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»Suk und Anzo, steht auf und tretet heraus!«
Jetzt war es so weit.
Ich stand auf, schob Anzo auf den Gang und trat neben ihn.
Der Großarchon schloss den gefürchteten schmalen Wandschrank auf, in dem er seine Gerten aufbewahrte. Er wählte eines der Rohre aus und ließ es probeweise auf sein Pult herabsausen. Die Schüler zuckten zusammen.
»Suk!«
»Ja, Eure Heiligkeit.«
»Du hast behauptet, Anzo habe dir gesagt, dass der Dongo um Gnade gefleht hat. Was soll dieses gottlose, verlogene Geschwätz? Der Allmächtige hat Anzo gestraft und ihm auf ewig den Mund verschlossen. Und du willst ihn gehört haben?«
Ich zuckte mit den Achseln.
»Ich habe dich etwas gefragt!«, schrie der Großarchon. Wieder sauste die Gerte herab und knallte aufs Pult. »Also rede gefälligst!«
»Er hat es zu mir gesagt, Eure Heiligkeit«, stieß ich hervor und sah wieder den entsetzten, fassungslosen Blick Anzos, den er mir aus seinen dunklen Augen zuwarf.
»Wie hat er es dir gesagt, wenn er doch nicht reden kann?«
»Er … er redet mit den Händen.«
»Mit den Händen? Und du gottloser Idiot verstehst, was er mit den … Händen sagt?«
Ich nickte und starrte den Boden an.
»Sieh mich an, wenn du mit mir sprichst! Und antworte!« Der Blähhals unter der Soutane wogte.
»Ja, Eure Heiligkeit.«
»Wo hast du das gelernt?«
»Er hat es mir beigebracht.«
»Und wo hat er es gelernt?«
Ich zuckte mit den Achseln.
»Dann frag ihn!«
Anzo gestikulierte hektisch.
»Er sagt, von seiner Mutter.«
»Sagt er.«
»Ja, Eure Heiligkeit.« Ein feiges Winseln entwich meiner Brust – ich schämte mich dafür.
»Von dieser unreinen, gottlosen Schlampe«, donnerte der Großarchon. Alle zogen den Kopf ein.
»Urgh, urgh«, presste Anzo mit gerötetem Gesicht hervor. Er funkelte den Großarchon zornig an.
Einige der Schüler mussten kichern. Sie pressten die Faust auf die Lippen, um die Lautäußerung zu unterdrücken – aus Angst, das nächste Ziel des heiligen Zorns zu werden.
Der Großarchon schlug Anzo mit der Gerte übers Ohr. Anzo zuckte zusammen, verzog das Gesicht und fasste sich an die schmerzende Stelle.
»Und was sagt er jetzt?«, fragte mich der Großarchon.
»Er hat nichts gesagt, Eure Heiligkeit«, erwiderte ich.
Wieder unterdrücktes Gekicher hinter uns.
»Was für eine teuflische Hinterhältigkeit!«, fuhr uns der Großarchon an. »Welche Infamie, sich hinter dem Rücken von allen anderen mit den Händen zu unterhalten, geheime Zeichen auszutauschen, üble Absprachen zu treffen. Man sollte euch beiden die Hände abhacken. Und der Schlampe aus dem Haar dazu. Wie kann sie es wagen, Kindern solch abartige Dinge beizubringen!«
Nun herrschte hinter uns entsetztes Schweigen über die Ungeheuerlichkeit dieser Drohungen.
»Ja. Ich werde nicht euch, sondern eure sündigen Hände bestrafen.«
Schon beim dritten Hieb auf die ausgestreckte Hand trieb mir der Schmerz die Tränen in die Augen.
»Spürst du die Gerechtigkeit Gottes?«, fragte der Großarchon schnaufend. »Spürst du sie?«
»Ja, Eure Heiligkeit«, wimmerte ich.
»Lauter!«
»Ja, Eure Heiligkeit. Ich spüre sie.«
Als es vorbei war, steckte ich die gepeinigten Hände schluchzend in die Achselhöhlen. Die Schüler wandten sich betreten von mir ab, keiner ließ auch nur eine Geste des Mitleids erkennen. Sie hatten Angst und vermieden alles, was den Zorn des Großarchons auf sie hätte ziehen können.
Anzo zählte der Großarchon fünfzehn auf jede Hand. Nur am Anfang zuckte er zusammen, dann ließ er es über sich ergehen und blickte den Großarchon mit seinen dunklen Augen ruhig an.
»Was sagt er?«, fragte der Großarchon und sah mich misstrauisch an.
»Er hat nichts gesagt, Eure Heiligkeit«, versicherte ich.
»Lüge nicht!«
»Ich sage die Wahrheit, Eure Heiligkeit«, flehte ich. »Er hat nichts gesagt.«
»Ich spüre seinen teuflischen Trotz«, rief der Großarchon zornig. »Und den werde ich ihm austreiben, diesem gottlosen kleinen Hund!«
Die Sonne stand bereits über dem Horizont, und endlich durften wir nach Hause gehen. Nur Anzo nicht. Ich blieb an der geschlossenen Tür stehen und lauschte.
»Zieh die Hose runter!«, hörte ich den Großarchon brüllen. »Begreifst du, was ich dir befehle, du Krüppel? Hose runter!«
Und dann hörte ich die Gerte auf nackte Haut herabsausen, immer wieder und wieder und wieder. Das war der einzige Laut, den ich durch die Tür hörte.
In diesem Moment hätte ich dem Großarchon am liebsten mein Messer in den Kropf gestochen – so wie er Grotes Messer ins Herz des Dongos gestoßen hatte.
Was habe ich da für entsetzliche Gedanken?, schoss es mir durch den Kopf.
Ich schlich nach hinten in die Haupthalle des Tempels. Grelle Lichtfinger stachen durch die Fensterschlitze in den dunklen Raum. Ich kniete vor dem Altar nieder und blickte zu dem großen Gemälde auf, das die vier tanzenden Heiligen zeigte – Mohavir, Mose, Mahatma und Mohammed –, wie sie zu Füßen des Allmächtigen, auf einem Bein stehend, das andere angewinkelt, die Hände erhoben und sich mit den Fingerspitzen berührend, ihren Reigen vollführten. Darüber das Antlitz Gottes: zwei dunkelviolette Augen, wie glitzernde Steine, unnahbar kalt und stechend. Der Blick ließ mich schaudern, obwohl es heiß war in der Halle. Da war keine Güte, keine Gnade. Trotzdem kniete ich nieder und flehte Ihn an.
»Warum lässt Du es zu, dass er so leidet, allmächtiger, barmherziger Gott? Er hat sich doch für eines Deiner Geschöpfe eingesetzt, dessen verzweifelte Schreie er hörte.«
Ich flehte, dass Er wenigstens die Schmerzen von Anzo nehmen möge, weil er selbst ja nicht um Gnade bitten konnte. Und ich bat um Vergebung wegen der schrecklichen Unachtsamkeit, die mir widerfahren war, als sie den gefangenen Dongo getötet hatten und ich in der Aufregung unser gemeinsames Geheimnis verraten hatte.
Der Allmächtige: nur unergründliche Augen und wallendes dunkles Haar, keine Nase, kein Mund. Stattdessen loderte zwischen Seinen erhobenen schmalen Händen eine Flamme, die Er gegen den Wind aus der Wüste schützte. So hatte Er die Urgemeinde hierhergeführt, um den Dschiheads, wie sie einst spöttisch genannt worden waren – ein Name, den sie längst mit Stolz trugen –, auf Paradise eine neue Heimat zu geben.
Der Allmächtige starrte mich an. Ich wandte mich ab, ging hinaus und tastete tränenblind nach meinen Sandalen, die unterhalb der Treppe zum Tempelvorplatz standen.
Ich erinnerte mich daran, wie mir mein Vater, als er mir meine ersten Sandalen kaufte, eingeschärft hatte, den Tempelvorplatz und erst recht den Tempel niemals – niemals! – mit Schuhen an den Füßen zu betreten. Das sei eine gotteslästerliche Sünde. Den Sinn dieser Vorschrift begriff ich nie, waren die Füße der Dorfbewohner doch meistens schmutziger als ihre Schuhe, die an der Treppe abgestreift werden mussten. Und die Steinplatten waren abends, selbst wenn sie mit Flusswasser geflutet worden waren, oft so heiß, dass man sich die Füße verbrannte.
Doch ich hatte eine Lektion nicht vergessen. Es lag einige Jahre zurück: Ein Händler hatte sein Boot am Landungssteg festgemacht und kam heraufgestapft, um seine Waren anzubieten. Vielleicht kannte er die Vorschrift nicht, jedenfalls streifte er seine Schuhe nicht ab, als er die Treppe zum Tempelvorplatz erstieg. Er blickte erschrocken, als er sich im Nu umringt sah und gepackt wurde. Sie schleiften ihn zum Bock, banden ihn darauf fest und rissen ihm die Schuhe von den Füßen. Dann gaben sie ihm mit der geflochtenen Peitsche aus Dongoleder je fünfzig Hiebe auf jede Fußsohle. Er schrie vor Schmerzen, und als er wieder losgebunden wurde, wankte er weinend über den Landungssteg zu seinem Boot, seine elenden Schuhe in der Hand. Einige der Dorfbewohner lachten und warfen ihm Steine nach. Ich war starr vor Entsetzen und Mitleid. Die blutigen Fußabdrücke auf dem Landungssteg glitzerten im Licht des Abendhimmels.
Nun ging ich selbst zum Fluss hinunter – obwohl die Sonne schon ziemlich hoch über dem Horizont stand und ich nur einen Hut ohne Schleier auf dem Kopf hatte – und legte meine roten, geschwollenen Hände auf die kühle Haut einer Begleiterin des Flusses. Ich spürte ihre Zuwendung. Es war eine Labsal, ihren schlanken weichen Leib zu berühren und ihr zuzusehen, wie ihre Trinkrüssel müßig Schlangenlinien in die Strömung des Flusses malten.
Ich schmiegte mich an sie, hielt mich ganz still und weinte. Es waren Tränen des Zorns und der Enttäuschung, und zum ersten Mal dachte ich ans Weglaufen – für immer.
Ich hörte ein leises Schnauben, und als ich den Blick hob, sah ich in die aktinisch hell blitzenden Augen zweier Dongos, die ihren Kopf aus den gelbbraunen Fluten hoben. Ihre Rüssel bewegten sich fragend.
Hörten sie Anzos stumme Schreie?
Später, als ich zurückkam, standen Anzos Sandalen immer noch unten an der Treppe, klein, abgetragen und einsam. Ihr Anblick war so herzzerreißend, dass ich schluchzte.
Am Abend – ich lag auf meiner Matte und hatte schon ein wenig geschlafen – klopfte es an unserer Haustür. Mein Vater ging nach draußen. Ich hörte eine erregte Frauenstimme und dann meine Mutter aus dem Schlafzimmer rufen: »Lass bloß dieses Weib nicht rein! Du weißt doch, wie die Leute reden.«
»Bist du noch wach, Suk?«, rief mein Vater.
»Ja«, sagte ich, stand auf und ging nach vorn.
»Anzos Mutter fragt, ob du weißt, wo er ist. Ob er vielleicht hier ist.«
»Niemals«, rief meine Mutter aus dem Schlafzimmer. »Wie kommt die nur auf so etwas!«
»Er musste im Tempel bleiben«, berichtete ich mit stockender Stimme. »Der Großarchon hat ihn dabehalten. Er hat ihn bestraft.«
Anzos Mutter sah mich mit schreckgeweiteten Augen an. Mir war mulmig zumute.
»Weshalb?«, fragte sie.
Ich zuckte mit den Achseln. »Weil wir mit den Händen reden.«
»Wie soll der Junge denn anders reden?«, rief sie wutentbrannt. »Dieses Ungeheuer!«
Sie drehte sich um und verschwand in der Dunkelheit.
»Was hat diese Schlampe da Lästerliches gesagt?«, lamentierte Mutter. »Und das an unserer Tür! Gott sei unseren Seelen gnädig. Sie hat Seine Heiligkeit beleidigt.«