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»Ich hatte einen Bruder, Batta hieß er. Er starb vor mehr als zwanzig Jahren bei einem Bombenanschlag. Und nun …« Ailif hielt kurz inne. »Nun habe ich ihn getroffen.«

»Wo?«

»Im Park.«

Da wusste ich, dass die Todelen noch ihre Wirkung taten. Und das war gut so, denn Ailifs Oberschenkel sah schlimm aus. Die Schnitte bluteten noch immer, auch wenn seine Moving Tattoos unermüdlich im Einsatz waren, um die Wunden zu schließen. Ich hoffte inständig, dass sie sich nicht entzündeten – aber vielleicht wussten die Völker, die auf seiner Haut siedelten, auch in solchen Fällen Rat. Auf seiner Stirn und seiner breiten Nase standen Schweißperlen. Ich tupfte sie mit dem nassen Tuch ab und gab ihm zu trinken. Er schluckte gierig, sein dicker Schnauzbart hob und senkte sich.

»Wusstest du, dass die Raben Ausgänge aus unserer Wirklichkeit kennen?«, sagte er nach einer Weile mit leiser Stimme.

»Was sind Raben?«

»Du weißt nicht, was Raben sind?«

»Nein.«

»Das sind intelligente schwarze Vögel.«

»Nie gehört. Die gibt es auf Paradise nicht.«

»Aber es gibt sie auf New Belfast. Sie stammen von der Erde …«

In diesem Moment sah ich den Hund. Er war riesig. Unwillkürlich machte ich erschrocken einige Schritte zurück, stolperte und setzte mich ins nasse Schilf.

»Was ist hier los?«, fragte der Hund und beschnüffelte meine Knie – die ich hastig an mich zog.

»Du … du kannst … sprechen?«, stotterte ich.

»Natürlich kann ich sprechen«, erwiderte das Tier. »Das heißt, ich kann natürlich nicht natürlich sprechen. Aber das zu vertiefen, würde jetzt zu weit führen. Was ist denn passiert?«

»Der Junge – er heißt Suk – hat mir das Leben gerettet«, sagte Ailif und deutete auf mich.

Der sprechende Hund hatte sich neben Ailif gelegt und ließ sich streicheln. »Sie wollten dich hängen – so viel haben Maurya und ich mitgekriegt.«

»Ja. Es gelang mir, ihnen zu entkommen, aber als ich den Fluss durchschwimmen wollte, hat mich irgend so ein Biest, das im Wasser lebt, in den Oberschenkel gebissen.«

»Ein Fletsch«, sagte ich.

Ailif nickte. »Jedenfalls, der Junge hat mich aus dem Wasser gezogen und mit seinem Rundboot ans andere Ufer gebracht. Er ist bei mir geblieben. Er hat mir das Leben gerettet.«

»Ist etwas mit deinem ID?«, fragte der Hund. »Wir hatten plötzlich keine Verbindung mehr.«

Ailif betastete den Schorf auf seinem kahlen Schädel. »Ein Metzger im Dorf hat mir eins mit seinem Totschlagholz übergezogen.«

»Das war Grote«, erklärte ich. »Er hat das auf Befehl des Großarchons getan.«

Plötzlich hob der Hund lauschend den Kopf. »Maurya ist überglücklich, dass ich dich gefunden habe. Sie lässt dich küssen. Sie – das heißt wir – haben uns große Sorgen gemacht.« Er beschnüffelte Ailifs blutigen Schenkel. »Was sind das für Wunden?«

»Das sind die Stiche von dem Fletsch«, erklärte ich.

»So große Schnitte?«

»Durch diese Schnitte sind die Jungen des Fletsch durch die Haut herausgekommen. Sie sind in seinem Fleisch gereift.«

Ailif sah mich entsetzt an. »Und ich dachte, das hätte ich geträumt.«

»Nein, das hast du nicht geträumt. Du hast von deinem Bruder geträumt und von den klugen schwarzen Vögeln. Aber das hier ist die Wirklichkeit.« Ich deutete auf die zermalmten Kreaturen auf dem Boden.

Der Hund beschnüffelte die zertretenen Fletsch-Jungen. »Eine faszinierende Spezies«, murmelte er.

Kurz vor Sonnenaufgang kam ein kreisförmiges Fluggerät in Ufernähe über das Wasser geglitten, teilte das Schilf und landete neben meinem Boot.

Eine schwarzhaarige Frau – das musste die Frau sein, die Maurya hieß – sprang von der Plattform, beugte sich über Ailif und schloss ihn in die Arme.

»Zweifach dem Tode entronnen«, sagte Ailif grinsend. »Und wo zum Teufel ist meine Hose?«

Ich reichte sie ihm und half ihm beim Anziehen.

»Beeilen Sie sich bitte«, sagte der Mann, der das Fluggerät steuerte. Er verteilte Kapuzenjacken aus Silberfolie.

»Schaffst du das, Ailif?«, fragte die Frau.

»Klar«, antwortete er – und stürzte ins Schilf.

Die Frau stieß einen Schrei aus. Sie und ich halfen Ailif wieder auf die Beine, stützten ihn, hoben ihn auf die Plattform, wo ihn der Mann, der das Fluggerät steuerte, festschnallte.

Dann wandte sich der Mann mir zu. »Was ist mit dir, Junge? Willst du nicht zurück ins Dorf?«

»Nein«, erwiderte ich entschieden. »Ich kann nicht zurück. Der Großarchon würde statt ihn nun mich hängen lassen.«

»Der Junge kommt mit«, sagte Ailif mit gepresster Stimme. »Er hat mir das Leben gerettet. Er steht unter meinem Schutz.«

Der Mann am Steuer des Fluggeräts schob seine Kapuze zurück und kratzte sich am Kopf. »Das kann mich ganz schön in Schwierigkeiten bringen, Professor. Er könnte doch mit seinem Rundboot ans andere Ufer fahren und in sein Dorf zurückkehren.«

»Sie haben doch gehört, was er gesagt hat, Mr. Jespersen.«

»Dann wartet er hier eben in seinem Versteck, bis ein Floß vorbeikommt und ihn mitnimmt.«

»Es ist heute Nacht erst eines vorbeigekommen«, warf ich zögerlich ein. »So schnell wird keines wieder fahren. Und ich habe nicht genug Wasser – ich habe das meiste für den Mister gebraucht.«

»Du wirst doch wissen, wie man einen Brunnen gräbt«, sagte der Mann, der Jespersen hieß.

»Ich habe keinen Spaten dabei.«

»Schluss jetzt«, sagte Ailif unwirsch. »Der Junge kommt mit in die Station. Dann sehen wir weiter.«

Jespersen zuckte mit den Schultern und wandte sich ab, also baute ich schnell die Sonnenschutzplane ab, raffte meine Besitztümer zusammen und deckte mein Rundboot zu. Dann zog ich meine Jacke aus Silberfolie an und kletterte auf die Plattform.

Es wurde eine wacklige Fahrt. Zweimal klatschte der Hub – so nannten sie das Fluggerät – unter unserem Gewicht aufs Wasser, gewann winselnd wieder an Höhe und erklomm das Ufer. Jespersen war wirklich ein hervorragender Pilot.

»Darf ich?«, fragte ich den Hund und hielt mich an seiner Nackenmähne fest.

»Aber ja«, knurrte er freundlich.

Als wir in Sichtweite der Station waren, ging die Sonne auf.