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Am folgenden Morgen hatten sich schon lange vor Sonnenaufgang etliche Dorfbewohner auf dem Tempelplatz versammelt. Natürlich war auch meine Mutter darunter. Ich duckte mich tiefer in mein Boot, um nicht von ihr gesehen zu werden.
Der Baldachin war aufgerichtet, der Thron aufgestellt.
Die Schlinge des Galgens hing drohend vor dem heller werdenden Himmel.
Nach einer Weile öffnete sich die Tür des Tempels, der Großarchon erschien in vollem Ornat, erkletterte das Podest und nahm auf dem Thronsessel Platz. Er ließ ein paar Minuten verstreichen, dann sprach er das Morgengebet. Die Anwesenden fielen ein. Nach einer weiteren Minute des Schweigens sagte er: »Ich werde ein Exempel statuieren. Dieser Eindringling von einer anderen Welt hat frevelhaft gehandelt. Dieser Ungläubige hat den Alleinigen und Einzigen Gott beleidigt. Er hat geweihten Boden betreten, ohne sich seiner Fußbekleidung zu entledigen. Er hat frech mit der Faust an die Tür des heiligen Tempels geschlagen und Einlass begehrt, ohne sich niederzuwerfen und meine Entscheidung abzuwarten. Das können und wollen wir nicht dulden.«
»Niemals!«, riefen einige aus der Menge.
»Für sein ruchloses Verhalten hat er den Tod verdient!«
»… hat er den Tod verdient!«, wiederholten die Zuhörer.
Mich schauderte.
Der Großarchon gab Gabriel und Michael einen Wink. »Holt ihn her!«
Die beiden eilten zur Bootshütte am Ende des Landungsstegs, schlossen sie auf und zerrten den gefesselten Schwarzen heraus. Dann packten sie ihn an den Oberarmen, um ihn zum Galgen zu führen.
In diesem Moment – es war wie ein Wunder – fielen die Fesseln des Mannes ab, und ehe sich die beiden Henkersknechte versahen, klatschten sie links und rechts vom Landungssteg ins Wasser. Der Schwarze hatte sie, kräftig wie er war, einfach beiseitegefegt. Dann wirbelte er herum, rannte den Landungssteg entlang, am Bootshaus vorbei – und sprang in den Fluss.
Oh, oh, dachte ich, das schafft er doch nie bis ans andere Ufer! Ich ergriff das Ruder und brach mit meinem Rundboot aus dem Schilf hervor. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Gabriel und Michael durchnässt den Steg erklommen, und ich hörte, wie Seine Heiligkeit wütend etwas schrie – ich verstand seine Worte nicht – und die Zuschauer fassungslos in Geheul ausbrachen und mit schrillen Stimmen Grotes Gehilfen wegen ihrer Ungeschicklichkeit beschimpften. Ich meinte auch, die grelle Stimme meiner Mutter aus der Menge herauszuhören, die sich um das Vergnügen betrogen sah, einen Heiden hängen zu sehen.
Der Fremde trieb rasch ab. Ich ruderte mit aller Kraft, aber es dauerte einige Minuten, bis ich ihn einholte. Sein kahler Schädel trieb auf dem Wasser wie ein schwarzer Ball. Ich hielt auf ihn zu, war vielleicht noch fünf Meter von ihm entfernt.
»He, Mister!«, rief ich ihm zu. »Hierher! Ich helfe dir!«
Er stieß einen dumpfen Schmerzensschrei aus. Vermutlich hatte ihn etwas gebissen – im Fluss wimmelte es nur so von gefährlichem Viehzeug.
Endlich erreichte ich ihn. »Halt dich fest, Mister!«
Er hakte die Oberarme über den Bootsrand, und ich versuchte, ihn hereinzuziehen, doch er war zu schwer, als dass ich viel ausrichten konnte. Gemeinsam schafften wir es schließlich. Keuchend legte er sich auf den Boden des Boots.
»Irgendetwas hat mich im Wasser ins Bein gebissen«, sagte er. »Es tut brutal weh.«
Ich sah sofort, was ihn da attackiert hatte: An seinem rechten Stiefel hing die abgebrochene Legeranke eines Fletsch.
»Ein Fletsch hat dich gestochen«, sagte ich.
»Ein was?«
»Ein Fletsch. Ein Rankentier.«
»Ist das giftig?«
»Nicht giftig, aber schmerzhaft. Nach ungefähr anderthalb Tagen hast du es überstanden.« Was er allerdings bis dahin würde durchmachen müssen, sagte ich ihm lieber nicht.
Wir waren inzwischen fast einen Kilometer abgetrieben. Ich reichte dem Schwarzen mein zweites Ruder. »Hilf mir«, sagte ich. »Wir müssen das andere Ufer erreichen und Schutz suchen, bevor die Sonne aufgeht.«
Er setzte sich auf, griff nach dem Ruder und half mir, über den Fluss zu kommen, wobei er sich erstaunlich geschickt anstellte – es ist nicht leicht, ein Rundboot zu rudern und zu steuern. Währenddessen hielt ich flussabwärts nach einem geeigneten Anlegeplatz Ausschau. Wir waren etwa anderthalb Kilometer vom Dorf entfernt und fuhren dicht am westlichen Ufer entlang. Ich erspähte eine Lücke im Schilf und deutete darauf. »Hier rein! Da sieht man uns nicht. Sie werden bestimmt mit einem Elektroboot nach uns suchen. Der Großarchon wird alles daransetzen, um uns aufzustöbern.«
»Meinst du?«
»Oh, da bin ich mir ganz sicher. Es ist eine große Schmach für ihn, dass du ihm entkommen bist. Er will dich hängen sehen.«
»Tatsächlich?«
»Du wärst nicht der Erste.«
»Ich habe bis zum Schluss nicht geglaubt, dass er mich hinrichten lässt. Ich dachte, er will mich nur einschüchtern, mir einen Denkzettel verpassen. Aber dann bekam ich zunehmend Zweifel, weil sie mir ohne Grund derart hart auf den Kopf geschlagen haben, dass mein Chip zerstört wurde. Seither habe ich keinen Kontakt mehr mit der Station. Also habe ich Vorkehrungen getroffen.«
»Du hast einen Sender im Kopf?«
»Nicht im Kopf. Unter der Kopfhaut.« Er fingerte auf seiner Schädeldecke herum. Die Wunde hatte wieder zu bluten begonnen.
»Der Großarchon ist ein rachsüchtiger Mann«, sagte ich. »Und durch und durch böse.«
»Aber ich habe ihm nichts getan. Ich wollte nur ein paar Fragen stellen. Ihn um etwas bitten.«
»Du hast den Alleinigen und Einzigen Gott beleidigt.«
»Wie das?«
»Du hast deine Stiefel nicht ausgezogen, als du den Tempelplatz betreten hast.«
»Ist das etwa eine Todsünde?«
»In seinen Augen schon.« Ich lächelte gequält. »Im Nachhinein kannst du aber froh sein, dass du sie nicht ausgezogen hast. Sonst hätte der Fletsch dein ganzes Bein zerstochen und nicht nur den rechten Oberschenkel.« Ich deutete auf die abgebrochene Ranke, die sich im Leder seines Stiefels verhakt hatte.
Er griff danach.
»Nicht anfassen!«, rief ich, zog mein Fischermesser aus der Scheide und schnitt die Ranke vorsichtig ab.
Der Schwarze gab ein tiefes Schnaufen von sich. »O Mann, ich hab’s wirklich vergeigt.«
»Was meinst du damit, Mister?«
»Verbockt. Vermasselt. Meine Mission war ein Schlag ins Wasser – im wahrsten Sinne des Wortes. Aber es hat sich wieder einmal bewahrheitet: Trau nie einem Frommen.«
Ich nickte. Ich hatte das Boot inzwischen festgemacht und zog die dunkle Plane aus dem Korb. »Die Plane aus Silberfolie benutzen wir besser nicht. Die sieht man von weitem.«
»Du bist ja gut ausgerüstet, mein Junge.«
»Ja. Ich hatte geplant abzuhauen. Mich irgendwo am Fluss zu verstecken, bis ein Floß vorbeikommt, mit dem ich ins Delta hinunterfahren kann.«
»Weshalb?«
»Um einen Freund zu suchen. Er ist verschwunden, nachdem der Großarchon ihn misshandelt hat.«
»Aber er lebt noch.«
»Das hoffe ich. Er heißt Anzo. Ich hänge sehr an ihm.«
»Und wie heißt du, mein Junge?«
»Ich heiße Suk.«
»Freut mich, dich kennenzulernen, Suk. Ich bin Ailif.«
»Okay, Mister Ailif.«
»Ailif genügt.«
»Dann zieh bitte deine Hose aus, Ailif.«
»Wieso?«
»Ich muss die Stiche untersuchen.«
Ächzend entledigte sich Ailif seiner Hose, und ich sah, dass er nicht weniger als sieben Stiche im rechten Oberschenkel hatte. Ihm stand also einiges bevor.
»Was ist das?«, fragte ich. Unterhalb des Knies und oberhalb der Stiche war jeweils ein farbiges Band zu sehen, das aus winzigen Tieren zu bestehen schien, die sich fest ineinander verhakt hatten. Ich betrachtete die Gebilde mit einer Mischung aus Schauder und Neugier. »Ist das ein Schmuck?«
Ailif lachte. »Das sind meine persönlichen Schutztruppen.«
»Wie?«
»Sogenannte Moving Tattoos. Es sind Hunderte von mechanischen Intelligenzen, die meinen Körper bewohnen und mich beschützen. Sie leben von meinem Stoffwechsel.«
Ich nickte, hatte aber keinen Schimmer, was er mit alldem meinte.
»Sie waren es, die in stundenlanger, mühseliger Arbeit meine Fesseln durchgeraspelt haben.«
Ich machte große Augen. »Deshalb fielen sie dir auf wunderbare Weise ab, als sie dich aus dem Bootshaus holten.«
»Ja. Also, was ist jetzt mit diesen Stichen?«
Ich wollte ihm nicht die ganze Wahrheit sagen. Ich sagte nur: »Da kommen einige Schmerzen auf dich zu, Ailif. Aber du bist ein kräftiger Mann. Du wirst es überstehen.«
Als er aufstand und ins Schilf ging, um sich zu erleichtern, sah ich, dass er hinkte. Das war der Anfang. Also machte ich mich auf die Suche nach Todelen, den kleinen runden Pilzen, die den Schmerz lindern. Sie wuchsen in Ufernähe.
Nachdem ich eine Handvoll davon gefunden hatte, ging ich zum Boot zurück und reichte Ailif die Wasserflasche. »Trink, so viel du kannst.«
»Ist das Wasser aus dem Fluss?«
»Nein, aus dem Brunnen. Du kannst es unbesorgt trinken. Ich habe einen ausreichenden Vorrat dabei.«
»Du hast wirklich gut vorgesorgt.«
Ich zuckte mit den Achseln. »Manchmal muss man lange warten, bis ein Floß vorbeikommt.«
Inzwischen ging die Sonne auf. Ein Feuerfunke erblühte am Horizont, und Sekunden später fegte das Licht über die Dünen wie ein Sturmwind.
Ich sah Ailif an. »Du hast lange im Glast gelebt, nicht wahr?«
»Ich habe nie im Glast gelebt. Wie kommst du darauf?«
»Du hast eine sehr dunkle Haut.«
»Nun, ich bin das, was man einen Farbigen nennt. Alle meine Vorfahren hatten eine dunkle Haut.«
»Haben die im Glast gelebt?«
»Sie haben auf der Erde gelebt.«
»Erde?«
»Ja, da, wo alle Menschen herkommen. Auch deine Vorfahren.«
Ich verstand nicht, was er meinte. »Es gibt dort auch einen Glast?«
»Nein, aber einen heißen Kontinent. Er heißt Afrika. Von dort stammen alle Menschen. Meine Familie hat dort noch bis vor Kurzem gelebt, bevor sie nach New Belfast ausgewandert ist.«
Es war alles sehr verwirrend, was er mir da erzählte. Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. »Sag«, fragte ich nach einer Weile, »hast du mal fürchterlich etwas auf die Nase gekriegt?«
»Nein, weshalb?« Er fasste sich an die Nase.
»Weil sie so breit ist. Wie zerquetscht.«
»Ach so. Nein, da ist nichts passiert. Viele von uns Farbigen haben solche Nasen.«
»Macht das keine Schwierigkeiten beim Luftholen?«
»Nicht im Geringsten.«
»Darf ich mal deinen Bart anfassen?«
»Klar, warum nicht?«
Sein Bart fühlte sich erstaunlich weich an, obwohl er aussah wie eine harte Bürste und die Spitzen weit abstanden, als seien sie geflochten und mit irgendetwas verstärkt. Aber die Haare waren geschmeidig wie das Fell eines Tiers.
»Bist du ein Farbiger, weil du diese farbigen Tattoos hast?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein. Farbige sind alle Menschen, die keine weiße Haut haben.«
Wieder nickte ich, ohne es wirklich verstanden zu haben. Dann beäugte ich seinen Oberschenkel. Er war bereits merklich angeschwollen.
Ailif fuhr mit der Hand darüber. »Tut ziemlich weh«, sagte er stirnrunzelnd.
»Tut mir leid, Ailif, es wird noch schlimmer werden. Iss diese kleinen Pilze. Wir nennen sie Todelen. Sie werden dir helfen.« Ich reichte ihm einige davon.
Er nahm die Pilze, steckte sie sich in den Mund und zerkaute sie. »Sie schmecken bitter.«
»Sie dämpfen den Schmerz.« Ich betrachtete wieder sein Bein. Die Moving Tattoos, wie er die farbigen Tiere auf seiner Haut nannte, hatten zwei Abwehrketten gebildet – oberhalb und unterhalb der Stiche. Ich berührte sie vorsichtig. Sie fühlten sich irgendwie sandig an und ballten sich unter meinen Fingerspitzen zusammen.
»Ist da irgendetwas in meinem Schenkel?«, fragte er. »Mir ist, als wäre da etwas drin. Unter der Haut. Es juckt.«
»Ja«, sagte ich zögernd – ich wollte nicht, dass er es erfuhr, bevor die Wirkung der Todelen einsetzte. »Aber es kommt bald raus.«
»Eiter?«
»So etwas Ähnliches.«
Ich ging zum Ufer, tauchte ein Tuch ins Wasser und legte es dann auf seinen Oberschenkel. Die Eidechsen, oder was sie waren, die die Abwehrketten bildeten, bewegten sich. Ich sah, dass Ailif allmählich glasige Augen bekam.
»Sieh mich an, Ailif«, sagte ich. »Was siehst du?«
»Ich sehe dich doppelt«, erwiderte er mit schleppender Zunge.
Die Wirkung der Todelen hatte eingesetzt.
»Gut so. Trink noch einmal, so viel du kannst. Und dann versuch ein wenig zu schlafen. Der Tag ist noch lang. Und es wird noch heißer werden.«
Ailif schloss folgsam die Augen.
Ich stand auf und suchte eine Gefährtin des Flusses, die gerade frisch ausgetrieben hatte. Ich schnitt ein paar Knospen ab, damit wir etwas zu essen hatten. Dann mischte ich zerkleinerte Todelen unter die Knospen und fütterte Ailif damit, um ihn noch tiefer in die Traumwelt hineinzutreiben, bevor die wirklichen Schmerzen kamen. Die Jungen eines Fletsch hatten Hunger und fraßen sich satt im Gewebe, bevor sie schlüpften.
Sein Oberschenkel war inzwischen dick angeschwollen und gerötet. Ich tauchte das Tuch immer wieder in den Fluss, um ihn zu kühlen. Unter der Haut regte es sich zunehmend.
Ailif war nun in voller Trance. Der Schweiß stand ihm in dicken Tropfen auf der Stirn. Er stöhnte, sein Schnurrbart zuckte, und dann und wann bleckte er die Zähne und stieß ein drohendes Grollen aus, das in einem leisen Aufschrei gipfelte.
»Halt durch!«, sagte ich leise zu ihm. »In ein paar Stunden hast du es geschafft.«
Plötzlich öffnete er die Augen und starrte mich an. »Kannst du mich zu ihm bringen, Batta?« Er hob den Kopf und lauschte. »Die Raben, sagst du? Die Raben …« Dann sank ihm das Kinn wieder auf die Brust. »Die Raben«, flüsterte er und dämmerte weg.
Kurz nach Sonnenuntergang kam ein Elektroboot vorbei. Ich duckte mich ins Schilf. Ich konnte nicht erkennen, wer es fuhr, ob es vom Dorf kam oder von der Station. Ich nahm an, dass sie uns suchten.