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Wenn es das Wetter erlaubte, ging Ailif fast jeden Tag in den Park. Das Schilf am Teich prunkte mit frischem Grün. In der Nacht hatte es geregnet, vom Laub der Bäume tropfte es herab, und auf dem Weg standen Pfützen, in denen die Vormittagssonne blitzte. Der Himmel war von einem hellen klaren Blau.

Er setzte sich auf die Bank, auf der er am liebsten saß, sah den Spaziergängern zu und ihren Hunden, die im Gras tollten und ihre kurz bemessene Freiheit genossen. Plötzlich erblickte er seinen Bruder, der den Weg entlangkam.

»Hallo, Batta«, sagte Ailif. »Setz dich zu mir und erzähle.«

Batta blieb vor ihm stehen.

»Sie haben dich ja wieder gut hingekriegt.«

»Ja«, erwiderte Batta. »Sie machen wunderbare Prothesen hier. Sie sind berühmt dafür. Versehrte von etlichen Welten kommen hierher, um sich wieder herstellen zu lassen.«

Ailif musterte die Füße seines Bruders. Statt Schuhen hatte er dunkelbraune gespaltene Hufe, die an glitzernden Teleskopkolben befestigt waren. »Sieht aus wie ein Kuhfuß.«

»Ist aber sehr praktisch. Er spreizt sich unter Belastung, gibt dadurch einen besseren Halt und wird mit jeder Unebenheit des Bodens mühelos fertig.« Wie um es zu demonstrieren, scharrte Batta im Kies. »Mutter haben sie auch wiederhergestellt. Es war sehr aufwendig, aber sie haben es geschafft. Sie haben einen Brustkorb und einen Unterkiefer züchten müssen.«

Ailif erinnerte sich an den Moment, als er seine Mutter nach dem Anschlag hatte sehen wollen. Der Arzt hatte es nicht gestattet, dass er das Laken von ihrem Gesicht zog.

»Sie ist übrigens wieder mit Vater zusammen. Sie leben in einer Zeit, in der wir beide noch nicht geboren sind.«

»Geht es ihnen gut?«

»Es geht ihnen ausgezeichnet. Sie sind glücklich, dass sie sich wiedergefunden haben.«

»Ich würde sie gerne besuchen.«

Batta schnaubte. »Ja, wenn das so einfach wäre. Aber das Zeitgefüge ist tückisch. Es führt uns Menschen in die Irre. Es kann passieren, dass man nicht mehr zurückfindet. Oder überhaupt nicht dorthin kommt, wo man hinwill.«

»Hast du sie getroffen?«

»Ja, mehrmals. Aber wie gesagt, es ist schwierig, zu ihnen zu gelangen. Man muss sich in die richtige Galerie der Erinnerungen einfädeln.«

»Galerie der Erinnerungen? Ist das eine Art Totenreich?«

Batta schüttelte entschieden den Kopf. »Nein. Es ist ein Labyrinth virtueller Vergangenheitsräume, die ineinander verschachtelt sind. Um dorthin zu gelangen, muss man ein Portal finden, das in die imaginäre Zeit führt, die rechtwinklig zur realen Zeit verläuft. Stell dir ein Instanton vor. Es besitzt keinen Rand. Dort findest du unendlich viele Geschichten.«

»Ich kann mir kein Instanton vorstellen.«

Batta sah Ailif tadelnd an, dann lächelte er. »Ich auch nicht. Man kann es nur mathematisch beschreiben.«

»Wie soll ich dann so ein Portal finden?«

»Frag die Raben, die kennen sich aus im Gewirr der Realitäten. Zumindest behaupten sie das. Aber wer versteht schon die Raben? Auf Fragen geben sie keine Antwort. Sie öffnen den Schnabel, nicken einmal, zweimal und beäugen dich mit ihren glitzernden schwarzen Knopfaugen, sagen aber nichts, sondern fliegen davon.«

»Und du glaubst, sie wissen …«

»Ja, sie spüren diese Portale auf und fliegen durch sie hindurch, um auf der anderen Seite der Zeit zu sterben. Oder hast du je einen toten Raben gesehen? Es sei denn, er hat einen gewaltsamen Tod gefunden.«

»Wenn ich darüber nachdenke – nein.«

Batta nickte. »Du wirst nie einen Raben finden, der eines natürlichen Todes gestorben ist. Deshalb gelten sie in vielen menschlichen Gesellschaften als unsterblich.«

Ailif musterte die Uniform, die sein Bruder trug. »Du bist bei der Flotte?«, fragte er erstaunt. Auf Battas Schulterstücken waren jeweils drei Sterne angebracht, aber nicht aus Silber, wie ihr Vater sie getragen hatte, sondern kleine Seesterne aus bröckeligem Kalk wie Fossilien aus der fernen Vergangenheit der Erde.

Batta sah ebenfalls auf die Sterne. »Ja, ich bin ein Fossil, Bruder.«

»Aber wir sind doch gleich alt.«

»Zeit spielt für uns Tote keine Rolle. Zeit ist etwas, das hinter uns liegt. Etwas, das uns freigegeben hat.«

Ailif nickte. »Was schlägst du also vor?«

Batta scharrte wieder mit dem Huf im Kies. »Wir können es versuchen. Kennst du den Dingan’s Club? Gegenüber der alten Reismühle. Frag nach der Reismühle.«

»Ich werde ihn finden.«

»Er liegt in der Nähe eines Portals, einer Junction, wie sie es hier nennen. Jedenfalls behauptet das der Wirt.«

»Okay. Versuchen wir es.«

»Dann bis heute Abend im Dingan’s.«

Batta ging davon. Ailif sah ihm nach. Der Schritt seines Bruders war eigenartig beschwingt, als hätte man ihm Spiralfedern in die Fußgelenke eingesetzt. Er blickte sich nicht um, obwohl Ailif sich nichts sehnlicher gewünscht hätte.

Im Dingan’s schien es hoch herzugehen. Bis auf die Straße waren lautes Stimmengewirr und Lachen zu hören. Etliche Lichter brannten, offenbar Kerzen. Die Fenster waren beschlagen, sodass man die Gäste nur schemenhaft sah. Die Nachtluft war vorfrühlingshaft kühl.

Ailif öffnete die Tür zum Schankraum.

Totenstille.

Durch die staubigen und verschmierten Fenster fiel letztes Abendlicht. Das Mobiliar war verschwunden, die Theke zerbrochen, die Wände von Spinnweben überzogen und von zerfledderten Postern bedeckt, die für längst vergangene Ereignisse warben. Hier war seit Jahren kein Mensch mehr gewesen.

Ailif betrat den benachbarten Raum. Die Tür fehlte. Im Innern waren Möbel aufgetürmt, Tische und Stühle übereinandergestellt. Die meisten davon zerbrochen. Die Decke war wasserfleckig, die Wände von schwarzem Schimmel überzogen.

Eine tote Junction.

Als er wieder ins Freie trat, meinte er den Schrei eines Raben zu hören. Einen spöttischen Schrei?

Wer versteht schon die Raben?

Er hob den Blick, konnte aber keinen Vogel sehen.

Wenn es das Wetter zuließ, machte Ailif jeden Tag seinen Spaziergang im Park und setzte sich auf die Bank, auf der er am liebsten saß.

Er sah seinen Bruder nie wieder.