den Laptop fest. Timos Hand! Das Einzige, was noch von ihm übrig war!
Der Stofffetzen war der Rest von Konrads Hemd!
So wie Timos Skateboard von der Kette ihrer Mutter festgehalten worden war, so hatte auch der Stofffetzen in diesem Land verweilt. Der Laptop hatte für Sazan eine größere emotionale Bedeutung als der Fetzen für Konrad. Von dem Laptop befreit würde der Stoff jedoch zu einem Ticket für Lara und Timo werden. Ein One-Way-Ticket zu Konrad.
Auch wenn Lara bewusst war, dass sie dann in Konrads Land festhingen, sie hätte Zeit gewonnen.
Sie setzte alles auf eine Karte, sprang hoch, gab Sazan einen letzten Stoß, der sie noch einmal zurückwarf. Dann schnappte sie sich Timos Rucksack und zog ihn sich über.
Sie entriss der leblosen Hand den Laptop und öffnete ihn, während sie den Stofffetzen in der anderen Hand hielt. Den Laptop warf sie zu Sazan.
»Ich glaube, das gehört dir!«, rief sie.
Überrumpelt fing Sazan den Laptop auf. In diesem Moment wurde der Stofffetzen von einem Sog erfasst. Neben Lara erschien ein Fenster, das sich öffnete.
Sie schob die Hand durch den Sand, bis sie Timos Hand zu fassen bekam. Mit der anderen umklammerte sie den Stofffetzen, der bereits vom Sog erfasst wurde.
Als Sazan sah, dass Lara eine Hand umklammerte, begriff sie und schrie: »Nein!« Sie stürzte auf Lara zu, die spürte, wie der Rest von Timos Hand in der ihren zerbröselte.
Das Letzte, was sie sah, waren Sazans vor Verzweiflung weit aufgerissene Augen, und das Letzte, das sie hörte, war: »Ich will wieder leben!«