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Maurya war eine wunderschöne Frau. Schwarzes Haar und grüne Augen. Ich konnte meinen Blick kaum von ihr abwenden. Das Grün ihrer Augen war braun gesprenkelt, und sie trug das glatte Haar an den Schläfen lang, hinten dagegen kurz. So etwas hatte ich noch nie gesehen – bei uns ließen Männer wie Frauen ihre Haare wachsen, wie Gott sie wachsen lässt.

Und der Duft, den Maurya verströmte! Ich schloss die Augen und sog ihn ein, wenn sie in meine Nähe kam.

»Haben sie dir sehr wehgetan?«, fragte sie Ailif und strich mit den Fingerspitzen über seinen Kopf.

»Es geht«, brummte er. »Ich war so überrascht und benommen, dass ich die Verletzung erst bemerkte, als mir Blut in die Augen lief. Und erst als ich mit dir und Jo Kontakt aufnehmen wollte, merkte ich, dass sie mit dem Schlag meinen Chip demoliert hatten.«

»Diese verdammten Dschiheads!«

»Ich bin auch einer von ihnen«, sagte ich und war über meine Forschheit erstaunt.

»Nein, das bist du definitiv nicht«, sagte Ailif mit ernster Stimme.

Ich wusste nicht, was er mit »definitv« meinte, wollte aber auch nicht fragen, sondern nickte nur.

»Ich glaube, du bist nicht einmal ein frommer Mensch, Suk.«

Ich nickte wieder. »Ich glaube, das bin ich wirklich nicht.« Und in diesem Moment zerbrach etwas in mir.

»Was hast du da für Hefte, Suk?«, fragte Maurya, als ich gerade dabei war, meine Sachen zusammenzupacken und sie in der wasserdichten Tasche aus Kuangaleder zu verstauen.

»Oh, Zeichnungen und so.«

»Darf ich mal sehen?«

»Natürlich.« Ich gab ihr die beiden Hefte, die ich aus Anzos Zimmer mitgenommen hatte. Sie schlug das erste auf.

»Das darf doch nicht wahr sein«, sagte sie, während sie es durchblätterte. »Du bist also am Hochufer gewesen und hast die Reliefs abgezeichnet.«

»Was sind ›Reliefs‹?«

»In Fels gehauene Bilder.«

»Nein. So etwas habe ich noch nie gesehen.«

»Aber woher hast du dann …«

»Das sind nicht meine Hefte, Miss Maurya. Die sind von Anzo, meinem verschwundenen Freund. Er hat die Zeichnungen gemacht.«

»Dann war er also am Hochufer und hat sie abgemalt.«

»Niemals. Das ist viel zu weit flussaufwärts. Wie hätte er je dorthin kommen sollen? Das schafft man nur mit einem Elektroboot, und so etwas besitzt ausschließlich der Großarchon. Und er lässt es niemanden benutzen, außer er ist selbst dabei.«

»Nun, man kann es sich ja mal unerlaubt ausborgen.«

»Unmöglich! Es ist im Bootshaus eingeschlossen. Da kommt niemand ran. Außerdem wüsste ich, wenn Anzo je dort gewesen wäre. Er hätte es mir erzählt.«

Maurya blickte mich ungläubig an. »Hast du das gehört, Ailif?«

»Ja. Zeig mal her!«

Ailif lag auf dem Bett, um seinem Bein Ruhe zu gönnen. Es heilte zwar gut, aber der Oberschenkel war schrecklich dünn geworden. Die Fletschjungen hatten ihn geradezu ausgeweidet, hungrig, wie sie gewesen waren.

Maurya reichte ihm die Hefte. Während er darin blätterte, wurden seine Augen immer größer.

»Das ist ja wirklich unglaublich«, murmelte er. »Das sind beinahe fotografisch exakte Darstellungen der Kunstwerke.« Er sah mich an. »Und du sagst, dein Freund sei niemals dort gewesen?«

»Nein. Das wüsste ich. Er hat mir gesagt, er hätte das geträumt.«

»Was steht hier?«, fragte Maurya und deutete auf eine bestimmte Stelle. »Es ist kaum leserlich. ›Wir müssen uns zusammenschließen, wenn wir in Not sind.‹ Und hier: ›Zusammen widerstehen wir der Gefahr.‹ Oder da: ›Zusammen gedenken wir unserer Größe.‹« Sie schüttelte den Kopf. »Wie kommt dieser Anzo zu solchen Aussagen?«

»Wohlfeile Sprüche«, knurrte Ailif.

»Nicht, wenn du das ›zusammen‹ wörtlich nimmst.«

»Du meinst …«

»Ja, ich meine, das ist wörtlich gemeint«, sagte Maurya.

Ich hatte keine Ahnung, worüber die beiden da sprachen. »Anzo konnte verstehen, was die Dongos zueinander sagten, und er hat es aufgeschrieben«, sagte ich. »Das hat er jedenfalls behauptet.«

Ailif murmelte ein Wort, das ich nicht verstand: »Empathie« oder so ähnlich. Ich wusste nicht, was es bedeutete.

»Sagtest du nicht, er sei taubstumm gewesen«, fragte er dann.

»Er konnte nicht sprechen wie wir, aber wir haben uns mit den Händen unterhalten.«

»Taubstummensprache … Wer hat sie euch beigebracht?«

»Anzos Mutter konnte sie. Und dann hat Anzo mir gezeigt, wie es geht.«

»Wie ist dein Freund eigentlich verschwunden?«, fragte Maurya.

»Als der Großarchon gemerkt hat, dass wir uns mit den Händen unterhalten konnten, ist er so wütend geworden, dass er uns mit der Rute geschlagen hat. Anzo musste mehr einstecken als ich. Ich durfte das Schulzimmer verlassen, er musste bleiben. Da habe ich ihn das letzte Mal gesehen. Seine Mutter hat ihn in der Nacht gesucht und war von da an auch verschwunden. Die Leute sagten, der Großarchon habe sie beide für ihre Sünden bestraft und in den Fluss geworfen.« Ailif und Maurya tauschten einen besorgten Blick aus, also fügte ich schnell hinzu: »Aber am Morgen danach kam ein Floß vorbei. Vielleicht haben sie die Gelegenheit genutzt und sind beide an Bord gegangen. Und geflohen.«

»Ohne eine Nachricht zu hinterlassen?«, sagte Maurya.

Ich zuckte mit den Achseln.

»Und was ist mit dir, Suk? Werden dich deine Eltern nicht vermissen, wenn du einfach weggehst?«

Ich zuckte abermals mit den Achseln. »Meinen Vater mag ich ganz gern, aber meine Mutter ist unausstehlich. Sie ist laut und gottesfürchtig. Schrecklich gottesfürchtig. Sie schreibt uns alles vor, und Vater tut, was sie sagt.« Ich schüttelte den Kopf. »Nein, ich komme schon allein zurecht. Ich will auf keinen Fall ins Dorf zurück. Der Großarchon würde mich aufhängen oder totschlagen lassen.« Ich hatte vor Augen, wie er den lebendigen Dongos die Augen herausschnitt. Nein, um keinen Preis wollte ich zurück nach Hause!

Ailif nickte. »Wir werden versuchen, deinen Eltern eine Nachricht zukommen zu lassen. Das wird uns Commander Cayley nicht verbieten können.«

»Gut.«

»Kannst du uns die Hefte deines Freundes überlassen?«

Ich zögerte, dann schüttelte ich erneut den Kopf. »Ich möchte sie ihm geben, wenn ich ihn finde. Ich weiß, wie sehr er daran hängt.«

»Okay. Würdest du erlauben, dass wir sie kopieren?«

»Was meinst du damit?«

»Wir fotografieren sie und speichern sie im Computer.«

»Dann kann ich die Hefte behalten?«

»Ja. Und wir könnten die Kopien nach New Belfast mitnehmen und in Ruhe auswerten.«

»Wenn das so ist, habe ich nichts dagegen.«

»Brauchst du Geld?«, fragte Maurya.

Ich sah sie an. Die Abendsonne, die durch das Plasglasfenster fiel, zeichnete ein zartes Lichtmuster auf ihre helle Haut. Sie sah wirklich wunderschön aus. »Nein«, sagte ich. »Vielen Dank, Miss Maurya, aber ich finde bestimmt eine Arbeit im Delta. Und vielleicht finde ich sogar Anzo. Er lebt noch – das spüre ich irgendwie.«

»Wenn du ihn tatsächlich findest … Nun, er ist ein sehr wertvoller Mensch.«

»Wie das?«

»Weil er, wie du sagst, mit den Dongos sprechen kann. Das ist von großem wissenschaftlichem Wert, um die hiesige Intelligenz zu verstehen. Er könnte uns helfen, die Rätsel der Bewohner dieser Welt zu lösen.«

»Hm. Wenn ihr meint.«

Der sprechende Hund, Jonathan, schüttelte sich und sah mich an. »Erschrick nicht, wenn dich im Delta eine große, gefährlich aussehende schwarzbraune Hündin besucht«, sagte er. »Das ist Virginia Woolf, meine alte Freundin. Sie ist im Ruhestand und wohnt dort seit Jahren in einem Altersheim der Flotte. Ich habe sie gebeten, ein Auge auf dich zu haben, wenn du im Delta auftauchst.«

»Virginia Woolf?« Ailif lachte laut. »Diese hochnäsige Ziege! Wie ist die Hündin denn zu diesem Namen gekommen?«

»Sie stammt aus einer englischen Züchtung«, erwiderte Jonathan. »Von der Abstammung her eine reinrassige Rottweilerin – da kannst du dich darauf verlassen, dass sie sich überall durchbeißt. Sie hat jahrzehntelang auf Sternenschiffen Dienst getan und ist inzwischen mindestens hundertzwanzig Jahre alt.«

»Aber wie kann man hier leben wollen, in dieser Hitze, wo man auch noch ein Fell tragen muss?«

»Rottweiler haben ein dünnes Fell«, erklärte Jonathan. »Als ich sie fragte, sagte sie: ›Jo, du glaubst ja nicht, wie gut diese Wärme meinen alten Knochen tut.‹ Jedem, wie er’s mag. Jedenfalls wird sie aufpassen, dass Suk nichts passiert, falls der Großarchon jemanden schickt, um ihn zu ergreifen und zurückzubringen oder Schlimmeres.«

Maurya nickte. »Das beruhigt mich. Der andere Junge, Anzo, sollte er noch leben, was ich inständig hoffe, ist der Schlüssel zu den Dongos. Er ist der wichtigste Ansatzpunkt zur Erforschung dieser rätselhaften Zivilisation.«

»Ja.« Ailif wandte sich mir zu. »Leb wohl, mein Lebensretter. Du bist wirklich ein prächtiger Junge, Suk. Ich danke dir und wünsche dir alles Gute und viel Glück für die Zukunft. Vielleicht sehen wir uns irgendwann mal wieder.«

»Ja, lass etwas von dir hören«, sagte Maurya und strich mir über den Kopf. Ich hielt den Atem an.

»Wenn Virginia Kontakt zu dir aufnimmt«, erklärte mir der sprechende Hund, »sag ihr, sie soll eine Nachricht an uns schicken. An die James Joyce University auf New Belfast.«

»Mache ich«, versicherte ich. »Lebt wohl, ihr drei. Und gute Nacht. In der Morgendämmerung breche ich zu meinem Versteck auf.«

»Ich begleite dich«, sagte Jonathan.

»Das ist nicht nötig.«

»Na schön. Aber pass auf dich auf!«

Maurya fasste mich an den Schultern und küsste mich zum Abschied auf beide Wangen. Es war wundervoll, von ihren Lippen berührt zu werden. Mir wurde ganz schwindelig.