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Ailif verschränkte die Hände im Nacken, streckte die Füße von sich und starrte an die Decke. »Mein Vater ist viel im System herumgekommen, Maurya. Er war auch einige Male hier auf Hot Edge. Er hat mir von den Dongos erzählt und den geheimnisvollen Riesenraupen. Und auch von den elastischen Wasserbäumen, diesen Dijkengeln, die hundert Meter oder mehr in die Höhe wachsen, wenn das Meer ansteigt, sich der Flut entgegenstemmen und die Wellen brechen, die sonst weit das Delta hinaufdonnern würden. Er war auch auf Eisauge und erzählte mir von den blutroten Luftquallen, die nachts aus den Gletscherspalten aufsteigen und sich von den Nordostwinden zu den eisfreien Zonen des Äquatorgürtels tragen lassen, um dort ihre Hunderte Meter langen giftigen Tentakel auf die Büffelherden abzuschießen und den sterbenden Tieren das Blut auszusaugen. Es ist ein schauriger Anblick, sagte er, wenn sie sich wie blutiger Schaum um die erlegte Beute drängen, um sich ihren Anteil zu sichern, bevor sie sich von den Konvektionsströmen wieder hochtragen lassen und in die Eisregion zurückkehren, verfolgt von den Hirten auf ihren gepanzerten AG-Plattformen, die mit Laserkanonen Jagd auf sie machen und sie zerschießen, bevor sie sich in ihren Schlupfwinkeln durch Teilung vermehren können. Das waren Geschichten ganz nach unseren Herzen. Batta und ich hingen an seinen Lippen.« Ailif seufzte und rieb sich mit den Fingerspitzen die Schläfen. »Bevor er starb, sagte er etwas sehr Seltsames zu mir. ›Ailif‹, sagte er, ›ich sterbe zwar bald, wenn ich dem Arzt glauben darf, aber deshalb bin ich nicht tot. Ich lebe dann von dir aus gesehen in der Vergangenheit. Und wie ich da lebe! Vielleicht ergibt sich für dich ja irgendwann die Gelegenheit, mich dort zu besuchen. Am besten so vor zwanzig, dreißig Jahren. Das war eine gute Zeit für deine Mutter und mich. Da besuchst du uns, ja? Versprochen?‹ – ›Wie soll denn das gehen, Vater?‹, fragte ich. ›Wenn ich dich je besucht hätte, wüsstest du doch davon.‹ – ›Was ist das für ein grässlich lineares Denken, Ailif!‹, erwiderte er kopfschüttelnd. ›Sei nicht so zaghaft, Junge. Streif die Ketten der Kausalität ab. Sie ziehen dich krumm und lähmen den Geist. Die Vergangenheit lebt, ja, sie pulsiert vor Leben! Die Menschen meinen, was in der Zeit zurückliegt, sei erledigt, abgestorben, erstarrt. Irrtum! Die Vergangenheit ist für die, die in ihr leben, prallvolle Gegenwart! Wenn du an meine Tür klopfst, Junge, machen wir ein frisches Fass Zeit auf und begründen ein nagelneues Universum.‹ Das sagte er, und zwei Tage später starb er. An Herzversagen.«
Maurya schüttelte den Kopf. »Eine seltsame Auffassung. Aber ein Abschied, der nicht der Logik entbehrt und irgendwie tröstlich ist.«
»So empfinde ich das auch. Ich stelle mir vor, dass er jetzt in seiner Zeit lebt und jeden Augenblick genießt. Ich weiß ihn dort in der Vergangenheit gut aufgehoben. Irgendwie.«
»Und deine Mutter? Sie ist doch auch gestorben, nicht wahr?«
»Ja. Und mein Bruder …« Ailif machte eine abwehrende Handbewegung und setzte sich auf. »Ich spreche nicht gern darüber.«
»Du brauchst nicht …«
»Das sind meine schrecklichsten Erinnerungen.« Ailif fuhr mit der geballten Faust über die Tischplatte, als drehe er einen alten Mühlstein. »Wir waren vierzehn, mein Bruder Batta und ich, Zwillinge, unzertrennlich. Aber ich hatte Grippe und musste im Bett bleiben. Er und Mutter gingen zum Weihnachtsbasar an der St.-Patrick-Kathedrale. Sie wollten noch ein paar Geschenke kaufen.«
»O Gott, der Sprengstoffanschlag auf dem St.-Patrick-Markt! Ich erinnere mich. Ganz New Belfast war erschüttert und empört über diese furchtbare Bluttat.«
Ailif zog das Ledermäppchen aus der Hemdtasche, in dem er immer zwei, drei Skalpelle stecken hatte, und holte ein kleines Stück durchsichtige Folie heraus.
»Was ist das?«, fragte Maurya.
Er reichte es ihr.
»Der Leopard«, sagte sie. »Dein Sternzeichen?«
»Unser Sternzeichen. Er hatte es in der Hand, als man ihn fand – das heißt das, was von ihm noch übrig war. Wahrscheinlich hatte er es gekauft, um es mir zu Weihnachten zu schenken.«
Jonathan erhob sich vom Teppich, ging zu Ailif und legte ihm den Kopf aufs Knie. Ailif kraulte ihm die Ohren und hatte die Augen geschlossen. Maurya sah, dass er mit den Tränen kämpfte.
»Und dein Vater?«, fragte sie.
»Er war zu dem Zeitpunkt im äußeren System, bei den Eisauge-Monden. Er kam erst zwei Monate später nach New Belfast zurück. Schneller ging es nicht. Er war krank, als ich ihn wiedersah.« Ailif seufzte. »Er war damals schon schwer verstrahlt. Dreißig Jahre als Triebwerksingenieur auf Raumschiffen, das hinterlässt seine Spuren. Er war durchsiebt von Strahlung. Aber er hat seinen Beruf über alles geliebt. Natürlich hat er sofort abgemustert, um sich um mich zu kümmern.« Er zuckte mit den Achseln. »Der Schmerz saß tief in uns beiden, ich spüre ihn noch heute. Und den unbändigen Zorn auf den Täter. Aber der hatte sich buchstäblich in Luft aufgelöst. Man fand ein Bekennervideo. Ein blasses nichtssagendes Gesicht, das unter einer lilafarbenen Kapuze hervorgrinste. Ein Dutzendgesicht, austauschbar wie eine leere Patronenhülse. Eine drohend erhobene Faust und albernes frommes Gewäsch.« Ailif stand auf und ging zum Fenster; Jonathan wich nicht von seiner Seite. »›Jeder Gotteskrieger trägt sein Ziel in sich wie ein abgefeuertes Geschoss.‹ Und so weiter. Mein Zwillingsbruder und meine Mutter …« Er schüttelte den Kopf. »Es war schauerlich. Man hatte die Reste der Opfer zusammengetragen und in einer Sporthalle in der Nähe auf provisorischen Tischen aufgebahrt. Einhundertzweiundachtzig Tote. Ich fand Batta …« Ailif unterdrückte ein Schluchzen. Jonathan rieb den Kopf an seinem Knie. »Aber vom Becken abwärts war nichts mehr da. Das Laken ruhte flach auf der Unterlage. Wo seine Beine hätten sein müssen, war … Leere. Nichts hat mich im Leben je so erschüttert wie dieser Anblick des Lakens, das flach auf der Tischplatte lag. Nichts. Es haute mich buchstäblich um. Ich stürzte hin und war einige Minuten lang weggetreten.« Jonathan blickte mit einem leisen Winseln zu Ailif auf. »Mutter wollten sie mir erst gar nicht zeigen. Aber ich bestand darauf. Der Pathologe, ein großer dürrer Schwarzer mit türkisfarbener OP-Maske und Latexhandschuhen, zog das Laken behutsam herab und entblößte Stirn und Augen. Ich griff danach, um das Gesicht freizulegen, doch er hielt den Saum des Lakens fest und schüttelte den Kopf. So sah ich nur ihre Augen, die leer durch mich hindurchstarrten. Ich strich mit den Fingern über ihr Haar. Es fühlte sich an wie immer: drahtig und doch weich. Dann machte ich kehrt und rannte durch endlose Reihen von Tischen, die mit Laken bedeckt waren. Bei der Beerdigung erfuhr ich, weshalb der Pathologe mir den Blick auf ihr Gesicht verwehrt hatte. Ein Metallstück hatte ihr bei der Explosion den Unterkiefer weggerissen.«
Die Bombe hatte nicht nur auf dem St.-Patrick-Weihnachtsmarkt schreckliche Verheerungen angerichtet, sondern auch den Raumzeitpunkt, an dem der Anschlag stattgefunden hatte, unwiederbringlich zerstört – zumindest in Ailifs Erinnerung, in seinem Innern. Eine kalte Leere hatte sich in ihm aufgetan. Es fiel ihm schwer, sich in der Wirklichkeit jener Wintertage zurechtzufinden; sie schienen wie von grauen Spinnweben verhangen, die er nicht durchdringen konnte. War es Verdrängung oder heilsames Vergessen? Scheu schlich er am Rande der Massenbeerdigung herum, als gehörte er nicht zu den Trauernden, starrte in das einsetzende Schneetreiben, das der graue Himmel über die Trauergemeinde ausstreute, und hielt sich die Ohren zu, als die Namen der Opfer verlesen wurden.
Nachts, im Halbschlaf, kroch seine Hand in die andere Hälfte des Doppelbetts hinüber in der vagen Hoffnung, dass das alles nur ein schrecklicher Traum gewesen war, aber er fand keinen warmen lebenden Körper in der Dunkelheit, keinen Batta. Das Laken war glatt und kühl, und die Atemzüge, die er vernommen zu haben glaubte, waren wohl seine eigenen gewesen. Es war das grausamste und einsamste Weihnachten seines Lebens.
Aber die Demütigungen sollten erst noch kommen. Da er kein Vollwaise war, wurde er nicht zur Adoption freigegeben. Da aber die Ankunft seines Vaters erst in zwei Monaten zu erwarten war, bestimmten die Behörden seine Tante Selma zum vorläufigen Vormund, ausgerechnet Selma, die ältere Schwester seiner Mutter: herrschsüchtig, besserwisserisch und sparsam bis zum Geiz. Seine Mutter hatte sie nicht leiden können und keinen Kontakt mit ihr gepflegt, der über Geburtstags- oder Feiertagsgrüße hinausging. Sein Vater hatte sie verabscheut, es hatte ihn Stunden der Überwindung gekostet, bis er seinen Namen unter eine Grußkarte setzte, und Nachrichten mit ihrem Absender öffnete er grundsätzlich nicht, sondern löschte sie unbesehen. »Die will bloß wieder schnorren«, knurrte er.
Nun war ihre Stunde gekommen. Ailif musste zu ihr ziehen, weil sie sein Elternhaus vermieten wollte. Die Behörden untersagten das, aber sie setzte durch, dass sie zumindest das Zimmer, in dem er und Batta geschlafen hatten, zeitweilig untervermieten durfte, angeblich, um die Beerdigungskosten und seinen Unterhalt zu zahlen. Ihren Wutausbrüchen entnahm er, dass ihr das nicht gelang, und es stundenweise zu vermieten wagte sie doch nicht, aus Angst vor seinem Vater. Trotzdem: Er musste sein Zimmer räumen.
Er fügte sich zähneknirschend, aber nicht ohne vorher den Schmuck seiner Mutter in einen Plastikbeutel zu stecken und im Garten unter den Rosen an der Mauer zu vergraben. Selma durchsuchte das ganze Haus, wühlte mit ihren Wurstfingern im Wäscheschrank seiner Mutter. »Sie hat doch Ohrringe gehabt, Broschen … Hat sie die etwa verscherbelt, um euch Fratzen auf dem St.-Patrick-Markt etwas zu kaufen? Das sähe ihr ähnlich, dieser einfältigen Ziege. Für ihre Zwillinge war ihr ja nichts zu teuer. Das hat sie nun davon!«
Er biss die Zähne zusammen und zuckte mit den Achseln.
Ihm wurde ein winziger unbeheizter Raum unter dem Dach zugewiesen, nicht größer als eine Besenkammer. Er fror, dass ihm die Zähne klapperten und er nicht einschlafen konnte. Seine beiden Cousins, Daniel, so alt wie er, und Rupert, ein Jahr älter, beide gefräßig und feist wie ihre Mutter, nahmen auf ihre arrogante Art wenig Notiz von ihm, fläzten schnaufend auf dem Sofa vor dem Bildschirm, der die ganze Wand des Wohnzimmers einnahm, und knabberten geröstete Echsenschenkel oder stopften sich mit Süßigkeiten voll, die ihnen ihr Vater von seinen Fahrten mitbrachte.
Wenn sie mit ihrer Mahlzeit fertig waren, bekam er seinen Teller vor die Tür gestellt. Er hatte Selma dabei beobachtet, wie sie Essensreste von den Tellern ihrer Söhne scharrte und für ihn warm machte. Nach Fleisch stocherte er vergebens, Daniel und Rupert gönnten ihm nichts. Und von der Nachspeise sah er auch nie etwas.
Onkel Ernest, ein großer knochiger Mann Anfang fünfzig von auffallend dunkler Hautfarbe, arbeitete als Speisewagenkellner auf dem Sibirian. Er kam jede Woche für zwei Tage nach Hause, nachdem er den Kontinent von West nach Ost und wieder zurück durchquert hatte. Und immer brachte er einen Rucksack voller Lebensmittel mit, die er auf dem Tisch ausbreitete und die Selma schleunigst verschwinden ließ: Gemüsekonserven, Büchsenfleisch, Würstchen, Kekse, Chips. Übriggebliebene Verpflegung, versicherte er grinsend. Sein knochiges Gesicht hatte etwas Scheues, Duckmäuserhaftes, das gar nicht zu seiner hoch aufgeschossenen Figur passen wollte. Die verstohlenen Gesten, mit denen er seine Schätze hervorkramte, unterstrichen diesen Eindruck, ließen auf Beutemachen schließen, auf Raubzug. Wahrscheinlich klaute er die Sachen aus den Vorräten des Speisewagens.
Selmas Augen leuchteten triumphierend, und ihre Lippen schmatzten, wenn sie die Beute in ihrem Küchenschrank verschwinden ließ. Manchmal fiel auch für Ailif etwas ab: ein paar Kekse oder Chips aus aufgeplatzten oder nass gewordenen Verpackungen.
Als schließlich sein Vater kam und ihn erlöste, in seinem silbernen Overall unter dem dunkelblauen Uniformmantel mit den drei silbernen Sternen am Ärmel und auf den Schulterstücken, kam er ihm vor wie ein Ritter von König Artus’ Tafelrunde, der erschienen war, um ihn zu befreien.
»Du sagst, du hast Unterhaltszahlungen für deinen missratenen Sprössling überwiesen?«, kreischte Selma und schürzte ihre lila geschminkten Schmatzlippen. »Die paar Kröten haben gerade für die Nägel in den Särgen gereicht.«
»Meines Wissens hat die Kommune die Beerdigung bezahlt«, erwiderte sein Vater.
»Die Beerdigung, ja, aber nicht die Särge. Und für deine Lieben haben wir« – Selma hob zwei ihrer verschwenderisch beringten Wurstfinger – »zwei Särge gebraucht, obwohl« – sie drehte den Daumen nach oben – »einer genug gewesen wäre bei dem, was von ihnen übrig war.«
»Dein Mitgefühl ist überwältigend, Selma«, sagte sein Vater und fasste ihn an der Schulter. Ailif spürte, wie die Hand seines Vaters zitterte. »Komm, Junge, wir gehen.«
Sein Vater hatte am Flughafen einen Elektroroller geliehen. Zusammen fuhren sie nun zum Friedhof. Das große Gemeinschaftsgrab war mit einer dicken Schicht aus stinkenden Blumen bedeckt, die gefroren und dann beim letzten Tauwetter verfault waren. Sie gingen daran entlang und betrachteten die Holztafeln, die wie aufgestellte Ruder aus der Erde ragten. Als sie die Namen gefunden hatten, verharrten sie schweigend. Ailif betrachtete seinen Vater von der Seite. Er hatte ihn größer und kräftiger in Erinnerung. War er geschrumpft? Er ging gebeugt, das abgehärmte Gesicht war wie versteinert, und auch Ailif fühlte einen schweren Stein, der quer in seiner Brust lag und ihn beklemmte, sodass er nur flach und zittrig Luft holen konnte. Er starrte schweigend in den fahlen Winterhimmel. Der Frühling würde noch eine Weile auf sich warten lassen, aber nun, da sein Vater zurück war, würde alles besser werden. Er hoffte das so sehr.
Danach fuhren sie zu St. Patrick. Die einstige Kathedrale war schon vor Jahren in ein Museum umgewandelt worden, aber den Weihnachtsmarkt hatte man weiterhin auf dem Vorplatz abgehalten. Dort, wo sich der Selbstmordattentäter in die Luft gesprengt und es die meisten Toten gegeben hatte, waren auf den Pflastersteinen dicke farbige Wachspfützen zu sehen – von den zahllosen Kerzen, die die Menschen für die Toten entzündet hatten. Entlang der Ziegelmauer, in der die Einschläge der Bombensplitter noch deutlich sichtbar waren, war zusammengerechtes Laub aufgehäuft. Es roch herbstlich, nach Feuchtigkeit und Tod.
»Hier sind sie …« Der Schmerz schnürte Ailif die Kehle zu.
Sein Vater nickte stumm und legte den Arm um ihn.
An der Wand des Seitenschiffs stand ein Gerüst, und von oben waren Stimmen zu hören. Handwerker waren gerade dabei, ein Buntglasfenster einzusetzen; vermutlich war es bei der Explosion zu Bruch gegangen.
Auf dem Platz vor dem Portal spielten einige Jungen Fußball, trotz der Kälte in kurzen Hosen und kurzärmeligen Trikots. Ihre Rufe waren frisch und kämpferisch, voller Spielfreude und Lebenslust. Auch Ailif und Batta hatten hier häufig gespielt.
Die kahlen Zweige der Bäume ragten schwarz in den Winterhimmel. Die Luft stand still, es war kein Hauch zu spüren. Und auch die Zeit schien innezuhalten, als gleite sie ins Nichts, und plötzlich begann es aus diesem Nichts heraus zu schneien. Träge sanken dunkle Flocken aus dem Grau des Himmels, die sich über ihren Köpfen auf wunderbare Weise in weiße Kristalle verwandelten und leise knisternd auf der Stirn und den Augenlidern zerschellten oder in den schwarzen Pfützen auf dem rissigen Asphalt ertranken. So kostbar geformte Gebilde – in Sekundenschnelle ausgelöscht. Einige Flocken blieben in den buschigen Augenbrauen seines Vaters hängen, und mit dem Handrücken wischte er sich die Feuchtigkeit aus dem Gesicht.
»Es ist der Schnee«, sagte er, als müsse er sich dafür entschuldigen.
Ja, der Schnee, Vater.
Ailif ergriff die Hand seines Vaters. Sie war kalt. »Sie fehlen mir so«, schluchzte er.
»Mir auch, mein Junge. Jetzt habe ich nur noch dich.«
Sein Vater drückte ihn noch fester an sich, und das war der Moment, den Ailif seit Monaten herbeigesehnt hatte. Endlich konnte er weinen. Die Last des Steins in seiner Brust ließ nach, er konnte wieder atmen.
»Hast du Hunger?«, fragte sein Vater.
»Ja«, sagte er. Und dann noch einmal: »Ja.«
»Dann lass uns was essen gehen.«
Die Monate nach dem Tod seiner Mutter und seines Bruders waren entsetzliche Monate für Ailif gewesen, und als sein Vater endlich aus dem Orbit kam und ihn in die Arme schloss, war dem Jungen bewusst, dass er auch ihn nicht lange bei sich haben würde, krank, wie er war, todgeweiht, das Gewebe seines Körpers durchsiebt von harter Strahlung.
Maurya hingegen hatte eine glückliche Jugend gehabt. Sie erinnerte sich noch lebhaft an die wunderbaren Ferien, die sie mit ihren Eltern und ihrer älteren Schwester Carol jedes Jahr auf dem Südkontinent verbracht hatte. Als Kassierer bei der Ulster Credit verdiente ihr Vater genug, dass die ganze Familie einen vollen Monat in den Süden fahren konnte, während im Norden Schneestürme tobten und manchmal sogar die großen Expresszüge mit ihren nuklear befeuerten Lokomotiven nicht mehr durchkamen und ihren Betrieb einstellen mussten, weil meterhohe Schneewehen die Schienen begruben.
Sie stiegen in einem schönen alten Hotel in Bantry ab, das Majestic hieß und ein hochherrschaftliches Flair von orientalischem Luxus und viktorianischer Gediegenheit zu imitieren verstand. Im Garten des Hotels blühten die Mangobäume und die Rosen und der weiße Mohn. Und eine Fontäne schoss dort in die Höhe, zu der am Morgen die Flugechsen kamen, um ihr Bad zu nehmen. Sie flogen von den Palmen auf, in denen sie die Nacht verbrachten, sausten in pfeilschnellem Flug heran und balancierten sekundenlang auf dem Gipfel, um sich die Brust zu benetzen – bis der nächste Badegast angestürmt kam und sie vertrieb, um seinerseits das Nass zu genießen.
In der Früh war Maurya immer die Erste auf den Beinen. Sie liebte den Sonnenaufgang und die morgendliche Frische der Luft. Im Frühstücksraum, wo das Buffet angerichtet war, schöpfte sie sich eine Schüssel mit dampfendem Porridge voll, ließ eine dicke Schnur Honig hineingleiten und ging damit hinaus auf die Terrasse. Die Sonne hatte sich gerade über die Wipfel der Palmen hochgestemmt und hielt Hof. Maurya genoss den Balsam ihrer Wärme, die sie im Norden immer so lange entbehren mussten. Der Tag lag vor ihr wie ein Versprechen, der Himmel war wolkenlos und von lichtem Blau.
Auf einer runden dunkelblauen Matratze jenseits des Teiches saß ein alter Mann mit einem orangefarbenen Turban, in dem eine schillernde Pfauenfeder steckte. Er lächelte Maurya zu und griff nach seinem Instrument. Sein gezwirbelter schlohweißer Schnurrbart stand auf beiden Seiten weit von seinem Gesicht ab. Er war eine imposante Erscheinung. Er spielte das Zimbalin, die bauchige Drehleier mit ihren lustigen schnarrenden Untertönen, dazu sang er mit einer hohen, aber volltönenden Stimme, die so gar nicht zu seiner schmächtigen Brust passen wollte.
Die roten, grünen und blauen Echsen in den Palmen griffen seine Melodie auf und musizierten mit. Immer mehr fielen ein, und bald klang es wie ein Chor mit Orchester, dutzendfach vervielfältigt und immer lauter, bis Maurya sich die Ohren zuhalten musste. Der alte Mann hielt inne und legte sein Zimbalin beiseite, doch das Konzert der Echsen dauerte unvermindert an. Erst nach etwa fünf Minuten begann es langsam zu verebben.
Wutschnaubend erschien der Manager des Hotels auf der Terrasse. »Wie oft habe ich dir schon gesagt, du sollst nicht am frühen Morgen spielen, wenn viele Gäste noch nicht auf sind«, schimpfte er mit unterdrückter Stimme. Sein schwarzer Schnauzbart zuckte vor Empörung. »Jedes Mal dieser Radau, den du anstiftest. Hm!«
Der alte Mann nahm den Turban vom Kopf, kratzte sich das kurz geschorene weiße Haar und wies mit einer um Entschuldigung heischenden Handbewegung auf Maurya. »Sie war schon auf«, sagte er. »Da dachte ich …«
»Nein. Du dachtest nicht. Niemals! Das wäre ein Wunder.« Der Manager griff nach Mauryas leer gegessener Schüssel und ging damit Richtung Hotel zurück.
»Die Fontäne ist noch nicht an«, rief ihm Maurya nach. »Die Echsen wollen baden.«
Tatsächlich: Überall saßen sie in den Palmen und den blühenden Mangobäumen, auf Gesimsen und Dächern, die rosafarbenen Membranen durstig gespreizt.
Der Manager blieb stehen und blickte über die Schulter, als merkte er jetzt erst, dass noch kein Wasser aus der Röhre schoss. »Sie haben recht, junges Fräulein«, sagte er. »Besonders nach Nächten wie dieser, in denen keiner der beiden Monde am Himmel war, haben sie bei Sonnenaufgang das Bedürfnis nach einem Bad. Als müssten sie sich die Dunkelheit vom Leib waschen, damit ihre Farben heller erstrahlen. Ich gebe dem Gärtner Bescheid, die Pumpe einzuschalten. Einen Moment bitte.«
Keine drei Minuten später stieg die Fontäne in die Höhe, und kaum plätscherte das Wasser perlend in den Teich hinab, stoben schon die Echsen heran und balgten sich kreischend um den luftigen Badeplatz. Die Sonne malte einen flirrenden Regenbogen, und die Luft roch augenblicklich kühler und trug den Duft der Tempelblüten wie einen süßen Atem zu Maurya. Das Wasser zischelte über die Steine in der Mitte des Teichs, während der alte Mann auf seiner Matratze saß: das Gesicht der Sonne zugewandt, die Augen geschlossen, die Hände ausgebreitet.
Ihr Vater verbrachte den Morgen üblicherweise im Gebet. »Wo warst du, Maurya?«, fragte er zerstreut, als er endlich mit Mutter auf die Terrasse kam. »Hast du schon gefrühstückt?«
»Ja«, sagte Maurya. Sie und Carol vermieden es zunehmend, die Mahlzeiten gemeinsam mit ihren Eltern einzunehmen. Ihre Schwester Carol, zwei Jahre älter als sie, geriet jedes Mal aus dem Häuschen, wenn sie Platz nahmen und ihr Vater mit dem Tischgebet begann, das kein Ende nehmen wollte, während ihnen allen der Magen knurrte und das Essen kalt wurde.
»Er bringt es doch fertig und bedankt sich bei seinem Schöpfer für jede Kartoffel einzeln, während die Soße kalt wird und eine Haut kriegt und ich vor Hunger umkomme«, zischte sie, nachdem sie den nervtötenden Sermon wieder einmal hinter sich gebracht hatten und endlich – endlich! – das erlösende »Amen« gesprochen war, Vater die Augen öffnete, die Hände entfaltete und nach der Serviette griff und auch Mutter die Augen zu öffnen wagte. »Was er da treibt, ist ja fast so etwas wie rituelle Onanie.«
»Herrgott, Carol! Wie sprichst du von unserem Vater!«
»Nimm das Wort ›Gott‹ in meiner Gegenwart nie mehr in den Mund, Maurya. Nie mehr! Ich kann es nicht mehr hören.«
Maurya erinnerte sich an eine Szene, die sie mehrmals morgens auf der Terrasse des Hotels beobachtet hatte. Ein junger Mann – er mochte vielleicht Mitte zwanzig gewesen sein, mit glattem schwarzem, sorgfältig auf Glanz gebürstetem Haar, das ihm bis auf die Schultern fiel – schob einen Rollstuhl vor sich her. Darin saß ein furchtbar dünnes, fast magersüchtig wirkendes Mädchen, das offenbar nicht gehen konnte. Sie trug ein weites weißes Kleid. Ihr Alter war schwer zu schätzen, doch aus der Nähe bemerkte man, dass sie gar nicht mehr so jung war, sondern vielleicht schon Mitte dreißig sein mochte; ihr zarter Körperbau und ihre hinfällige Konstitution, ihre dünnen Arme und Beine ließen sie mädchenhaft erscheinen. Der junge Mann schob den Rollstuhl zu einem der kleinen runden Pavillons am Rand der Terrasse, klopfte die fliederfarbenen Kissen darin zurecht, hob die behinderte Frau aus dem Stuhl und bettete sie behutsam auf die Kissen. Dann nahm er neben ihr Platz, rückte seine metallgefasste Spiegelbrille zurecht und zog die Frau auf seinen Schoß. Sie legte den Kopf zurück und schloss die Augen. Der junge Mann küsste ihren Hals, und über ihr schmales blasses Gesicht breitete sich ein beseligter Ausdruck. So wiegten sie sich eng umschlungen vor und zurück, vor und zurück, während die Sonne höher stieg und die Markise des Pavillons ihre Gesichter beschattete.
Carol – sie schlief meistens lange – kam auf die Terrasse, eine Tasse Kakao in der einen, einen Sesamkringel in der anderen Hand. »Vögeln die schon wieder?«, fragte sie, deutete mit dem Kinn zum Pavillon hinüber und biss in den Kringel.
Maurya sah ihre Schwester erstaunt an. »Glaubst du wirklich, dass sie …«
»Sieh dir doch ihren Blick an. Wie sie jedes Mal die Augen verdreht, wenn er ihn ganz tief drin hat. Die reine Glückseligkeit.«
»Aber das ist doch …«
»Ja, es ist unglaublich. Der geschniegelte Affe vögelt sie jeden Morgen in aller Öffentlichkeit. Und kein Mensch nimmt Anstoß daran. Jeder tut so, als würde er nichts bemerken. Nicht einmal der Manager. Vielleicht denken die Leute, der Kerl tut doch ein gutes Werk. Verhilft dieser armen behinderten Frau zu ein bisschen Glück. Ist doch zu bewundern, oder? Dieses perverse Schwein!« Carol stieß den Rest ihres Sesamkringels so heftig in den Kakao, dass sie sich die Bluse bespritzte. »Scheiße!«, rief sie und blickte an sich hinab.
»Was regst du dich so auf?«
»Ach …«
Nun, sie hatte Liebeskummer, gestand sie später.
»Gehen wir zum Strand?«, fragte ihre Mutter.
»Nur wenn du mitkommst«, erwiderte Maurya.
»Klar komme ich mit.«
Maurya war gern am Strand, sah stundenlang den Wellen zu, wie sie heranzogen, sich aufbäumten und sich zischend verausgabten, bevor sie den Rückzug antraten, um sich mit der nächsten zu vereinigen und einen neuerlichen Ansturm zu versuchen. Doch um zum Strand zu gelangen, musste man einen ausgedehnten Palmenhain durchqueren, und dort lagen Dutzende kleine, halb vertrocknete Kokosnüsse im Gras, die ihr, als sie noch jünger war, jedes Mal Angst einjagten, weil sie wie Köpfe von Kindern aussahen. Und auch später war es ihr unangenehm, allein durch den Hain zu gehen. Ihr Vater hatte ihr vom bethlehemitischen Kindermord erzählt, bei dem König Herodes’ Soldaten alle Kinder getötet hatten. Es war, als müsste sie eine Schädelstätte durchschreiten.
»Warum räumen sie die nicht weg?«, fragte sie.
Ihre Mutter sah sie verständnislos an. »Die sind abgestorben. Man hat keine Verwendung für sie.«
Als Teenager war es Mauryas ganzer Ehrgeiz, die Signale der großen Expresszüge zu unterscheiden: das Heulen der Sirenen, das Gellen der Pfeifen und das Geläut der nuklear befeuerten Lokomotiven. Jeder Express hatte seine unverwechselbare Signatur: das Heulen des Danubian klang hohler als das des Sibirian, das Pfeifen des Aranyavas schriller als das des Ginger Arrow, das Geläut des Phaeton melodischer als das Bimmeln des Moluccan Trail. Maurya kannte sie alle und war nicht wenig stolz darauf.
»Ich habe heute Nacht den Danubian gehört«, sagte sie, als sie sich an den Tisch ihrer Eltern im Frühstücksraum setzte.
»Aber Maurya«, erwiderte ihr Vater. »Das ist unmöglich. Wir sind fünftausend Kilometer vom Nordkontinent entfernt. Das schafft nicht einmal die mächtige Lok des Danubian, sich über diese Entfernung Gehör zu verschaffen. Das ist physikalisch unmöglich. Du hast geträumt, mein Mädchen.«
»Ich habe nicht geträumt«, sagte sie trotzig. »Ich lag wach. Es war kurz nach Mitternacht, als er aus der Stadt fuhr und laut heulend die Küste entlang nach Osten stürmte, mit dem Pfeifen an jedem Bahnübergang und den präzisen Glockenschlägen, für die er bekannt ist und die er hinter sich herzieht wie eine Schleppe. Ich kenne jeden einzelnen Ton und den Takt seiner Melodie. Das ist schließlich mein Hobby.«
Ihr Vater sah sie milde lächelnd an.
»Denkst du, ich bin blöd oder habe Halluzinationen oder so etwas?« Sie war wütend.
»Nein, mein Schatz. Aber was du behauptest, ist schlechterdings unmöglich.«
»Entschuldigen Sie bitte, wenn ich mich in Ihr Gespräch einmische«, sagte ein älterer weißhaariger Mann am Nebentisch. Er hatte einen Spitzbart und trug ein groß kariertes buntes Hemd zu einer grünen Hose und weißen Strandschuhen. Nun erhob er sich, nahm seine kleine Haschischpfeife aus dem Mund und deutete eine Verbeugung an. »Patrick O’Leary ist mein Name. Ich lehre Biologie an der James Joyce in Ulster.« Krümel von Frühstücksgebäck hingen auf seiner Hemdbrust. Er bürstete sie mit der Handkante ab, als er den kritischen Blick ihres Vaters bemerkte.
Ihr Vater stellte sich und Mutter vor, dann sagte er: »Und das ist meine jüngste Tochter Maurya.«
O’Leary verbeugte sich erneut und strich sich über den Spitzbart. »Sie haben möglicherweise beide recht«, sagte er. »Es ist natürlich unmöglich, akustische Signale über eine Entfernung von fünftausend Kilometern wahrzunehmen. Trotzdem kann das junge Mädchen das Signal des Danubian-Express heute Nacht gehört haben.«
Ihr Vater runzelte die Stirn. »Wie das?«
O’Leary nickte bedeutungsvoll, sog an seiner Tonpfeife und stieß einen duftenden Rauchschwall aus. »Bei den Echsen auf New Belfast haben wir ganz erstaunliche Entdeckungen gemacht. Einige sind wahre Meister darin, Geräusche, Stimmen und Tonfolgen im Gedächtnis zu behalten und zu kopieren. Wir haben das ja heute Morgen auf der Terrasse gehört, wo sie den Musiker imitierten. Ganz erstaunliche Leistungen, die wir da festgestellt haben, das kann ich Ihnen versichern.« Er strich sich wieder über den Spitzbart, was ihm einen Hauch von Selbstgefälligkeit verlieh.
»Aber den Danubian? Ich bitte Sie, Professor. Er verkehrt auf dem Nordkontinent. Wie sollten hiesige Echsen ihn je gehört haben?«
O’Leary schwenkte seine Pfeife. »Wussten Sie, dass immer wieder einzelne Exemplare der großen Fischer-Echsen, der Joghir und der Dacoit, die hier auf dem Südkontinent heimisch sind, im Sommer auf dem Nordkontinent auftauchen, um dort zu jagen? Es ist also sehr gut möglich, dass sich eine von ihnen den Ruf des Danubian gemerkt und hierhergetragen hat.« Er nickte und deutete mit dem Pfeifenstiel auf Maurya. »Sie haben sich bestimmt nicht getäuscht, junge Frau. Denn Sie sind eine Spezialistin.«
Ihr Vater nickte, schien aber nicht wirklich überzeugt.
Sollte tatsächlich eines dieser graugrünen Ungeheuer, ein Joghir mit fünfzehn Metern Flügelspannweite, den Danubian nachgeäfft und sie getäuscht haben? Eine Spezialistin wie sie? Sie beschloss, der Sache nachzugehen, um mehr über diese Tiere in Erfahrung zu bringen.
Und bevor sie es sich versah, war es zu ihrem Beruf geworden.
Es waren unbeschwerte Ferien gewesen, die sie mit ihrer Familie alljährlich auf dem Südkontinent verbracht hatte, bevor der Sommer zur Neige ging. Ihrer Mutter ging es damals noch ziemlich gut; die Ärzte glaubten, die Krankheit im Griff zu haben. Doch zuweilen hatte sie Momente der Desorientierung, die Maurya Angst machten, Angst vor der Zukunft. Ihre Mutter hatte bereits die Reise in die Dunkelheit angetreten – leise und fast unbemerkt, wie es ihre Art war.
»Weshalb hat man unsere Welt eigentlich New Belfast getauft?«, fragte sie einmal.
Ihr Vater hob die Augenbrauen und furchte die Stirn. Dann lächelte er. »Weißt du, wir Iren waren schon immer die größten Emigranten unter der Sonne. Als man Mitte des einundzwanzigsten Jahrhunderts entdeckte, dass die Dunkle Energie Antriebe ermöglichte, mit denen man relativistische Geschwindigkeiten erreichen konnte, rückten die Sterne buchstäblich näher. Bis dahin hatte man mehr als viertausend Sonnensysteme entdeckt, von denen einige eine habitable Zone aufwiesen und nicht zu weit von der Erde entfernt waren. So wie dieses hier. Und da machten sich eben eine Menge Iren, vor allem Nordiren, Gedanken darüber, ob sie nicht dort draußen einen Neuanfang versuchen sollten, in einer friedlicheren Welt. Darunter dein Urgroßvater, Maurya. Und den Planeten tauften sie in Erinnerung an die Heimat.« Das Lächeln erlosch. »Aber der Keim des Übels reiste mit.«
Maurya hatte ihre Eltern noch besucht, bevor sie nach Hot Edge aufgebrochen war.
Ihr Vater war sein Leben lang ein überzeugter Katholik von tief verwurzelter Frömmigkeit gewesen, und als man ihm diese Wurzeln aus der Schläfe riss, war er ein gebrochener Mann, der nicht mehr zu sich und seiner Welt zurückfand. »Ich habe überhaupt nichts gespürt«, sagte er unsicher, als er aus der Klinik kam, wo sie mit einem winzigen Stromstoß in den linken Schläfenlappen die Frömmigkeit aus dem Hypothalamus verscheucht hatten. Und doch war er von diesem Tag an völlig verändert. Er wirkte verlassen, verwaist. Bei Tisch saß er wie erstarrt da, hatte die Hände gefaltet und schwieg mit zusammengepressten Lippen; dann schob er den Stuhl zurück, erhob sich und ging in sein Zimmer, ohne einen Bissen angerührt zu haben.
Er verrichtete gewissenhaft seine Arbeit, aber er lachte nicht mehr. Er, der immer zu einem scherzhaften Gespräch mit seinen Kunden aufgelegt gewesen war, bediente sie nun wie ein Zombie; ein Geldautomat hätte seine Funktion ebenso erfüllt. Er verlor seinen Posten als Kassierer und erhielt einen Schreibtischjob in einem Hinterzimmer. Er magerte ab, verzehrte sich buchstäblich, bis er auf Anraten der Ärzte in Rente geschickt wurde.
Einmal hörte Maurya, wie er mit zitternder Stimme zu Mutter sagte: »Es ist, als würdest du einen guten Freund verlieren, der dich bisher geführt hat. Plötzlich findest du dich auf einer nebelverhangenen Heide wieder und kennst den Weg nicht. Weißt nicht, in welche Richtung du gehen musst.«
Ob er am Ende seines Weges diesen Freund wiederfinden wird?
Ob er ihn überhaupt wiedererkennt?
Er wohnt noch immer in dem alten Holzhaus in Ballyliffin, wo früher die ganze Familie zu Hause war. Seit Mutter im Heim ist, lebt er allein. Julia Riteman, eine rüstige fünfundsechzigjährige Witwe in der Nachbarschaft, die früher eine bekannte Sopranistin an der Oper in Ballymoney war und nun im Ruhestand ihr Hobby, die Malerei, pflegt, kümmert sich um ihn, leistet ihm Gesellschaft oder lädt ihn zum Tee in ihr Atelier ein. Sie sind seit Jahren miteinander befreundet, und seit er nicht mehr so rüstig ist, macht sie ihm gelegentlich den Haushalt, schickt ihre Putzfrau bei ihm vorbei, damit sie nach seiner Kleidung sieht, abspült und aufräumt. Es ist nicht viel zu tun. Sie kauft für ihn mit ein, wenn sie in den Ort fährt. Es ist nicht viel einzukaufen. Manchmal kommt Carol mit ihrem Mann und ihren zwei Töchtern von Derry herüber, um nach ihm zu sehen. Es gibt nicht viel zu sehen. In Ballyliffin steht die Zeit still, zumindest für Menschen.
Die blauen Fischdrachen ziehen unablässig ihre Kreise, ihre rauen Schreie erfüllen die Morgenluft über der Bucht. Drüben, jenseits des Wassers, liegt auf den Hügeln der Inseln der erste Schnee. Die weiß bestäubten Silhouetten der Schachtelhalme sehen unwirklich aus wie eine Filmkulisse.
Über dem ruhigen Wasser liegt eine dünne Nebelschicht, schmal und wie mit dem Lineal gezogen. Hin und wieder faltet einer der Fischdrachen die Flügel zusammen und lässt sich fallen. Er durchstößt die Nebelbank und die Wasserfläche wie eine Klinge, ist für zehn, fünfzehn Minuten verschwunden, dann taucht er triumphierend wieder auf, den Magen voll Fisch, klatscht mit den ledernen Flügeln und rennt über das Wasser, um Luft unter seine Schwingen zu bekommen und sich hochzuwuchten. Seine Fußspuren verschwinden in konzentrischen Tümpeln auf der Wasseroberfläche, während sich schon der nächste Drache zur Klinge faltet und herabstürzt.
Wolken treiben jenseits der Bucht in die Berge. Es wird noch mehr Schnee geben. Maurya betrachtet den Garten. Die Hecke, früher pedantisch auf Kante gestutzt, ist außer Rand und Band. Einen Meter hoch aufgewuchert. Seit man ihm seinen Gott ausgebrannt und Mutter ins Heim gebracht hat, hat ihren Vater jede Energie verlassen. Sein Leben ist zu einem Rinnsal geworden. Früher, erinnert sie sich, saß er am Küchentisch, hat mit dem Zollstock Schnur abgemessen und dann Knoten hineingeknüpft, um die Abstände festzulegen. Dann hat er an beiden Enden des mit dem Rechen geglätteten Beets Pflöcke in den Boden gedrückt, die Schnur zwischen ihnen gespannt und mit dem Pflanzstock Löcher in die jungfräuliche Erde gegraben. Und so standen die Setzlinge dann da, in Reih und Glied wie angetretene Garderegimenter: Salat, Tomaten, Zucchini, Zwiebeln, Knoblauch, Möhren, Radieschen und natürlich die Kürbisse, die im Herbst groß wurden wie orangefarbene Medizinbälle und köstliche Suppen versprachen. Gleich neben der Tür zur Küche hat er auf einem Rahmen eine große flache Holzkiste aufgebockt – nahe dem Plastikdach über der Tür, sodass man auch bei Regen trockenen Fußes dahin gelangen konnte –, wo Schnittlauch, Petersilie, Kresse, Koriander, Basilikum und andere Kräuter wuchsen. Halb verfault hängt sie nun in ihrer verrosteten Halterung, überwuchert von Gräsern und Disteln. Das wilde, ungezähmte Unkraut vom Ufersaum ist unter der Hecke hereingekrochen und hat den Garten mit groben, harten, stacheligen Gewächsen überschwemmt, denen jede Ordnung und Geradlinigkeit fremd ist. Ein Jahr der Untätigkeit hat ihnen Einlass gewährt.
Im Osten der Bucht steigt eine riesige Wolke von Giigiiis auf, Zehntausende von ihnen. Giigiii, giigiii – ihr gellendes Geschrei macht ihrem Namen alle Ehre. Manchmal finden ihre Stimmen zu einem geordneten Chor zusammen, meist aber ist es eine betäubende Kakophonie. Die kleinen Echsen, nicht größer als ein Finger, verbringen die meiste Zeit ihres Lebens im Meer, bis sie plötzlich die Reiselust überkommt und sie sich, einem geheimnisvollen Ruf folgend, wie fliegende Fische in ungeheuren Scharen in die Luft aufschwingen und Strecken von zwanzig oder dreißig Kilometern zurücklegen, um neue Weidegründe zu besiedeln. Die Fischer, die im prospektiven Zielgebiet an der Wasseroberfläche große engmaschige Netze aufspannen und sie so am Untertauchen hindern, fangen sie zentnerweise und bieten sie als kläglich zirpende, durcheinanderwuselnde Masse auf dem Markt an. Viele Menschen schätzen sie als Delikatesse, werfen sie lebendig in siedendes Öl, rupfen ihnen die Flügel und den Kopf ab und schieben sie als Ganzes in den Mund. Maurya schaudert es immer bei diesem Gedanken.
Die Schreie der Giigiiis sind hinter dem westlichen Horizont verstummt. Sie schließt das Fenster ihres früheren Zimmers und geht nach unten, um in der Küche Wasser aufzusetzen. Im Kühlschrank findet sie einen halben Marmorkuchen, in Frischhaltefolie verpackt. Mrs. Riteman wird ihn gebacken haben. Früher war das sein Lieblingskuchen, aber den hier hat er nicht angerührt.
Sie setzt sich zu ihrem Vater auf die Holzbank neben der Haustür. Trotz des dicken Pullovers, den sie anhat, friert sie.
»Du warst gestern bei Mutter?«, fragt er.
»Ja.« Mehr gibt es nicht zu sagen. Sie legt den Arm um ihn. Wie abgemagert er ist. Sie blickt ihn von der Seite an – wenigstens ist sein schmales graues Bärtchen sauber ausrasiert. »Komm, wir gehen rein. Ich mach uns Frühstück.«
Sie hatten Mutter – frisch gewaschen und gewickelt, frisch gekleidet und gefüttert – in ihrem Rollstuhl auf die Terrasse gefahren.
»Wenn es Ihnen zu kühl wird, Frau Professor Fitzpatrick, schalte ich gern die Sonnenspiegel ein.«
»Danke, Schwester. Es ist angenehm so.«
Maurya rückte ihren Stuhl so zurecht, dass sie Mutter ins Gesicht blicken konnte. Aus den offenen Fenstern des Küchentrakts waren Stimmen und das Klirren von Besteck auf Porzellan zu hören. Vorbereitungen für das Mittagessen. Der Duft von frischem Kaffee wehte über die Terrasse.
»Hallo, Mutter! Ich bin’s, Maurya.«
Die Augen ihrer Mutter fanden sie nicht – nein, suchten sie nicht. Ihre Finger krallten sich in die Armlehnen des Rollstuhls, als wollte sie verzweifelt etwas festhalten, was ihr längst entglitten war.
Es waren Augen, aus denen das Nichts starrte. Das Licht fiel in die Pupille und wurde von einem Ereignishorizont zurückgeworfen, hinter dem sich das Bewusstsein verbarg. Unerreichbar. Eine stumpfe Dunkelheit in unergründlichen Brunnenschächten. Manchmal – und Maurya war geneigt, sehnsüchtig danach zu greifen – leuchtete ein ferner Schimmer in der Tiefe auf, der eine Erinnerung sein mochte, aber bevor sie Gestalt annehmen konnte, zog sie der Strudel wieder hinab. Was blieb, waren ein leerer Blick und ein Röcheln aus einem qualvoll verzerrten Mund.
In ihrer Jugend war Mutter eine Schönheit gewesen, von vielen begehrt und geliebt. Schwarzes gewelltes Haar und lebendige grüne Augen, die meist belustigt geblitzt hatten. Nun war sie schlohweiß, das Gesicht erschlafft, blass und ausdruckslos.
Werde ich auch so enden?, fragte sich Maurya bang.
Ein sanfter Windstoß bewegte die herbstfarbenen Blätter des Weins. Ihre Mutter hob den Kopf und lauschte.
Was bin ich für dich, Mutter? Ein Nebelfetzen, der aus der Vergangenheit herauftreibt, konturlos und ungreifbar?
»Hallo, Mutter! Ich bin’s, Maurya«, krächzte eine kleine rote Echse, die halb verborgen im Laub der Pergola saß und sie mit einem schwarzen Knopfauge musterte. Dann neigte sie den Kopf mit dem Zackenkamm, als lauschte sie einer Antwort.