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Zweimal im Jahr kam eines der Dampfboote aus dem Delta, die Rachel oder die Queen of the River. Sie waren noch nicht fertig mit dem Anlegen, da balancierten schon die Händler unter der Last ihrer Waren über die Planken ans lehmige Ufer, hetzten keuchend die Böschung herauf, bauten blitzschnell ihre Stände auf und priesen mit lautem Geschrei ihre Waren an, die sie unter den Sonnendächern aus feuchten Tüchern und Binsen ausbreiteten: Kleider, Schuhe, Töpfe, Seife, Bartöl, Sicheln und Klingen aller Art und Form, Sämereien, Gewürze, Öl, Essig, Bambus, Zuckerrohr, eingelegte Früchte und … Pfefferminzbonbons.
Auf seiner Sänfte wurde Seine Heiligkeit, der Großarchon, unter dem weißen Baldachin auf den Markt getragen. Wir Jungen wurden tags zuvor eingeteilt: acht als Träger der Sänfte, vier als Träger des Baldachins, vier als Khelassy, die die Fächer zu bedienen hatten, um die Fliegen fernzuhalten und um Seiner Heiligkeit Kühlung zu verschaffen.
Bei solchen Gelegenheiten zeigte sich der Großarchon immer besonders herausgeputzt: Auf dem Kopf eine eng anliegende Kappe aus schwarz-grün gemustertem Kuangaleder, deren Klappen ihm bis auf die Schultern fielen, und die Augenhöhlen lila geschminkt, was seinem schlaffen Gesicht ein bedrohliches Aussehen verlieh – wenn er röchelnd das Kinn hob, weil ihn der Blähhals peinigte, konnte man fast Angst vor ihm kriegen.
Die Händler breiteten ihre Schilfmatten aus und sanken auf die Knie nieder, um ihm ihre Ehrerbietung zu erweisen, wobei sie eine unregelmäßige, mehrfach abgeknickte Reihe entlang seines Weges bildeten. Trat er bei dem einen oder anderen näher, um ihm die Ehre zu erweisen, sich für das ausgelegte Angebot zu interessieren, lüftete er sein Gewand, und der Händler beugte sich vor, spitzte die Lippen und küsste unterwürfig die dicken Knie des Großarchons. Dabei hob Seine Heiligkeit segnend den langen Stab aus dunklem Holz mit dem Löwenkopf aus blau-weißem Email.
Seine wichtigste Station war stets der Zuckerbäcker. Wir sahen ehrfürchtig zu, wie er laut schmatzend den Geschmack der Pfefferminzbonbons prüfte, bevor er einige große Tüten damit füllen und sie in seine Gemächer im Tempel bringen ließ.
Nachdem wir den Großarchon in den Tempel zurückgetragen hatten, schauten wir uns selbst neugierig an den Verkaufsständen um. Erst jetzt wagten es die Händler, den interessanteren Teil ihrer Kollektionen zur Schau zu stellen. Mit verstohlenen Blicken musterten wir die Frauenunterwäsche und die im Delta gedruckten Magazine, in denen auf Glanzpapier Mädchen abgebildet waren, die sehr wenig und oben manchmal gar nichts anhatten, und die hinter dem Rücken des Großarchons bei den Männern von Hand zu Hand gingen und heimlich angeschaut wurden.
Mehr als diese Dinge faszinierte Anzo und mich allerdings immer wieder der Scherenschleifer. Eigentlich waren es zwei: Vater und Sohn. Wir sahen gebannt zu, wie der Stein sich drehte und drehte und drehte und Ströme von Feuer spie, wenn der Alte Messer, Äxte und Meißel schärfte, während der Junge, vielleicht ein oder zwei Jahre älter als ich, kräftig das Pedal trat. Er grinste uns grimmig an und trat heftiger, sodass die Funken direkt vor unseren Füßen in den Staub fuhren oder gar auf unsere Schuhe und gegen unsere Beine stoben. Wir wichen keinen Millimeter zurück – als gelte es dem Feueratem der Hölle zu widerstehen – und kamen uns mächtig mutig vor dabei.
Meine Eltern, so erinnere ich mich, hatten jedes Mal am Markttag Streit, weil mein Vater dazu neigte, Geld für Dinge auszugeben, die wir nach Mutters Meinung nicht brauchten oder noch reichlich hatten. Zum Beispiel hielt er es immer für nötig, Schnur zu kaufen: Bindfäden, Wäscheleinen, Angelschnur, Bootsleinen, Netzleinen. Davon kann man nicht genug haben, sagte er lächelnd und entblößte seine Zahnlücken, während er die Schnur über die Breite der linken Hand aufrollte, sie in der Mitte zusammenband und in die große Schachtel legte, in der er seine Schätze hortete.
Mein Vater und meine Mutter – sie war nicht meine richtige Mutter, die war bei meiner Geburt vorausgegangen – kümmerten sich wenig um mich, und ich lernte die Freiheit, die das mit sich brachte, zu schätzen. So verbrachte ich viel Zeit mit Herumstreunen – und mit Anzo. Ich musste nur abends bei Sonnenuntergang zur Stelle sein, um zu rudern, wenn Vater mit dem Boot in den Fluss hinausfuhr und die Netze auslegte, und vor Sonnenaufgang, wenn er sie einholte. Vaters Haut war dunkel vom Licht. Darunter zeichneten sich Sehnen und kräftige Muskeln ab, wenn er das Netz aufhob und über die Schulter warf, um es hinunter zum Boot zu tragen, während ich meinen breitkrempigen Hut aufsetzte und, die Ruder über der Schulter, unter dem heller werdenden Himmel hinter ihm her trottete.
Mutter hat immer gespart, soweit ich zurückdenken kann, auch am Essen. Anzos Mutter kochte viel besser und füllte die Teller, und man konnte noch mehr haben, wenn man wollte. Nicht so bei uns. Mutter war knauserig. Fast jeden Tag gab es die Fische, die sie auf dem kleinen Markt am Ufer, wo die Frauen der Fischer den Fang ihrer Männer feilboten, nicht hatte verkaufen können. Weil sie zu klein und nichts als Gräten oder nicht mehr ganz frisch waren und schon rochen, wanderten sie in unseren Kochtopf, zusammen mit anderem Wassergetier, das sich im Netz verfangen hatte: hartschalige Kreckender oder wabbelige Zyklops, die sonst niemand essen mochte. Oft spuckte ich das Zeug in den Fluss und blieb hungrig – oder ich besuchte Anzo, um von seiner Mutter etwas zu ergattern.
Meine Mutter war stets mürrisch und neidisch auf jeden, der sich etwas kaufte, das sie sich nicht gönnte. Dabei hatte niemand im Dorf mehr als wir, außer vielleicht Grote, der Schlachter, und natürlich der Großarchon, aber dem kam es zu. Und weshalb sollte überhaupt einer neidisch sein auf den anderen, wenn wir ja doch nichts würden mitnehmen können, wenn der Tag kommt, an dem der Großarchon uns an der Hand nehmen und heimführen wird. Dann werden wir alles abstreifen und zurücklassen, weil dort, wo wir hinkommen, reichlich für uns gesorgt sein wird: für mich genug gutes Essen, für Vater viele Meter Schnüre aller Art und für Mutter – nun, alles, was sie sich wünscht und sich hier nicht leisten zu können glaubt.
Wenn ich an sie denke, sehe ich sie vor mir mit den verkniffenen Lippen in dem schmalen, eckigen Gesicht, der stets geröteten Nase, der missmutig gefurchten Stirn unter dem wirren schwarzen Haarschopf. Manchmal, wenn sie sich unbeobachtet fühlte, zeigte sie ein hungriges Lächeln, das sie hässlich machte: den Mund leicht geöffnet, als reichten die Lippen nicht über ihre etwas vorstehenden Zähne hinweg, und die Nase kraus gezogen, als nähme sie einen ekligen Geruch wahr. Oder ich sehe sie auf Knien im Wohnzimmer, wie sie mit tränenüberströmten Wangen betet und laut greint um die Gnade, bald heimgeführt zu werden. Wogegen ich, um ehrlich zu sein, nie und nimmer etwas gehabt hätte.
Den Großarchon mochte ich nicht. Schon als kleiner Junge hatte ich schreckliche Angst vor ihm. Ich konnte Gott nicht verstehen, dass er ausgerechnet diesen Mann ausgesucht hatte, die Auserwählten zu führen, und nicht einen anderen aus der Gemeinde. Er war laut und herrisch. Was vermutlich sein Amt mit sich brachte, denn er war auch unser Lehrer, der uns im Tempel unterrichtete. Und er war hässlich. Ein grauer Haarkranz umgab die fettige Kuppel seines Schädels, der mit Altersflecken übersät und hauptsächlich mit der Erzeugung von Schuppen beschäftigt war, die unablässig auf seine lilafarbene Soutane herabrieselten, wo sie kleben blieben. Aus seinen Ohren sprossen dicke graue Haarbüschel, als wäre sein Schädel mit Staubmäusen gefüllt. Seine Augenbrauen, borstig wie Raupen, wippten bedeutungsvoll auf und ab, wenn er sprach, als wollten sie Akzente setzen. Und er sprach unablässig mit seiner zischelnden Stimme, die bei der geringsten Erregung – und dazu bedurfte es nicht viel – so gehaltvoll wurde, dass man gut daran tat, einen Schritt zurückzutreten, um nicht weggeschwemmt zu werden von seinen Argumenten. Am schlimmsten war es, wenn er sich über meine Schulter beugte, um zu sehen, was ich in mein Heft geschrieben hatte, und ich von seinem Pfefferminzatem befächelt wurde – er lutschte unentwegt Pfefferminzbonbons – und die Hitze seines überdimensionalen Kropfes dicht an meiner Wange spürte, in dessen Innern es knarzte und pfiff wie in einem zum Bersten geblähten Hautsack. Und sein geölter Bart stank, als hätte er ihn versehentlich in einen Teller kalter, fettiger Fischsuppe gehängt.
Nein, ich mochte ihn nicht. Ich verabscheute ihn. Weshalb hat Gott der Herr nicht Nuter, den Schreiner, oder Esra, den Gemüsehändler, als Großarchon und Lehrer genommen, um die Erwählten zu führen. Beides sind gottgefällige und sanfte Männer, besonders Esra mit seiner Knollennase zwischen den dicken Tränensäcken unter den gutmütigen Augen, Esra, der während der Predigt im Tempel immer so hemmungslos weint, dass Ströme von Tränen unter seinen Lidern hervorquellen, die seinen langen schwarzen Bart nässen, bis er glitzert wie frischer Teer, um schließlich auf seine Hemdbrust zu tropfen, wo sie sich mit dem Schweiß vermischen, den ihm die Hitze unablässig aus seinem dicken weichen Körper treibt.