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Zwei Tage nach dem Ausflug zu den Reliefs landeten Fischer einen Dongokadaver am Ufer an. Jespersen holte ihn mit dem Hub von der Uferböschung. Dann bugsierte er ihn in einen großen Raum unter der Station und legte ihn auf einer Werkbank ab.
»Er wiegt vierundvierzig Kilo«, sagte er mit einem Blick auf die Anzeigen. »Ein durchschnittliches Exemplar.«
»Der ist aber schon länger tot«, sagte Jonathan, nachdem er den Dongo beschnüffelt hatte.
Auch Ailif inspizierte den Kadaver. »Ein Auge ist zerstört, das andere wurde entfernt. Passiert so etwas hier öfters?«
Jespersen zuckte mit den Achseln. »Häufig, ja.«
»Wissen Sie den Grund?«
»Ich weiß nicht viel darüber. Manche sind ganz scharf darauf, Dongoaugen zu ergattern.«
»Wozu?«
»Keine Ahnung.«
Ailif glaubte Jespersen kein Wort. »Sie zerfallen zu Ruß, oder?«
»Ja, aber das kann man angeblich verhindern.«
»Wie?«
»Soviel ich weiß, muss man sie entnehmen, solange das Tier, also der Dongo, noch lebt. Und man muss sie in ein Öl einlegen, in dem bestimmte Flussalgen gekocht wurden. Dann bleiben sie erhalten.«
»Wozu soll das gut sein?«
»Fragen Sie mich etwas Leichteres, Professor.« Jespersen wandte sich ab und verließ die Werkstatt.
Jonathan schnüffelte an dem zerstörten Auge. »Ruß. Eindeutig Ruß.«
»Die Augen wurden herausgeschnitten«, stellte Maurya fest, nachdem sie die leeren Höhlen mit einer Lupe inspiziert hatte. »Jo hat recht, die Reste des linken sind zu Ruß zerfallen.«
Ailif fuhr mit dem Zeigefinger in die Höhle und roch dann an der dunklen Schmiere. »Riecht nicht verbrannt. Keine Schussverletzung durch einen Laser. Hoffentlich haben sie beim Herausschneiden keine inneren Organe verletzt.«
Maurya schüttelte den Kopf. »Warum tun die so etwas? Die Augen herausschneiden?«
»Du hast ja gehört, was Jespersen gesagt hat.«
»Na, gesprächig war er nicht gerade. Die Frage der Verwendung schien ihm irgendwie unangenehm zu sein.«
»Das Gefühl hatte ich auch. Aber wir wollen uns nicht mit Nebensächlichkeiten aufhalten. Wer weiß, vielleicht schätzen sie manche Leute ja als Delikatesse. So wie Schafsaugen. Machen wir uns an die Arbeit.« Ailif schlug sein abgewetztes burgunderfarbenes Ledermäppchen auf, das er stets bei sich trug, entnahm ihm einen Skalpellhalter und setzte eine robuste Klinge ein. Dann streifte er sich OP-Handschuhe über. »Übernimmst du das empathische Protokoll, Jo? Alles, was du siehst und dabei empfindest. Auch meine Reaktionen bei der Arbeit.«
»Klar. Mach ich.«
»Und du, Maurya, hältst alles optisch fest, okay?«
»Selbstverständlich.«
Ailif vermaß den Kadaver mit einem Maßband. »Einen Meter zwanzig lang, fünfundachtzig Zentimeter breit. Rundum einschließlich Brust und Rückenpanzer, Moment, etwa zwei Meter dreißig. Hast du’s, Jo?«
»Ja.«
»Gut.« Jetzt setzte Ailif das Skalpell an. Er durchschnitt das Gewebe, das den Brustpanzer mit dem Körper verband, und hob den Panzer ab. Er war in Musterung und Farbe längst nicht so ansehnlich wie die Schaustücke im Büro des Kommandanten. »Die Färbung dieses Exemplars ist schlammig graubraun mit schwarzem Streifenmuster.« Er untersuchte Rüssel und Hals. »Hier am Hals ist die tödliche Verletzung. Man hat ihm eine Harpune oder eine speerähnliche Waffe seitlich des Rüssels durch den Hals in den Brustraum gerammt.« Er setzte von Neuem das Skalpell an. »Ich öffne nun die Mantelhöhle.« Er schlug die Bauchdecke zurück und musterte Thorax und Abdomen. »Drei Herzen. Das wussten wir schon, aber …«
»Was ist?«, fragte Maurya.
»Das ist eine Überraschung. Die Dongos haben kein Zentralnervensystem, geschweige denn ein Gehirn.« Ailif schüttelte ungläubig den Kopf.
»Eine intelligente, künstlerisch begabte Spezies ohne Gehirn? Wer soll uns das glauben?«
»Hm.« Ailif deutete auf eine bestimmte Stelle. »Allerdings verlaufen hier kräftige Nervenstränge nach oben zum Kopf, zum Rüssel beziehungsweise zu den Augenhöhlen und vereinigen sich zu einem ansehnlichen … Ich würde es Cerebralganglion nennen, aber beim besten Willen ist das kein Gehirn. An der Peripherie, dort, wo die vier Gliedmaßen ansetzen, sehe ich vier kleinere Nervenzentren. Möglicherweise steuern sie die Bewegungen.«
»Sinnesorgane?«
»Ich kann keine seitlichen Sinnesorgane in Kopfnähe entdecken, die man als Ohren interpretieren könnte.«
»Vielleicht verfügen sie über Geruchs- und Tastsinnesorgane in den Extremitäten.«
»Ja, vielleicht. Das bleibt Detailuntersuchungen vorbehalten. Auf den ersten Blick ist nichts Derartiges erkennbar.«
»Es muss aber doch Kommunikationsorgane geben.«
»Möglicherweise Sensoren für Elektrizität, wie man sie bei einigen Meeresbewohnern auf der Erde findet. Aber ist das ein hinreichend komplexes Nervensystem, um diese Wesen bewusstseinsfähig zu machen, wie man es bei einer intelligenten Spezies voraussetzen sollte? Rätselhaft das Ganze. Was meinst du, Jo?«
»Ich blicke ebenso wenig durch.«
»Auf gewisse Weise erinnern mich diese Dongos an Krustentiere«, sagte Maurya.
»Hm. Ich würde sie taxonomisch irgendwo zwischen Schnecken und Stachelhäutern ansiedeln. Aber das sind natürlich irdische Maßstäbe, die gelten hier nicht.«
Maurya schüttelte den Kopf. »Nein. Die Dongos sind Produkte einer völlig anders verlaufenen Evolution.«
»Aber es existieren Gesetzmäßigkeiten, die für alle Lebewesen gelten«, sagte Jonathan. »Wo immer sie sich entwickelt haben.«
»Du meinst Homologien.«
»Ja.«
»Nun, auf den ersten Blick sind es bipolare Wesen – zwei Arme, zwei Beine –, aber bei näherer Betrachtung würde es mich nicht wundern, wenn sie sich aus radialsymmetrischen Vorfahren entwickelt hätten. Seesternähnliche Wasserbewohner.«
»Die Sektion gibt mehr Rätsel auf, als sie löst«, seufzte Ailif. Er setzte erneut das Skalpell an und öffnete die Bauchhöhle. »Der Magen liegt im Zentrum, der Darmtrakt darunter. Von oben die Speiseröhre. Nichts Problematisches in dieser Hinsicht und vergleichsweise primitiv. Drüsen für die Verdauung. Das hier könnte ein leberartiges Organ sein. Stark durchblutet. Der Mageninhalt: vorwiegend Grünzeug. Algen würde ich sagen. Aber auch Reste von Fischen und anderem Getier.«
»Also ein Allesfresser.«
»Sieht so aus.«
Mit seiner Vergrößerungsbrille beäugte Ailif die durchtrennte Oberhaut. »Noch eine Überraschung, Leute. In der Unterhaut sind Reflektorproteine eingelagert. Sie erlauben einen Lichtwechsel über die gesamte Breite des Spektrums. Jespersen hat mir erzählt, dass die Dongos jede Farbe beziehungsweise jedes Farbmuster annehmen können. Das ist ein Phänomen, das auf Strukturen im Nanobereich zurückgeht.«
»Das können wir hier nicht untersuchen.«
»Nein, aber ich werde ein paar Gewebeproben heraustrennen. Die nehmen wir mit und untersuchen wir eingehend auf New Belfast.«
»Ich frage mich, was dieser Luxus der Farbänderung soll, wenn die Haut von einem Panzer bedeckt ist.«
Ailif wägte den Kopf. »Vielleicht dient es der Tarnung, wenn sie den Panzer abwerfen und eine Zeit lang schutzlos sind. Dann ist der Fluss für sie gefährlich, nehme ich an. Außerdem könnten die Farbmuster der Panzer von den Mustern in der Haut gebildet werden.«
»In dieser Hinsicht hat sich unser Exemplar aber wenig einfallen lassen«, sagte Jonathan.
»Kann man wohl sagen. Sie haben uns ein fantasieloses graues Mäuschen geliefert.« Ailif hatte sich inzwischen daran gemacht, die Sehnen zu durchtrennen, die den Kopfschild hielten. Jetzt hob er ihn ab. »Keine Schädelkalotte, sondern eine Art nach vorn gewölbter Schulp zwischen den Augen, an dem unmittelbar vor dem Cerebralganglion der Rüssel ansetzt.« Er schnitt den Rüssel auf. Dabei stieß er am oberen Ende auf eine Drüse, aus der einige Tropfen Flüssigkeit austraten.
»Stopp!«, rief Jonathan laut. »Ich will dir ja nicht ins Handwerk pfuschen, aber ich rieche Ameisen.«
»Du mit deinen Ameisen!« Ailif betrachtete den feuchten Fleck an seinem Handschuh und schnupperte daran. »Ich rieche nichts.«
»Das denke ich mir. Aber ich. Das ist hochkonzentrierte Ameisensäure.«
Ailif warf Maurya einen fragenden Blick zu.
»Die Reliefs sehen aus … wie geätzt«, sagte sie und stützte nachdenklich das Kinn in die Hand. »Eine Symbiose mit den Ameisen?«
»Auf jeden Fall! Seht euch das an!« Jonathan hatte sich auf die Hinterbeine gestellt und kratzte mit der Pfote am freigelegten Schulp des Kopfes.
Ailif nahm das Skalpell und schabte etwas von der bröckeligen Masse ab, die am Knochen festsaß. Was wie ein schorfiger Auswuchs aussah, entpuppte sich als winziger Termitenhügel, der auf dem Knochen hinter dem Rüsselansatz errichtet worden war. »Das wird ja immer rätselhafter.« Ailif legte das Skalpell beiseite. »Sind womöglich die Ameisen die dominierende Spezies auf Hot Edge? Benutzen sie die Dongos als Transportmittel, als Roboter oder Zombies oder was weiß ich?«
Maurya schüttelte entschieden den Kopf. »Die Reliefs stellen Dongos dar, festlich vereinte Dongos. Was hätten diese Ameisen davon, Darstellungen ihrer Roboter zu erschaffen?«
»Denkt an Dawkins«, warf Jonathan ein. »Wir Lebewesen sind die Fahrzeuge unserer Gene. Wir transportieren sie in die Zukunft.«
»Und trotzdem stellen Menschen Abbilder von Menschen her, willst du das damit sagen?«
»So ungefähr. Ja.«
»Hm.«
Ailif durchschnitt nun die Haut, die den Bauchraum vom Unterleib trennte. Ein Eiersack kam zum Vorschein, gefüllt mit flachen fünfeckigen Eiern, halb durchsichtig und gelbgrau gefärbt. Ailif zupfte eins heraus und hielt es gegen das Licht – im Innern war ein tropfenförmiger Keim zu erkennen. Er schüttelte den Kopf. »Scheint ein Weibchen zu sein. Ein dünner Kanal führt nach unten und endet neben dem Anus. Ein Geschlechtsorgan ist nicht zu erkennen.« Er schnitt eines der hinteren Gliedmaße auf. »Und das hier scheinen eher verkümmerte Rüssel zu sein als Fortbewegungsmittel, knochenlos und vermutlich nur zum Rudern geeignet, aber von einer Vielzahl von Muskeln bewegt.« Er streifte die Handschuhe ab und legte sie beiseite. »Jede Menge Stoff zum Nachdenken.«
»Die Sektion hat wenig gebracht«, fasste Ailif zusammen, als sie kurz darauf in der Cafeteria saßen und Eistee tranken.
»Das würde ich nicht sagen«, erwiderte Maurya. »Wir haben nun eine genaue Vorstellung vom äußeren und inneren Aufbau dieser Lebewesen.«
»Das schon, aber letztlich mehr Rätsel als definitive Ergebnisse. Zum Beispiel: Welche ist nun die dominierende Spezies?«
»Es gibt keine«, sagte Jonathan entschieden.
»Was willst du damit sagen?«
»Wenn ich mit den Achseln zucken könnte, würde ich jetzt mit den Achseln zucken.«
Maurya lachte. »Ich sehe dich mit den Achseln zucken. Es sieht possierlich aus.«
»Possierlich?« Jonathan ließ den Schwanz sinken und sah sie überrascht an.
»Ja.«
»Also gut. Ich zucke mit den Achseln und sage: Weder die Glasflöhe, wie sie hier die Ameisen oder Termiten nennen, noch die Dongos sind die dominierende Spezies. Erst wenn sich beide zusammenschließen, sind sie zu Intelligenzleistungen fähig. Die beiden Spezies müssen zusammenwirken – so sehe ich das.«
»Und fähig zu künstlerischer Kreativität?«, fragte Maurya.
»Ja.«
»Hm.« Ailif rieb sich nachdenklich das Kinn. »Diese Argumentation hat etwas für sich. Die Glasflöhe besetzen die Ganglien der Dongos und beeinflussen sie durch Bisse oder etwas anderes. Aber ist es ein symbiotisches oder ein parasitäres Verhältnis?«
»Ich habe das Gefühl, ein symbiotisches. Beweisen werden wir das erst können, wenn wir feststellen, was die Glasflöhe von der Gemeinsamkeit haben. Jedenfalls kann es kein selbstloses Verhalten sein, so etwas pflegt sich in der Natur nicht zu entwickeln. Es ist immer ein Tauschgeschäft.«
»Völlig richtig, Jo. Ich tippe auf irgendeine Substanz, die von den Dongos produziert wird, wenn die Glasflöhe sie befallen. Vielleicht etwas, das die Königin für ihre Fruchtbarkeit braucht.«
»Und im Gegenzug stellen ihnen die Glasflöhe die Säure zur Verfügung, mit denen sie ihre Reliefs ätzen können«, sagte Maurya.
»Es klingt logisch.« Jonathan streckte sich. »Was aber, wenn es eine parasitäre Verbindung ist?«
»Das wäre übel«, sagte Ailif.
»Ja, es gibt Parasiten, die sich nicht im Darm oder in der Leber, sondern direkt im Gehirn einnisten und ihren Wirt steuern. Wie etwa der Egel Leucochloridium paradoxum, der für seinen Wirtswechsel von der Schnecke in den Darmtrakt eines Vogels das Tier zu artfremdem Verhalten zwingt. Er dringt in die Augenfühler ein, sodass sie wie schmackhafte Raupen aussehen, und lässt die Schnecke an den Halmen nach oben kriechen, wo sie leichter von den Vögeln entdeckt und gefressen wird.«
Maurya grinste. »Aber Jo, du glaubst doch nicht allen Ernstes, dass die Glasflöhe die Dongos zwingen, Reliefs von Dongos in den Fels zu ätzen.«
»Immerhin besetzen sie das Gehirn und stimulieren es«, sagte Ailif.
»Was wiederum eher auf ein parasitäres Verhältnis hindeutet«, sagte Jonathan.
»Hm.« Ailif lehnte sich zurück. »Wisst ihr, was ich glaube? Ich glaube, die Glasflöhe stimulieren die Dongos, sich zu diesen Riesenwürmern zusammenzuschließen. Sie verhaken sich ineinander und bilden eine größere Lebensform, um bei einer Bedrohung kampffähig zu sein. Und um sich künstlerisch zu betätigen.«
»Also keine Reptilien«, sagte Maurya.
»Nein. Im Gegensatz zu New Belfast gab es auf dieser Welt nie Echsen.«
»Man kennt eine Menge Organismen«, sagte Jonathan, »die sich zu größeren, wehrhaften Gebilden zusammenschließen.«
»Schwärme?«, fragte Maurya.
»Ja, man kann auch Schwärme unter diesem Gesichtspunkt betrachten, aber ich meine Einzelwesen, die sich zu größeren Organismen zusammenballen. Schleimpilze etwa, Myxomyceten, auch Drachendreck oder Hexenbutter genannt, oder Plasmodien wie Physarum polycephalum, die pulsieren und dabei Gift verspritzen.«
»Und denkt an die Quallen.« Ailif rieb sich nachdenklich das Kinn. »Sie bilden Staatsquallen, Portugiesische Galeeren, die sich vom Wind bewegen lassen, um neue Weidegründe zu erreichen.«
Maurya schüttelte den Kopf. »Aber größere Lebewesen wie die Dongos? Wie bist du überhaupt auf die Idee gekommen, Ailif?«
»Erinnert ihr euch an die Schilde in Cayleys Büro? Da waren ein paar dabei, die miteinander verbunden waren, seitlich zusammengehakt. Und ich fragte den Commander, ob es bei den Dongos auch so etwas wie Siamesische Zwillinge gäbe. Er erwiderte, das wäre selten, käme aber gelegentlich vor. Seither ließ mich der Gedanke an sich verbindende Dongos nicht mehr los. Dann hörten wir von den Riesenraupen, die an den Felsen am Hochufer herabhängen und an den Fresken arbeiten. Da musste ich an Bauketten, wie sie Ameisen oder wilde Bienen bilden, denken. Und als ich dann die Reliefs sah, diese zusammengedrängten Körper der Dongos …« Ailif zog die Augenbrauen hoch.
»Interessant«, brummte Jonathan.
Maurya hob die Hände. »Und mich lässt die Frage nicht los, weshalb die Menschen hier lebendigen Dongos die Augen herausschneiden? Das ist barbarisch.«
»Nun«, erwiderte Ailif, »wenn man sie für Tiere hält, hat man da wahrscheinlich weniger Skrupel. Wenn man sie essen oder haltbar machen kann, bevor sie zerfallen.«
Maurya schüttelte sich. »Aber einem lebendigen Lebewesen die Augen herauszuschneiden …«
»Darf ich dich daran erinnern, dass die Blendung eines Menschen bis in die beginnende Neuzeit eine häufig verhängte Strafe war. Sie wurde mit einem sogenannten Augenlöffel vollzogen, mit dem dem Delinquenten die Augäpfel herausgeschält wurden.«
»Hör auf! Das ist ja fürchterlich.«
»Ja, das ist es«, sagte Ailif kopfschüttelnd. »Aber zurück zu den Dongos. Ein intelligentes, künstlerisch begabtes Lebewesen, das kein eigenes Gehirn hat. Du hast recht, Maurya, das glaubt uns niemand.«
Jonathan hob die Nase und schnaubte. »Gibt es nicht Lebewesen, deren Sensorium nicht in einem Zentralnervensystem beziehungsweise einem Gehirn zusammengefasst, sondern über die ganze Körperoberfläche verteilt ist?«
Ailif nickte. »Ja, bei den Quallen etwa. Aber dass Quallen Kunstwerke geschaffen hätten, ist mir nicht bekannt.«
»Aber es gibt Strandwürmer, die kein nennenswertes Zentralnervensystem, geschweige denn ein Gehirn aufweisen und trotzdem an der Brandungsgrenze im feuchten Sand raffinierte Spiralen und Strahlengebilde anlegen. Ich habe Aufnahmen davon gesehen.«
»Kann man solche Instinkthandlungen Kunstwerke nennen?«
»Schwerlich, aber Anfänge von Kunstfertigkeit sind das schon, würde ich meinen.«
»Ich weiß nicht, Jo, ob uns das weiter bringt.«
»Ich, ehrlich gesagt, auch nicht. Aber die Felsätzungen sind unbestreitbar da. Von wem sollten sie sonst stammen?«
»Die Raupen«, seufzte Ailif. »Die Riesenwürmer.«
»Dann müssen wir sie finden.«
»Hm. Eine Frage an Sir Jonathan, unseren Empathen: Wo würdest du die Dongos in der belebten Welt einordnen?«
Jonathan bürstete sich nachdenklich das Ohr mit der Vorderpfote. »Ins Unreine gesprochen: ein weit entfernter Verwandter der irdischen Schildkröte.«
»Ist das dein Ernst?«
Jonathan ließ sich auf den Boden plumpsen und legte den Kopf auf die Pfoten.
Ailif schüttelte entschieden den Kopf. »Da bist du hoffnungslos auf dem Holzweg, mein Lieber.«
»Weshalb?«
»Die Schildkröte hat ein Skelett, und ihr Panzer ist ein fester Bestandteil davon. Er ist eine Wucherung der Wirbelsäule und der zusammengewachsenen Rippen. Der Bauch ist vom Plastron geschützt, einer äußerst harten Platte, und der Rücken vom Carapax, der bei den meisten ein Muster aufweist.«
»Und von ihrer Haut.«
»Das ist richtig, Jo, aber die bildet nur die äußere sensitive Schicht.«
»Sensitiv?«, fragte Maurya verwundert.
»Sogar sehr. Wenn man mit einer Bürste über ihren Panzer streicht, richtet sie sich auf, geht sie sozusagen auf den Zehenspitzen, um den Reiz der Berührung voll auszukosten.«
»Das wusste ich nicht. Ich habe sie immer für … na ja … hartschalig und empfindungslos gehalten.«
»Das sind sie ganz und gar nicht. Beim Dongo hingegen wird der Panzer aus der Haut exprimiert. Er kann ihn abwerfen, wenn er zu klein geworden ist, und einen neuen ausbilden. Er ist mit Sehnen und Bändern mit der Haut verbunden, hat also kein Knochengerüst, mehr so etwas wie einen elastischen Schulp.«
»Also eher ein entfernter Verwandter von Tintenfischen«, sagte Jonathan.
»Ganz genau. Dieser Schulp dient als Aufhängung für die inneren Organe und die knochenlosen Extremitäten.«
»Und die Nervenstränge …«
»… sind an die Peripherie ausgelagert, aus welchen Gründen auch immer. Womöglich, um beim Zusammenschluss zu einer Riesenraupe Nervensignale mit dem Nachbarn auszutauschen, was weiß ich. Es gibt bislang keine Monografie dieser Wesen.«
»Die wird wohl von uns erwartet.«
»Da liegst du richtig, Jo.«
Jonathan gab ein leises Brummen von sich. Dann sagte er: »Tatsächlich gibt es fast keine Beschreibungen der Tier- und Pflanzenwelt von Hot Edge. Im Wesentlichen nur den Expeditionsbericht von De la Motte/Palme, die mit ihrer nuklear betriebenen Barkasse vom Delta bis zu den Seen unterhalb des Haars hinaufgefahren sind, aus denen der Ontos entspringt.«
»Wie haben sie mit der Barkasse die Katarakte überwunden?«, fragte Ailif.
»Sie haben Breschen hineingesprengt. Und die wurden später erweitert, um eine Durchfahrt für die Flöße zu schaffen.«
»Aha.«
»Aber das waren Geographen und Handelsleute, die sich wenig für Biologie interessierten. Ihnen ging es um die Erschließung eines weitgehend unerforschten Kontinents. Sie haben zwar ein paar Dongos geschossen, als ihre Vorräte knapp wurden, aber sie fanden sie für den Verzehr ungeeignet und hielten sich lieber an Fisch.«
»Die Reliefs scheinen ihnen entgangen zu sein«, sagte Maurya.
»Ja, sie erwähnen sie mit keinem Wort. Entweder gab es die damals noch nicht, oder sie sind nachts daran vorbeigefahren, oder es herrschte Nebel, wie so oft hier.« Jonathan kratzte sich hinter dem Ohr. »Wir – Mr. Swift und ich – sind in diesem Zusammenhang übrigens auf ein merkwürdiges Detail gestoßen. De la Motte/Palme berichten, sie hätten von den allerersten Siedlern auf Hot Edge Dongo-Eier gekauft, für die exorbitante Preise verlangt wurden. Diese Eier seien lange in einem speziellen mit Kräutern versetzten Öl eingelegt gewesen und dadurch äußerst widerstandsfähig und hart geworden wie Diamanten. Sie seien farbig marmoriert und mindestens so groß wie Taubeneier gewesen.«
Ailif zog die Augenbrauen hoch. »Was sagst du da, Jo?«
»So steht es in dem Reisebericht.«
»Aber ihr habt doch die Dongo-Eier gesehen, die ich in dem Gelegesack gefunden habe. Sie waren nicht größer als der Nagel meines kleinen Fingers. Halb durchsichtige fünfeckige Gebilde.«
Plötzlich schlug Maurya mit der flachen Hand auf den Tisch. »Marsulen! Die Augen der Dongos werden als Marsulen gehandelt.«
Ailif blickte sie fragend an.
»Das ist die Lösung«, sagte Maurya.
»Wie meinst du das?«
»Mir gingen die fehlenden Augen nicht aus dem Sinn. Die damaligen Forscher irrten sich oder wurden irregeführt. Das waren keine Eier, das waren Augen. Augen von Dongos.«
»Aber sie zerfallen zu Ruß, wie wir festgestellt haben.«
»Wenn der Dongo stirbt, zerfallen sie zu Ruß. Aber wenn die Augen dem lebenden Dongo entnommen und in kürzester Zeit speziell behandelt werden, bleibt ihre Struktur erhalten beziehungsweise wird der Glaskörper – oder wie immer man dieses Organ nennen kann – in eine harte Substanz transformiert.«
»Und wie soll das gehen?«
»Nun, wie bei fast allen sehenden Tieren bestehen die Augen aus Kristallinen, also aus gelösten Proteinen – kugelförmige Zellen ohne Zellkern, die durchsichtig sind, um das Licht zu leiten.«
»Das weiß ich, meine Liebe. Aber das hier scheint ein Sonderfall zu sein.«
»Weißt du, was ich vermute?«
»Nein. Sag es mir.«
»Ich vermute, dass die Gitterstruktur des Kristallkörpers in kürzester Zeit zerfällt, wenn das Organ nicht in lebendes Gewebe eingebettet ist.«
»Zu Ruß.«
»Genau. Es bedarf der Nervenimpulse, um die kristalline Ordnung aufrechtzuerhalten. Bleiben die aus, setzt eine Art Schmelzprozess ein, weil sich die Positionsfehler akkumulieren. Der Diamant zerfällt zu Graphit, zu Ruß.«
»Und du glaubst, dieser Prozess lässt sich verhindern, indem man das Auge aus dem lebenden Gewebe herauslöst?« Ailif wiegte zweifelnd den Kopf. »Ich weiß nicht.«
»Du hast doch gehört, was Jespersen gesagt hat. Sie legen den Kristallkörper in ein spezielles Öl ein, das den Zerfall verhindert, seine Struktur sozusagen einfriert.«
»Hm.« Ailif verflocht seine Finger im Nacken. »Dann sind diese Marsulen also Dongo-Augen, die einer speziellen Transformation unterworfen wurden.«
»Genau.«
»Maurya könnte recht haben«, sagte Jonathan. »Es würde auch erklären, weshalb sich Jespersen so zugeknöpft gezeigt hat, als wir ihn auf die fehlenden Augen angesprochen haben.«
»Ist dir das auch aufgefallen, Jo?«
»Allerdings. Ich spürte ein Zurückweichen, als würde er rasch alle Fenster schließen.«
Maurya nickte. »Man kann die Klunker der geliebten Gattin um den Hals hängen. Oder man kann sie teuer verkaufen und dafür so wunderbare Dinge anschaffen wie Elektroboote und Lasergeschütze. Man braucht nur einen Flottenkommandanten, der die nötigen Verbindungen hat und beide Augen zudrückt.«
Ailif schnippte unschlüssig mit den Fingern. »Das ist ein sehr schwerwiegender Verdacht, Maurya.«
»Aber er liegt auf der Hand. Und er muss publik gemacht werden. Wir können doch nicht zusehen, wie diese Frömmler mit Einverständnis des örtlichen Flottenkommandanten einen Genozid an den Eingeborenen begehen, ihnen bei lebendigem Leib die Augen herausschneiden, um sich zu bereichern. Das muss an die Öffentlichkeit!«
»Vorsicht, Maurya! Erstens haben wir nicht das Zipfelchen eines Beweises. Und zweitens: Wenn du recht hast und es eine derartige Komplizenschaft gibt, haben wir keine Ahnung, wie weit sie in der Hierarchie der Flotte nach oben reicht. Das könnten lukrative Geschäfte sein, in die womöglich sogar die Admiralität verwickelt ist, wer weiß? Also kein Wort. Wir machen unseren Job hier, fassen die Ergebnisse der Sektion zusammen, um daraus in Grundzügen eine Monografie zu skizzieren, und dokumentieren die Beschädigungen an den Reliefs durch die Dschiheads.«
»Aber wir müssen etwas unternehmen!«
»Das werden wir. Zu gegebener Zeit.«
Maurya schüttelte den Kopf. »Ich möchte zumindest versuchen, mit dem Großarchon zu verhandeln, damit er von diesem Vandalismus ablässt. Das sind wir uns schuldig, Ailif. Das sind wir diesem Planeten schuldig.«
Jonathan klopfte mit dem Schwanz auf den Boden und blickte sorgenvoll vom einen zum anderen.
Ailif dachte kurz nach, dann sagte er: »Na schön. Aber sonst kein Wort – zu niemandem, Maurya. Das gilt auch für dich, Jo. Wenn wir hier fertig sind, nichts wie weg. Keine Andeutung, bevor wir nicht sicher im Orbit und an Bord der Ballymena sind. Sonst laufen wir Gefahr, im Fluss zu landen oder irgendwo in der Wüste. Und was die Verhandlungen mit den Dschiheads betrifft – das übernehme ich. Ich lasse mich morgen ins Dorf hinüberbringen.«
Maurya sah ihn empört an. »Ich komme mit.«
»Auf keinen Fall.«
»Aber warum nicht?«
»Es wäre zu gefährlich für dich.«
»Weil ich … unbeschnitten bin?«
»Ach was! Ich will dich keiner wie auch immer gearteten Gefahr aussetzen, Liebes. Du hast ja gehört, wie uns Cayley dringend davon abgeraten hat, über den Fluss zu fahren.«
»Klar. Es könnte ja etwas von seinen lukrativen Geschäften mit den Dschiheads ans Tageslicht kommen. Mit den Marsulen.« Maurya lehnte sich zurück und sah Ailif besorgt an. »Nimm wenigstens Jo mit.«
»Nein. Kommt nicht infrage. In den Augen dieser Frömmler ist er kein Geschöpf Gottes, sondern ein Produkt der Hybris. Sie würden ihn vermutlich ohne zu zögern über den Haufen schießen.«
Maurya seufzte. »Wo sind wir da nur hingeraten, Ailif?«
Ailif zuckte mit den Achseln. »Sie nennen ihre Welt Paradise«, sagte er.