Land Sieben
Neue Welt
Das Leuchten, das aus dem Auge drang, tauchte alles in ein goldenes Licht.
Die Sieben schwebten darin wie zuvor in der Dunkelheit.
Lara und Timo aber waren abseits. Lara hielt all die Gegenstände in den Händen und starrte zu dem Kreis, der sich gebildet hatte und sie ausschloss. Die Sieben hielten sich an den Händen, schienen völlig entrückt, mit geschlossenen Augen und seligem Lächeln.
Das Licht strahlte immer heller. Die Sieben wurden größer, wuchsen über sich hinaus, und Lara schien es, als hätten sie Flügel.
Oder war es nur das Licht, das durch ihre Körper strahlte?
Sie bemerkte nicht einmal, als ihr die Gegenstände aus den Händen glitten. Benommen starrte sie auf den Mittelpunkt des Kreises, den die Sieben bildeten. Ein Lichtfunke verweilte wie eine kleine Kugel in ihrer Mitte. Er drehte sich um sich selbst, in einer Geschwindigkeit, die Lara mit ihrem Blick nicht mehr verfolgen konnte. Und doch wurde er noch schneller, immer schneller und wuchs gleichzeitig um das Doppelte seiner Größe an. Sie konnte es nicht fassen! Genau diese Szene hatte sie gesehen, als sie Styx in die Augen geschaut hatte! Nur war sie in dieser Vision selbst Teil der Sieben gewesen.
Sie beobachtete, wie die goldene Kugel in der Mitte sich noch einmal verdoppelte und begriff: Die Sieben erschufen eine neue Welt. Mittlerweile schien das Licht nicht mehr von dem Auge, sondern von ihnen selbst zu kommen.
Ihre Eltern lösten sich zunehmend in dem goldenen Licht auf. Lara erinnerte sich an die Zeit mit ihrer Mutter im Bambuswald. Und sie sah Bilder vor sich, an die sie sich längst nicht mehr hatte erinnern können. Bilder aus der gemeinsamen Zeit in Sasbachwalden. Im kleinen Haus, neben Jo und Karin. Gemeinsam mit ihren Eltern. Das Bild eines geschmückten Weihnachtsbaums und gemeinsame Spaziergänge durch den Wald. Sie verspürte das Gefühl, eine Familie zu sein. Einen Platz im Leben zu haben, an dem man sicher war. Ein Zuhause. Bei ihren Eltern.
Lara erkannte, dass nur noch die Umrisse ihrer Eltern zu sehen waren. Und eine Sehnsucht zog sich durch ihr Inneres, als würde ihr ganzer Körper schmerzen. Undenkbar, sie gehen zu lassen. Unvorstellbar, ohne sie weiterleben zu können.
Die Liebe zu ihren Eltern ließ alles andere unwichtig wirken. Ihr eigenes Dasein schien nur noch von Wert zu sein, wenn sie es mit ihren Eltern teilen konnte.
Wer war sie, wenn nicht die Tochter ihrer Eltern?
Alles wirkte kalt. Einzig die goldene Kugel, die mittlerweile so groß war wie ein kleiner Planet und immer noch weiter wuchs, strahlte eine Wärme aus, der Lara kaum noch widerstehen konnte. Ein Sog erfasste sie. Der gleiche Sog, den die geöffneten Fenster auf sie ausgeübt hatten. Und diesmal wusste sie, dass dieser Sog ihr galt. Noch wehrte sie sich. Die Worte ihrer Mutter hallten in ihr nach. Sie musste ihr eigenes Leben leben. Aber der Sog und die Wärme, die das goldene Licht ausstrahlte, waren zu verheißungsvoll. Lara verspürte den Wunsch, eins zu werden mit dem Licht. Eins zu werden mit der neuen Welt ihrer Eltern und so für immer mit ihnen verbunden zu sein. Für immer eine Familie zu sein. Sich nie wieder allein zu fühlen.
Sie blickte zu ihnen. In dem Moment, in dem sich die Konturen ihrer Eltern gänzlich auflösten, gab Lara dem Drang nach. Schließlich hatte Styx ihr eine Vision geschenkt. Und in dieser Vision war sie Teil dieser neuen Welt gewesen. Vielleicht hatte sie diesen ganzen Weg hinter sich gebracht, um nun mit ihren Eltern weiterzugehen? Sie ließ alles hinter sich, streckte sich dem Licht entgegen und flog schließlich darauf zu.
Dann, ganz plötzlich, hielt die Kugel in ihrer Bewegung inne.
Die Sieben hatten sich komplett aufgelöst. Die Kugel strahlte in einer Helligkeit, dass sie ein ganzes Universum zum Leuchten hätte bringen können. Sie stand still. Als würde sie einmal tief Luft holen, zog sich alles in ihr zusammen und mit einem gewaltigen Knall dehnte sich die Kugel zu einer neuen Welt aus.
Lara fand sich auf kargem Boden wieder. Sie wagte nicht, zu atmen. Vorsichtig sah sie auf. Um sie herum nur flaches, graues Land.
Wo war sie? Was war geschehen?
Mit wackligen Beinen stand sie auf. Wo war das goldene Licht? Wo war die Wärme? Sie lief schwankend einige Schritte in eine Richtung. Dann in die andere. Überall das gleiche. Graues Land bis zum Horizont.
War das die neue Welt ihrer Eltern? Die nächste Ebene, auf der sie sich befanden? Lara verspürte ein ungutes Gefühl. Ihr war kalt. Sie war allein.
»Mama?«, rief sie in die endlose Stille.
Keine Antwort. Ihr Atem wurde schneller. Was hatte sie getan? Sie hatte ein Teil der neuen Entstehung sein wollen. Aber doch nicht allein!
»Papa? Seid ihr da?«, fragte Lara, die gegen das ungute Gefühl ankämpfte.
Diese Welt war riesig. Vielleicht würde sie eine Weile suchen müssen, um die Sieben zu finden. Sie lief los, doch plötzlich kam Wind auf. Sie blieb stehen und hatte das Gefühl, dass es unter ihren Füßen kribbelte. Dann war es, als würde der Planet sich einmal kräftig schütteln. Lara fiel auf den Boden und erkannte erstaunt, dass eine Pflanze den grauen Boden sprengte. Eine Blüte wuchs aus dem grünen Stängel. Sie beinhaltete eine Farbenpracht, die Lara noch nie gesehen hatte. Als wären alle Farben in einer einzigen, kleinen Blume vereint. Die Pflanze wuchs heran und bog sich in alle Richtungen. Dann schoss sie in die Höhe und wurde dreimal so groß wie zuvor.
Lara schrie begeistert auf. Etwas Schöneres hatte sie noch nie gesehen. Zu allen Seiten sprossen nun Blumen aus dem Boden. Jede war in ihrer Form und Farbe anders gestaltet, und jede war auf ihre eigene Weise wunderschön.
Lara dachte an all die Erfahrungen, die ihre Eltern und deren Freunde und Familie im letzten Leben zusammen gemacht hatten. Was für eine Welt würden sie nun gemeinsam erschaffen? Eine Welt ohne Krieg? Eine Welt ohne Anfeindungen? Ohne Eifersucht und Depressionen? Wie würde es weitergehen? Wurden immer neue und neue Welten auf immer höheren Ebenen erschaffen? Oder hatte diese Reise irgendwann ein Ende?
Gespannt sah sich Lara um. Wie würde es sein, ein Teil dieser Welt zu sein? Sie verdrängte das ungute Gefühl in ihrem Bauch und begann, durch die wachsende Fauna zu laufen. Hatte die Bibel von sieben Tagen für die Entstehung der Erde gesprochen? Hier wurde Lara Zeuge einer Evolution innerhalb weniger Minuten.
Neben den Blumen wuchsen nun auch Bäume aus dem Boden hervor. In rasender Geschwindigkeit entstand um sie herum ein Wald. Die Bäume waren jedoch nicht braun und grün, wie Lara es kannte, sondern erwuchsen in den schönsten Farben. Bald schon wurde es dunkel, da der Himmel über ihr von den Bäumen und Pflanzen verdeckt war.
Lara lachte vor Glück. Das hier musste das Paradies sein. Und sie war mittendrin.
Sie wollte sich beeilen. Sie musste ihre Eltern finden. Sie musste ihnen zeigen, dass sie mitgereist war. Wie ein kleines Kind sehnte sie sich nach der Umarmung ihrer Mutter.
Doch als sie über einen gerade entstehenden Fluss springen wollte, kam sie nicht vom Boden weg .
Etwas hielt ihre Füße fest. Verwundert sah sie an sich herunter und schrie vor Schreck auf. Ihre Füße fehlten. An ihrer Stelle befanden sich Wurzeln, die in den feuchten, satten Boden krochen.
»Nein!«, schrie Lara.
Mit aller Kraft zog sie die Wurzeln aus dem Boden. Mit einem Schmatzen riss sie das rechte Bein aus dem Schlamm und hielt es verzweifelt in die Luft, während die Wurzel sofort erneut den Boden suchte. Während Lara damit beschäftigt war, das linke Bein aus dem Boden zu reißen, verwuchs bereits ihr rechtes wieder mit der Erde.
Entsetzt spürte sie, wie das kalte Wasser des Bachs durch ihr rechtes Bein strömte. Ein nie gekannter Durst erfasste sie, als das Wasser durch ihren ganzen Körper zu fließen schien.
Schon wand sich ihr linkes Bein auch wieder in den Boden. Lara war nun so fest verwurzelt, dass sie ihre Beine nicht mehr aus eigener Kraft befreien konnte. Sie versuchte, ihr Gleichgewicht zu halten und erkannte mit wachsender Panik, dass ihr Rumpf bereits zu dem Stamm eines Baums zusammenwuchs.
Eine unbändige Wut breitete sich in ihr aus. Sie verwandelte sich. Wurde eins mit der Umgebung. Eins mit der Welt ihrer Eltern. Das hatte sie gewollt. Jedoch war ihr nicht bewusst gewesen, was dies für sie bedeuten würde. Lara war sich darüber im Klaren, dass sie nicht der Baum bleiben würde, zu dem sie gerade heranwuchs. Sie würde sich zunehmend verwandeln. Und dann würde sie ihr eigenes Land bilden. Sie würde sterben. Der Wunsch, mit ihren Eltern für immer vereint zu sein, war gleichzeitig ihr Todesurteil.
Lara verlor die Nerven.
Sie dachte an ihre Zeit in Berlin. An die Freundschaft mit Ayse. An ihre Träume für ihr Leben. Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, hatte sie nie eine Vision wie Ayse gehabt. Sie hatte nie gewusst, ob sie eine Familie gründen oder welchen Beruf sie erlernen wollte. Lara hatte immer im Jetzt gelebt. Aber sie hatte gern gelebt! Und sie wollte nicht damit aufhören. Sie wollte die Erfahrungen machen, auch wenn sie noch so schmerzhaft waren.
Während sie machtlos dabei zusah, wir ihre Arme bunt und hölzern wurden und kleine Knospen bildeten, wurde ihr bewusst, dass die Sehnsucht nach ihrer Mutter, nach ihrem Vater, nach einer Familie so groß gewesen war, dass sie alles andere dafür aufgegeben hätte. Erst jetzt begriff sie, dass ihre Mutter sie genau davor gewarnt hatte.
Und egal, ob sie sich das nun selbst ausgesucht hatte oder nicht - sie wollte ihr Leben. Auch wenn das bedeutete, dass sie es ohne ihre Eltern leben musste. Es war nicht vorstellbar. Aber es war ihre einzige Möglichkeit. Oder besser, es wäre ihre einzige Möglichkeit gewesen. Jetzt schien es dafür zu spät. Lara sah Bilder ihrer Welt vor ihrem inneren Auge. Obwohl diese Welt voller Krieg, Neid und Gefahren war, so spürte sie nun, dass sie ein Teil dieser Welt war. Nie war sie ihr wertvoller erschienen als in diesem Moment. Nie hatte sie all jene Chancen erkannt, die diese Welt für sie bereithielt. In all dem Elend, in all den schlechten Nachrichten, in all der vermeintlichen Gleichgültigkeit, in allem Suchen nach Gott und dem Bekämpfen anderer Religionen entdeckte Lara nun auch die Liebe, die alle miteinander verband. Das Streben nach den gleichen Zielen, nach Einigkeit und Frieden.
Sie wünschte sich wie nie zuvor, dazuzugehören, um ihrerseits einen kleinen Beitrag dazu zu leisten. Und selbst wenn die Erfahrungen, die sie machen würde, nicht nur positiv waren, wollte sie das Leben doch in seiner ganzen Fülle aufnehmen. Mit all seinen Schattenseiten. All seinem Licht.
Sie sah Ayses Lachen vor sich und spürte, dass sie neben ihrem Vater auch bei ihr ein Zuhause gehabt hatte.
Nun, da ihre Zweige bereits durch das dichte Geäst des Waldes einen Weg zum Himmel suchten, um auch etwas von dem Sonnenlicht abzubekommen, das darüber leuchtete, sah Lara Timos Augen vor sich.
Ihr Herz schlug schneller.
Im Raum der Bestimmung hatte sie ihm ihre Liebe gestanden. Und jetzt, da sie für immer von ihm getrennt sein würde, fühlte sie diese Liebe erneut. Aber sie musste davon ausgehen, dass Timo längst mit den Gegenständen und dem Schimmer, wie auch immer er ihn erhalten hatte, zurück in seinem Leben war.
In diesem Moment erinnerte sich Lara an seine Worte: Du hast mir ein Mal das Leben gerettet. Vielleicht kann ich jetzt deins retten?
Nein. Er würde nicht ohne sie gehen. Er würde alles versuchen, sie zurückzuholen. Auch wenn das genauso bescheuert war wie ihr eigenes Handeln.
Sie spürte, wie ihr Mund zusammenwuchs. Auch ihre Augen konnte sie nicht mehr öffnen. Die Verwandlung ging zu schnell!
Sie fühlte das kühle Nass, das ihre Wurzeln aus dem Boden durch ihren Stamm sogen. Spürte, wie ihre Krone mächtig in den Himmel wuchs. Und spürte gleichzeitig ihre unbändige Lebenslust. Eine Kraft, die sie jetzt am Leben hielt. Doch selbst wenn Timo hierher kam – wie sollte er wissen, dass sie hier war? Dass sie in diesem Baum steckte? Sie musste ihm ein Zeichen geben. Mit letzter Kraft öffnete sie noch einmal ihre Augen. Ihre Hände waren längst zu Ästen verwachsen. Aber noch hatte sie die Kontrolle über sie.
Sie nahm all ihren Lebenswillen, all ihre Liebe für sich selbst und Timo zusammen, die sich in diesem Augenblick in ihr aufbäumte, und sorgte dafür, dass dieser Baum, in den sie sich verwandelte, unverkennbar sein würde.
Als es gänzlich schwarz um sie wurde, blieb Lara nichts anderes übrig, als zu warten.
Sie musste nur am Leben bleiben.