Das Zeichen
Timo stolperte durch den Dschungel. Die Flasche rebellierte immer noch in seinem Rucksack und ließ ihn ständig straucheln. Auch die stetig wachsenden Pflanzen und Bäume gestalteten die Suche alles andere als einfach. Er wusste nicht einmal, in welche Richtung er gehen sollte. Lara konnte überall sein.
Verzweifelt rief er ihren Namen.
Als eine Wurzel ihn zu Fall brachte, fluchte Timo laut. Er rappelte sich auf und rannte weiter.
»Lara!«
Seine Stimme ging im plötzlichen Lärm unter. Denn neben den Pflanzen entstanden nun vor seinen Augen etliche Tiere. Vögel, mit Flügeln so bunt wie sein bestes Graffiti, erhoben sich in die Lüfte. Fische sprangen in einem violetten Fluss, der sich neben ihm gebildet hatte. Ein riesiges Wesen sprang auf ihn zu und betrachtete ihn neugierig durch etliche kleine schwarze Knopfaugen.
Timo hatte jedoch keinen Sinn für die Erschaffung vor und hinter ihm. Er rannte weiter durch den Wald, der nun so dicht war, dass er sein Tempo drosseln musste.
Langsam, aber sicher erkannte er die Ausweglosigkeit seiner Situation. Lara konnte überall sein. Dieser Planet war mittlerweile bestimmt ebenso groß wie die Erde. Eine Suche nach einer einzelnen Person schien völlig unmöglich.
Einer letzten, verzweifelten Idee folgend nahm Timo den Rucksack ab. Er kramte darin und fand die Flasche mit dem Schimmer. Sie hatte aufgehört, sich zu bewegen. Ihre Rebellion war beendet. Mit zitternden Händen nahm er die Flasche und öffnete sie.
»Los, Schimmer! Bring mich zu ihr!«, rief er dem Inhalt der Flasche entgegen.
Nichts geschah.
»Komm schon!«, schrie er verzweifelt. »Alle haben behauptet, dass du einen eigenen Willen hast. Es kann doch nur gut sein, wenn ich sie finde und wir von hier verschwinden!«
Der Schimmer regte sich nicht.
Timo drehte die Öffnung der Flasche nach unten und schüttelte sie. Nichts. Als wäre der Schimmer eine feste Masse geworden, die sich weigerte, seinem Willen Folge zu leisten.
Verzweifelt steckte er den Korken zurück in die Flasche, verstaute sie wieder im Rucksack und zog ihn über.
Er blickte zum Himmel, der von den Pflanzen fast gänzlich verdeckt war.
»Also gut! Gott oder was auch immer das hier alles lenkt! Hilf mir! Wo ist Lara?«
Er war nie gut im Beten gewesen und hatte den Verdacht, dass sein Tonfall nicht angemessen war. Aber in dieser Situation fiel ihm niemand anderes mehr ein, der ihm helfen konnte.
Die Welt um ihn herum beruhigte sich langsam. Das Wachsen der Pflanzen schien sich zu verlangsamen. War die Verwandlung abgeschlossen?
Timo hatte keine bessere Idee, als seine aussichtslose Suche fortzusetzen. Er wollte weiterlaufen, doch seine Beine regten sich nicht mehr. Timo sah an sich herunter. Mit Entsetzen erkannte er, dass seine Beine sich verwandelten.
Er fiel auf den Rücken, da seine Beine ihn nicht mehr tragen konnten. Sie wanden sich gleich einer Schlingpflanze auf dem Boden entlang und suchten nach Halt.
Er wollte das Wachsen aufhalten. Sich selbst daran hindern, eins mit dieser Welt zu werden, aber seine Hände waren bereits zu Blättern geworden.
Ihm wurde heiß und kalt zugleich. Er hatte einmal den Willen aufgebracht, die Verwandlung lange aufzuhalten. Damals war es der Gedanke an Lara gewesen, der ihn gerettet hatte. Aber wenn ihm diese Verwandlung widerfuhr, dann war klar, was aus Lara geworden war. Sie war längst eins mit der Umgebung. Schließlich hatte Timo während des Gesprächs mit dem Auge erkannt, dass Lara wesentlich schneller dazu neigte, sich aufzulösen.
Er war zu spät.
Sie war längst tot.
In ihrem eigenen Land.
Und aus diesem Land gab es kein Zurück mehr ins Leben.
Es war vorbei.
Er sah keinen Sinn mehr darin, sich gegen die Verwandlung zu wehren. Seine Beine schlangen sich bereits um den Stamm eines mächtigen Baums. An den Stamm eines weiteren Baums gelehnt betrachtete er den letzten Fetzen Himmel, den er erspähen konnte. Zum ersten Mal nahm er sich die Zeit, die Schönheit um ihn herum zu betrachten.
Abgefahren. Ein bunter Wald. Ein Dschungel in allen Farben des Regenbogens. Wenn Timo noch einmal die Möglichkeit hätte, ein Bild zu sprühen, dann wäre es dieser Wald.
Er sah dabei zu, wie seine Arme den Stamm des Baums vor ihm umarmten und daran emporwuchsen. Eine Schlingpflanze würde er sein, ehe er sein eigenes Land erschaffen würde.
Als er spürte, wie die Verwandlung auf Rumpf und Oberkörper überging, tropfte etwas auf sein Gesicht. Auch neben ihm auf dem Boden landete ein Tropfen. Eine rote Flüssigkeit, die wie Blut aussah.
War das bunter Regen? Es hätte zu dieser abenteuerlichen Welt gepasst.
Die Flüssigkeit kam jedoch nicht aus dem Himmel. Sie stammte aus der Rinde des Baums, an den Timo sich gelehnt hatte. Mit letzter Kraft richtete er sich auf. Ungefähr zwei Meter über ihm war etwas in die Rinde geritzt. Timo streckte sich, so gut er konnte. Und erkannte sein Zeichen! Sein Tag. Das T mit dem fliegenden Adler.
Es gab nur eine Person, die dieses Tag kannte. Lara!
Sie war hier gewesen und hatte sein Zeichen in diesen Baum geritzt. Sie hatte gehofft, dass er sie suchen würde.
»Lara!«, rief Timo mit neuer Hoffnung.
Vielleicht war es noch nicht zu spät.
Ein weiterer Tropfen fiel auf sein Gesicht, als es ihm dämmerte. Natürlich! Lara war der Baum!
Er durfte keine Zeit verlieren. Eine winzige Chance hatte er. Wenn noch irgendetwas von Lara in diesem Baum existierte, dann würde er sie retten können. Er musste sie berühren, wie sie ihn berührt hatte, bevor sie ihn in Konrads Land gerettet hatte.
Timo zog an seinen Armen, die zur Pflanze geworden waren. Sie hatten sich jedoch schon um den Stamm des anderen Baums geschlungen. Er hatte keine Wahl, als sie entzweizureißen. Er schrie vor Schmerz! Pflanzensaft tropfte aus der Bruchstelle. Es kam ihm vor, als würde er verbluten. Voller Schmerz lenkte er seine Überreste zu dem Baum, der Lara sein musste. Sofort wuchs sein Arm am Stamm empor.
Gleichzeitig riss Timo mit dem Mund den Rucksack auf und versuchte, die Flasche mit den Zähnen zu fassen zu kriegen. Immer wieder verfehlte er sie. Als er sie endlich aus dem Rucksack zog, musste er sie so platzieren, dass er mit seinem Mund den Korken zu fassen bekam. Ständig kippte die Flasche um, und Timo spürte, wie auch sein Gesicht sich verwandelte.
Doch der Gedanke an Lara und der neue Mut, da sie ihm sein Zeichen gesendet hatte, gaben ihm die Kraft, die Flasche ein letztes Mal zu sich zu drehen. Er bekam den Korken mit den Zähnen zu fassen und zog ihn aus der Flasche.
Der Schimmer brodelte im Inneren. Ein einzelner Tropfen löste sich jetzt und drang durch den Flaschenhals nach oben. Timo klammerte sich mit all seinen Blättern und Stielen um den Stamm des Baums.
Der Tropfen lugte aus dem Flaschenhals, als würde er sich umsehen.
Dann wurde es dunkel.