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Sie starteten bei Sonnenuntergang. Die Tageshitze lastete noch so über der Landschaft, dass das Atmen schwerfiel, und so empfand Maurya den Fahrtwind als äußerst angenehm, als sie mit dem Hub den Fluss hinaufflogen und ihn schließlich überquerten. Nach etwa einer halben Stunde hatten sie das Hochufer erreicht.

Maurya ließ sich am Fuß der Felswand absetzen, um zu fotografieren, solange das Licht noch gut war, während Jespersen und Jonathan zweihundert Meter weiter flogen, wo sie einen ungewöhnlich großen Teufelskreis ausgemacht hatten, den sie untersuchen wollten.

Maurya hatte eben damit begonnen, am Rand des Reliefs ein paar Steinproben abzuschlagen und in dem Beutel zu verstauen, den sie sich über die Schulter gehängt hatte, als sie plötzlich hinter sich eine Stimme hörte. Vor Schreck hätte sie fast ihren Geologenhammer fallen gelassen. Sie fuhr herum und sah sich einem mittelgroßen untersetzten Mann gegenüber, der einen Kapuzenmantel aus Spiegelfolie und dazu eine große dunkle Sonnenbrille trug.

»Sie können sich wohl nicht sattsehen an diesen Schweinereien«, sagte der Mann schnaufend.

Maurya wich einen Schritt zurück. »Entschuldigen Sie bitte, wer sind Sie?«

»Das tut nichts zur Sache.«

»Für mich schon.«

»Ekelhaft, wie sie obszön ihre Leiber aneinanderpressen. Widerlich! Der Teufel persönlich stiftet diese Tiere an, solch sündige Darstellungen anzufertigen.«

In diesem Moment begriff Maurya, dass sie es mit dem Großarchon persönlich zu tun hatte. Irgendjemand in der Station musste ihn von ihrer Exkursion in Kenntnis gesetzt haben.

Langsam, ganz langsam wich sie zur Seite. »Es gehört schon eine merkwürdige Fantasie dazu, so etwas in diese Bilder hineinzuinterpretieren.«

»Finden Sie?«, schnaufte der Großarchon. Dann machte er einen Schritt auf Maurya zu und griff ihr mit einer raschen Bewegung zwischen die Beine. Der widerliche fettige Bart streifte ihre Wange, und sie roch seinen süßlichen Atem. »So habt ihr es doch am liebsten, ihr Unbeschnittenen, oder?«

»Jo!«, schrie Maurya, und was dann folgte, war eine reine Reflexhandlung: Sie hob den Geologenhammer und ließ ihn auf die Kapuze des Großarchons niedersausen. Seine Heiligkeit gab einen blubbernden Laut von sich und sackte zusammen; die Sonnenbrille klirrte in den Schotter. Und plötzlich war Jonathan da – er flog geradezu auf sie zu. Zu spät sah Maurya die Gestalt eines zweiten Mannes, der am Ufer stand und eine Schusswaffe hob.

Jonathan schlug einen Haken und hielt auf den Mann zu. Der Laserschuss traf ihn, ein Büschel rauchendes Fell flog davon, Blut spritzte. Doch ehe der Mann ein weiteres Mal feuern konnte, hatte Jonathan ihn erreicht. Seine Vorderpfoten trafen die Brust des Kerls mit voller Wucht, die Waffe flog in hohem Bogen in den Fluss und der Mann mit einem erschrockenen Aufschrei hinterher.

»Oh, Jo!«, rief Maurya. »Er hat dich getroffen!«

Langsam trottete Jonathan zu ihr. »Halb so wild. Der Strahl hat lediglich die Schulter gestreift. Hauptsache, meiner KI ist nichts passiert.«

»Ich bin okay«, ließ sich Mr. Swift vernehmen. Eine zarte, völlig unaufgeregte Stimme, die aus Jonathan, aber nicht von ihm kam. »Alles andere wird schon wieder. Jonathan wird sich von dem Schreck erholen.«

Maurya streichelte Jonathan über das Fell. »Es tut mir so leid, Jo. Es ist meine Schuld.«

»Schuld bin ich selber«, sagte Jonathan. »Ich habe den Kerl zu spät gesehen.«

»Hast du Schmerzen?«

»Es ist zum Aushalten.« Er roch nach verbranntem Haar.

»Du hast eine böse Furche in der Schulter, mein Lieber. Sie blutet aber kaum.«

»Das ist bei Laserschüssen immer so. Die Wunde wird kauterisiert.«

Inzwischen war Jespersen mit dem Hub herangeflogen und besah sich die Bescherung. »Oh«, sagte er, »Seine Heiligkeit persönlich. Das hätte er wohl nie für möglich gehalten – niedergeschlagen zu werden. Und auch noch von einer Frau.«

»Ein widerliches Schwein ist das!«, sagte Maurya mit zorniger Stimme.

Jespersen sah sich um. »Besser, wir verschwinden so schnell wie möglich von hier. Er hat meistens zwei seiner Henkersknechte bei sich. Da kann der andere nicht weit sein. Gabriel oder Michael – ich kann diese Typen nicht auseinanderhalten.« Er wandte sich Jonathan zu. »Wie geht es dir, mein Freund?«

»Es geht schon.«

»Na schön, wir überqueren den Fluss. Hier ist es mir zu brenzlig. Drüben werde ich nach deiner Wunde sehen. Ich habe einen Sprühverband in der Notfallbox. Kommt, steigt auf!«

»Du hättest ihm gleich noch eins über den Schädel geben sollen, diesem Stück Dreck!«

»Beruhige dich, Ailif. Wir haben so schon genug Ärger am Hals.«

»Und dem anderen Kerl wünsche ich, dass er von einem ganzen Rudel Fletsche gestochen wird.« Ailif humpelte aufgeregt auf der Terrasse der Station hin und her. »Dieses Gesindel!«

»Ist schon gut, Ailif.«

»Ich hätte mitkommen sollen.«

»Auf gar keinen Fall, mein Lieber. Der Mann hätte womöglich auf dich geschossen, und du hast kein so dickes Fell wie Jo. Nein, es ist besser, dass du dein Bein geschont hast. Es ist immer noch ziemlich geschwollen.«

»Ich frage mich bloß, woher dieser Oberfrömmler gewusst hat, dass du dich dort aufhältst?«

»Wir können davon ausgehen, dass es zwischen der Flottenstation und dem Tempel einen lebhaften Gedankenaustausch gibt.«

Ailif nickte. »Wir machen uns besser fertig für die Abreise. Wir sollten weg sein, bevor seinen Jüngern publik gemacht wird, wie du mit ihrem Kirchenoberhaupt umgegangen bist.«

Am Abend – sie hatten ihre Sachen gepackt und die luftdicht verschlossenen Behälter mit den Gewebe- und Gesteinsproben gut verstaut – lag Ailif auf dem Bett, ein Kissen unter das lädierte Bein gestopft. Maurya saß in einem Sessel, und Jonathan hatte sich auf den Teppich gefläzt und versuchte mit der Zunge an seine Wunde zu gelangen.

»Lass das, Jo!«, sagte Maurya.

»Es juckt aber so.«

»Das ist gut. Das ist ein Zeichen, dass es heilt.«

Plötzlich hob Jonathan lauschend den Kopf und verharrte reglos, dann erhob er sich, ging zu Maurya und legte ihr eine Pfote aufs Knie. »Es tut mir leid, aber ich habe schlechte Nachrichten.«

»Was ist?«

»Deine Schwester hat gerade eine Nachricht übermittelt. Dein Vater ist gestorben.«

Maurya sah Jonathan an, als könnte sie nicht glauben, was er gerade gesagt hatte. »Nein«, murmelte sie. »Nicht das auch noch! Hast du die Botschaft aufgezeichnet?«

»Ja.«

»Lass sie mich hören, bitte.«

Ein Gefühl der Absurdität überkam Maurya, als Carols Stimme aus den Lautsprechern in Jonathans Halsband kam: »Hörst du mich, Maurya? Hier ist deine Schwester Carol. Vater ist vorgestern Nacht gestorben. Er ist friedlich eingeschlafen. Er scheint sehr geschwächt gewesen zu sein in den letzten Wochen, obwohl sich die Nachbarin, Mrs. Riteman, rührend um ihn gekümmert hat. Um dir Rückfragen zu ersparen, damit das Gespräch nicht Stunden dauert: Nein, ich war nicht bei ihm, als er starb. Mrs. Riteman hat ihn auf seinem letzten Weg begleitet. Ich habe schließlich eine Familie mit zwei Kindern zu versorgen. Danke, es geht allen gut. Außerdem haben wir sehr viel Schnee im Norden, stellenweise vier Meter hoch. Selbst die großen Expresszüge kommen nicht mehr durch. Der Sibirian steckt vor Tullamore fest, die Passagiere mussten aus der Luft versorgt und schließlich evakuiert werden. Du siehst, ich hatte keine Möglichkeit, Vater zu besuchen, aber ich wusste ihn bei Mrs. Riteman in guten Händen. Außerdem wohnt Doktor Boulder nur ein paar Häuser weiter. Ich hatte keine Ahnung, dass es Vater in letzter Zeit schlechter ging, aber mit dem Winter hat er sich ja schon immer schwergetan. Er hat ihn geradezu gehasst … Wir wünschen dir eine gute Reise, Maurya. Komm gesund wieder zurück nach New Belfast!«

Maurya wischte sich Tränen aus den Augen. Jonathan stellte sich auf die Hinterpfoten und leckte ihr zärtlich die Wange.

Auch Ailif stand auf und legte ihr die Hand auf die Schulter. »Tut mir leid, Liebes.«

»Du weißt ja am besten, wie es ist, wenn man seine Eltern verliert«, sagte Maurya und drückte Ailifs Hand an ihre Wange.

»Ja. Aber deine Mutter lebt doch noch.«

»Leben?«, erwiderte sie bitter. »Sie hat längst den Weg in die Dunkelheit angetreten. Sie kennt mich nicht mehr.«

Ailif nickte.

»Vier Meter Schnee«, seufzte Jonathan plötzlich sehnsüchtig. »Ich würde mich darin vergraben.«