| 05 |
Als die Sonne untergegangen war und der Abend kam, wurde die Glasfront der Cafeteria geöffnet, und sie traten auf die Terrasse hinaus. Im Westen schwebte immer noch ein kupferfarbenes Licht in der hohen Atmosphäre.
Der heiße staubige Wind aus der Wüste war abgeflaut. Vom Fluss her war vage eine Milde zu spüren, die das Atmen erträglich machte und sich auf die Haut legte wie eine lindernde Hand.
»Was wolltest du damit bezwecken, Ailif? Warum hast du ihn derart gereizt? Ich weiß, dass du Frömmigkeit nicht ausstehen kannst, aber wir sind auf seine Hilfe angewiesen.«
»Ich wollte, dass er Farbe bekennt, damit wir wissen, woran wir sind.«
»Und – zufrieden?«
»O ja. Ich finde, es stinkt zum Himmel. Keinerlei Aufzeichnungen des früheren Commanders auf einem Flottenstützpunkt. Das gibt’s doch nicht.« Ailif schüttelte den Kopf. »Dieser Commander Wolf mag noch so ein Geheimniskrämer gewesen sein – er hat den Anstoß gegeben und dem Flottenkommando vorgeschlagen, dass eine wissenschaftliche Untersuchung vor Ort durchgeführt wird. Er muss doch dafür hinreichend Material gesammelt und hinterlassen haben.«
»Bestimmt. Aber er wird erwartet haben, dass er da ist, wenn wir eintreffen, um uns persönlich ins Bild zu setzen und uns behilflich zu sein.«
»Hm.«
»Hältst du es für möglich, dass sein Verschwinden auch für ihn selbst überraschend kam?«
Ailif blickte nachdenklich über den Fluss zum Dorf auf dem Ostufer hinüber. Ein paar Fischerboote waren zu sehen mit Gestalten darin; wahrscheinlich wurden für die Nacht Netze ausgelegt. »Du meinst, dass er einen Unfall hatte oder sogar … beseitigt wurde? Ich weiß es nicht.«
»Du glaubst, dass Commander Cayley uns nicht die Wahrheit sagt?«
»Ich glaube, er versucht uns etwas zu verheimlichen. Und das hat etwas mit diesen Frömmlern zu tun, da gehe ich jede Wette ein. Es ist doch eine absolut groteske Situation: Ein Stützpunktkommandant umgibt sich mit fanatisch Gläubigen, mit Menschen, die einen Hirnschaden haben.«
»Nun übertreib nicht. Nicht jeder gläubige Mensch ist krank oder ein gefährlicher Irrer.«
Ailif hob den Zeigefinger. »Latent ja«, sagte er nachdrücklich. »Das hat die Vergangenheit gezeigt. Religionen sind brisante Meme, die keine Toleranz kennen, aber sie ständig für sich reklamieren, weil sie wissen, dass man unter diesem philosophischen Schutzmantel, den ihnen die Aufklärung geschneidert hat, trefflich gedeihen kann. Das hat man nur lange nicht wahrhaben wollen, vor allem nicht unter den Aufgeklärten und Liberalen selber.« Er deutete mit einem Nicken über den Fluss. »Und da drüben ist eine genetische Auswahl der miesesten Typen versammelt. Deren Vorfahren lieber einen zweiten Exodus auf sich genommen haben, als sich behandeln zu lassen.« Er schüttelte den Kopf. »Was haben die sich da oben in New Belfast nur gedacht? Schicken einen Neger und eine Unbeschnittene an die Glaubensfront.«
»Könnte das Absicht gewesen sein?«
Ailif hob die Schultern. »Ich hätte mich gründlicher vorbereiten sollen. Ich habe mich nie näher mit diesen Sekten befasst.«
»Du hattest keine Veranlassung. Wir sind mit einer Situation konfrontiert, die wir nicht erwartet haben. Anstatt einen Flottencommander anzutreffen, der uns mit offenen Armen empfängt, uns unter seinen Schutz stellt und uns in jeder Weise behilflich ist …«
»… sehen wir uns einer Horde von Frömmlern gegenüber, denen wir lästig sind und die uns buchstäblich zum Teufel wünschen.« Ailif seufzte und kraulte Jonathans Nackenfell. »Vielleicht war von vornherein geplant, dass wir mit unserem Auftrag scheitern.«
»Weshalb?«
»Keine Ahnung. Die Lobby der Dongometzger? Kaum vorstellbar bei der Fleischqualität. Nichts für Gourmets, will mir scheinen. Warten wir’s ab. Wir müssen das Beste daraus machen.«
Am Rand der Terrasse entlang des Flussufers waren breite mannshohe Rahmen aufgestellt, in denen es unablässig irrlichtete und knisterte. Insekten, vom fahlblauen Schein in den Rahmen gelockt, flammten auf, wurden in Nullzeit auf Lichtgeschwindigkeit beschleunigt und als Funken ins All geschleudert.
»Wir ernten sie ab, wenn sie aus dem Schilf aufsteigen«, sagte Jespersen, der sich zu ihnen gesellt hatte. »Aber es bleiben, weiß der Himmel, immer noch viel zu viele von den Plagegeistern übrig.«
Er hatte sich umgezogen, trug Jeans und ein hellblaues Polohemd. Zum Duschen hatte er offenbar keine Zeit gefunden. Er roch vernehmlich. Sein persönliches Repellant?, fragte sich Maurya.
»Früher haben wir es mit Schwalben versucht.«
»Mit Schwalben?«, fragte Ailif verblüfft.
»Ja. Das war eine Idee von Commander Wolf. Der hatte öfter solche ausgefallenen Ideen, wenn es um die Ökologie ging. Und wenn er sich etwas vorgenommen hatte, setzte er Himmel und Hölle in Bewegung, um es zu verwirklichen. Er hat im Delta einen Händler aufgetrieben, der alle möglichen Vögel von der Erde importierte und sie züchtete. Ganze Volieren voll.« Jespersen beschrieb mit beiden Händen einen Kreis. »Hab’s gesehen, als wir sie abholten. Und die hat er – ich meine Commander Wolf – als umweltfreundliche Wunderwaffe gegen die Insekten einsetzen wollen. Es hat aber nicht so recht funktioniert, wie er sich das vorgestellt hatte, trotz des überwältigenden Nahrungsangebots. Sie kamen mit der Hitze nicht zurecht. Und wenn sie dicht über die Wasseroberfläche flogen, um zu trinken« – er lachte – »landeten sie früher oder später im Magen eines Kuanga.«
»Das sind die Echsen, die hier im Fluss leben«, sagte Maurya.
»Eher Wasserschlangen. Irgendetwas dazwischen. Widerliche Biester.« Jespersen krümmte die Finger. »So lange Zähne – und giftig. Können Menschen umbringen damit.«
»Die müssen aber ganz schön flink sein, um sich eine Schwalbe aus der Luft zu schnappen, die übers Wasser streift«, warf Ailif ein.
Jespersen wägte den Kopf. »So schnell sind die gar nicht, aber sie scheinen so etwas wie hellseherische Fähigkeiten zu haben. So eine Art sechsten Sinn, weil sie sich immer an Stellen einfinden, wo Sekunden später eine Beute auftauchen wird. Niemand weiß, wie sie das anstellen.«
»Der Sache müsste man nachgehen«, sagte Maurya.
»Tun Sie’s, Madam. Sie sind ja ein Professor für so etwas.«
»Für den sechsten Sinn?«
»Nein. Für fremdartiges Viechzeug, wie mir gesagt wurde.«
Maurya lachte.
»Schwalben …« Ailif verzog den Mund zu einem schiefen Grinsen. »Sagen Sie, Mr. Jespersen, war er – ich meine Commander Wolf – ein streitbarer Mann?«
Jespersen schüttelte den Kopf. »Ungeduldig ja, aber streitbar – nein, das kann man nicht sagen. Nur mit Seiner Heiligkeit hatte er ständig Zoff. Die beiden konnten sich nicht ausstehen. Was sag ich? Sie konnten sich auf den Tod nicht leiden.«
»Seiner Heiligkeit? Sie meinen den Hohepriester oder Großmufti oder was immer er auch ist in dem Dorf da drüben.« Maurya deutete mit einem Kopfnicken über den Fluss.
Jespersen musterte sie schweigend mit seinen weit auseinanderstehenden, dunklen Augen. Ihr war unbehaglich zumute unter diesem Blick; sie kam sich vor, als würde sie einer sorgfältigen stereoskopischen Messung unterzogen. »Seine Heiligkeit. So muss er angeredet werden«, erwiderte er schließlich. »Er ist ein absoluter Herrscher von Gottes Gnaden.«
»Ist das Ihr Ernst?«, fragte Ailif. »›Auf den Tod …‹«
»Was meinen Sie, Professor Avrams?«
Maurya empfand Erleichterung, als Jespersen seinen forschenden Blick von ihr abwandte.
»Sie sagten, sie konnten sich auf den Tod nicht leiden, Commander Wolf und der Mufti am Ufer da drüben.«
»Nun, so sagt man doch. Aber das ist natürlich nicht wörtlich zu nehmen. Und es spielt ja auch keine Rolle mehr, Professor.«
»Hm.«
»Seine Heiligkeit ist der Ansicht, Gott habe ihm dieses Land verheißen und es ihm geschenkt, um hier an der Schwelle des Paradieses mit den ihm anvertrauten Auserwählten auf den Tag zu warten, da sich die Zeit erfüllt haben wird. Dann wird er sie an der Hand nehmen und in die ewige Seligkeit führen. Sie werden die Ersten sein, denn sie haben alle Prüfungen hinter sich.«
»Und Sie glauben das auch? Ich meine, Sie persönlich?«
»Ich möchte nicht unhöflich sein, aber gestatten Sie mir eine Bemerkung: Was ich persönlich glaube, ist ganz allein meine Sache.«
»Entschuldigen Sie bitte, ich hätte das nicht fragen dürfen.«
Jespersen hob die Hände. »Wir haben ihn zu respektieren. Seine Heiligkeit ist ein unnachsichtiger Patriarch im strengsten Sinne des Wortes. Er bestimmt über alles, buchstäblich über alles in seinem Reich. Selbst über Leben und Tod.«
»Wollen Sie damit sagen, er hat eigene Gerichtsbarkeit?«
Jespersen nickte. »Sie wurde den Dschiheads zugestanden. Mit ihrer Auswanderung haben sie sich absolute Freiheit und Souveränität erkauft. Der jetzige Großarchon hat schon einige aufhängen lassen.«
»Leute aus seiner Gemeinde?«
»Nein, irgendwelche Gauner, die mit dem Schiff aus dem Delta kamen oder auf einem Floß aus dem Haar, um hier ein paar Dinge mitgehen zu lassen.«
Maurya musterte, ihre Brille auf Vergrößerung gestellt, die Zeile der ärmlichen Hütten am anderen Ufer. Wegen der kastenförmigen Zisternen auf dem Dach wirkten die Behausungen seltsam unproportioniert. Am Ufer die hellen Stämmchen jener Pflanzen, die »Begleiterinnen des Flusses« genannt wurden, wie ein Staketenzaun; sie konnten die ockerfarbene Hässlichkeit des Dorfes nicht kaschieren, aber sie zogen eine deutlich sichtbare Grenze.
»Was gibt es denn da zu holen?«, fragte Ailif, der ebenfalls zum Dorf hinüberblickte.
»Es gibt immer welche, die noch ärmer sind«, erwiderte Jespersen achselzuckend.
»Und die hat Seine Heiligkeit kurzerhand aufknüpfen lassen?«
Jespersen nickte. »Um Exempel zu statuieren.«
»Ich finde das unglaublich. Und die Verwaltung von Hot Edge hat nichts dagegen unternommen?«
»Jeder auf dieser Welt weiß, mit wem er es hier zu tun hat. Wer sich darauf einlässt, ist selber schuld und tut’s auf eigenes Risiko.«
»Und die Flotte?«
Jespersen lachte. »Sie hat kein Mandat, sich über die ursprünglichen Abmachungen hinwegzusetzen. Die Dschiheads waren die ersten Siedler auf dieser Welt. Die Flotte kam erst viel später.«
»Eine Mini-Theokratie also, mit einem absolutistischen Popanz an der Spitze. Das ist wahrhaft grotesk.«
Jespersen zuckte mit den Achseln.
Ailif fasste den Tempel ins Auge, der sich hinter der Häuserzeile erhob. Ein stattliches Gebäude aus Holz, das die Sonne silbern gefärbt hatte. Dazu grün lasierte Dachziegel. Mehr ein wuchtiger Wehrbau als ein Gotteshaus.
Inzwischen war der Himmel dunkel geworden wie tiefblaue Seide. Auf der anderen Seite des Flusses waren die ersten Lichter zu sehen. Ihr Widerschein spiegelte sich auf dem Wasser.
Maurya spürte einen Stich auf dem linken Handrücken. »Übertragen diese Biester Krankheiten?«, fragte sie Jespersen.
»Noch nicht, Madam. Dazu ist der Mensch noch nicht lange genug auf dieser Welt. Aber irgendwann wird das der Fall sein, wenn die Erreger auf den Geschmack gekommen sind.«
Fünf der sechs Apostel waren in der Dämmerung aufgereiht, eine Flotte von silbernen Barken – zwei große, drei kleinere –, die in die dunkelnde Weite des Abends hinausfuhren. Darüber New Belfast und Eisauge, die beiden äußeren Planeten. Sie standen hoch am Himmel: New Belfast ein Smaragd, Eisauge ein Diamant.
Über die Flanken der Dünen hatte sich Dunkelheit ergossen. Sie sahen im vielfarbigen Mondlicht aus wie gewaltige hellhäutige Tiere, die für die Nacht unter den Sternen lagerten. Dann und wann warf der Nachtwind auf ihren Graten Sand auf, als spielte er in ihren Mähnen.
Jespersen blickte besorgt zu den Monden auf. »Heute haben sich die Apostel zusammengerottet«, sagte er. »Das bedeutet einen Tidenhub von mehr als hundert Metern. Wenn die Flutwellen sich gegenseitig auf die Schulter steigen, haben wir Monsterwellen wie Gebirge. Können Sie sich vorstellen, was da an der Küste los ist? Und im Delta? Wenn die Dijkengel bis in den Himmel steigen. Das sind die Tage der Heimsuchung. So nennen sie die Bewohner. Gott steh ihnen bei.«
»Dijkengel? Das sind die einheimischen Mangroven«, vergewisserte sich Ailif.
»Das sind die Wälder an der Küste. Ineinander verhakte elastische Bäume, die Luftkammern ausbilden, mit der Flut aufschwimmen und bis hundert Meter hohe Barrieren bilden können, die selbst Monsterwellen von gleicher Höhe standhalten. Bei Ebbe lassen sie die Luft ab und sinken in sich zusammen.«
»Und die Fische, die sich in ihren Ästen verheddert haben, werden aufgelöst und einverleibt.«
Jespersen zuckte mit den Achseln. »So ist es nun mal – jeder nährt sich von jedem.«
»Die Konstellationen der Monde sind ein wunderschönes Schauspiel«, sagte Maurya.
»Nun ja, Madam. Sie werden sich noch wundern.«
»Weshalb?«
»Sie können sehr angsteinflößend sein in den langen Nächten. Jeder hat seine eigene Ausstrahlung. Sie rauben einem den Schlaf, ängstigen einen und lasten auf der Seele, und manchmal verstricken sie einen in unentwirrbare dunkle und blutige Träume, aus denen man nur schwer wieder herausfindet.«
Jespersen blickte sie an. Der Widerschein der Monde glitzerte in seinen seltsamen Augen. Maurya lief es kalt über den Rücken.
Jonathan ließ sich mit einem Seufzer auf den Teppich in Mauryas Zimmer sinken, speichelte mit der Zunge seine Vorderpfoten ein und widmete sich der Körperpflege.
»Ich hab dich heute doch schon gründlich durchgebürstet«, sagte Maurya zu ihm.
»Gönn mir bitte meine Rituale«, erwiderte er. »Das gehört zu meiner Wellness. Außerdem habe ich derzeit nicht viel zu tun.«
»Ich hätte eine Aufgabe für dich, Jonathan«, sagte Ailif. »Für dich und für Mr. Swift.«
Jonathan hob den Kopf und blickte ihn erwartungsvoll an.
»Setz dich mit dem Universitätsnetz in New Belfast in Verbindung und sieh zu, dass du etwas über die Ursprünge dieser Sekte herausfindest, mit der wir hier konfrontiert sind. Sie nennen sich ›Dschiheads‹. Es ist eine Splittergruppe oder vielmehr Restgruppe der berüchtigten ›Krieger Gottes‹, einer fanatischen Sekte, die schon auf der Erde und später in den Glaubenskriegen auf New Belfast für blutige Anschläge verantwortlich war.«
»Mach ich. Ich aktiviere Mr. Swift und schicke ihn auf Erkundungsreise.«
»Viel Erfolg!«
»Dürfte ein mühsamer Dialog werden über zwanzig Lichtminuten Entfernung.«
»Mr. Swift soll einen Katalog erstellen und die Fragen so bündeln, dass möglichst wenig Rückfragen nötig sind«, schlug Maurya vor.
»Verstanden.« Jonathan hob den Kopf und schnüffelte. »Du riechst gut, Maurya.«
»Ist das ein Kompliment?«
»Ja. Ich mag dich.«
»Ich dich auch, mein Lieber.«