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»Wofür braucht ein Floß so viele Steuerruder? Zwei vorn, zwei hinten und an den Seiten noch einmal jeweils eines?«, fragte ich Enoch, als wir wieder in der zentralen Baracke hinter der Brücke waren.

»Nun, die Bugsteuerung gibt die Richtung vor«, erwiderte er, »und Signal, wenn voraus auf dem Fluss etwas los ist, uns etwa ein Schiff entgegenkommt, das flussaufwärts unterwegs ist und an uns vorüberwill. Die beiden Heckruder haben normalerweise die Aufgabe, das Floß in der Mitte des Flusses zu halten, damit es sich nicht querlegt oder gar am Ufer entlangschrammt. Die Seitenruder helfen dabei, sodass das Floß gestreckt bleibt und möglichst in der Mitte der Strömung schwimmt. Kapiert?«

Ich nickte. »Wenn man es so erklärt kriegt, kapiert man es.«

Die Tage unter dem Sonnensegel waren lang und langweilig. Die Freiwachen legten sich in ihre Kojen und schliefen, die anderen räkelten sich vor den Bildschirmen im Gemeinschaftsraum, auf denen ständig irgendwelche Sportarten zu sehen waren – ausgestrahlt von Paradise-Sendern oder den Monden –, aber es fiel mir schwer zu begreifen, um was es dabei eigentlich ging. In unserem Dorf hatte es keinen einzigen dieser Schirme gegeben – der Allweise, Allgütige Einzige hat es seinen Dschiheads nicht erlaubt, Bilder anzusehen, die nur vorgaben, Wirklichkeit zu sein.

Einmal war dort die Erde zu sehen – eine blauweiße Kugel, die sich drehte –, und ich musste lachen, als der Kontinent Afrika erschien und ich seine Westküste sah. Ich erinnerte mich daran, was Enoch über Mildreds Hinterteil gesagt hatte.

Zuweilen holte Korbinian seine Flöte hervor, fletschte das löchrige Gebiss und blies auf den aneinandergeleimten Röhrchen Melodien, mal lustige, mal traurige – wie ihm gerade zumute war. Dabei zuckte er lustig mit den Ohren.

»Korbinian, unter deinen Vorfahren muss ein Esel gewesen sein«, rief Enoch dann und kniff dem Alten schmunzelnd ins linke Ohr. Korbinian grinste – er schien sich von der gönnerhaften Geste des Floßführers geehrt zu fühlen –, entblößte sein Gebiss zu einem schauerlichen Grinsen und zuckte mit den Ohren, dass es eine Freude war.

Irgendwann – ich war schon einige Wochen auf dem Floß – hörte ich die Bugglocke läuten. Es war bereits Abend, aber die Sonne stand immer noch am Himmel. Ich sah, wie Enoch, der auf der Brücke stand, den Kopf hob und lauschte. Dann murmelte er etwas, das ich nicht verstand. Trug er etwa auch so einen Sender unter der Kopfhaut wie Ailif?

Enoch führte seine Trillerpfeife zum Mund und blies ein Signal. Gleich darauf war sowohl vom Steuerbord- wie vom Backbordruder eine Antwort zu hören, und schließlich antwortete auch die Heckrudermannschaft. Ich bemerkte, dass das Floß näher ans rechte Ufer gesteuert wurde.

»Wir haben Gegenverkehr«, verkündete Enoch lachend. »Kommt mit! Das dürfen wir uns nicht entgehen lassen.« Er zog sich eine verspiegelte Kapuzenjacke über. »Aber vergiss deine Schutzjacke nicht!«, rief er mir zu. »Die Sonne steht noch hoch.«

Korbinian kam unter der Brücke hervor und brachte mir meine Kapuze, seine hatte er bereits angezogen. Enoch eilte mit großen Schritten voraus Richtung Backbordruder, wir polterten über den Steg hinter ihm her.

Und dann kam sie angetuckert, die gute alte Queen of the River. Sie fuhr flussaufwärts, kämpfte gegen die Strömung an und ließ in kurzen Abständen ihre Schiffssirene ertönen.

Doch was war das? An der Reling aufgereiht, standen etwa drei Dutzend Männer in verspiegelten Kapuzenjacken, den Hosenlatz geöffnet und – ja, wahrhaftig – blank gezogen. Sie alle pissten mit großem Geschrei und Gelächter über die Reling in unsere Richtung. Ein Salut – volle Breitseite.

Korbinian öffnete seinerseits die Hose, kramte sein Pfeiflein hervor und erwiderte – kreischend vor ausgelassener Heiterkeit – die Ehrenbezeigung.

»Na, was sehe ich da?«, rief Enoch zu den aufgereihten silberglänzenden Gestalten hinüber. »Zwerge! Nichts als Zwerge!«

Noch mehr Heiterkeit, Geschrei und Gelächter, und wieder tutete die Sirene. Dann war die Queen of the River vorüber, und Korbinian schloss sorgfältig seinen Hosenlatz.

»Wie ist denn das so bei euch?«, fragte ich ihn auf dem Rückweg zum Gemeinschaftsraum. Enoch war bereits vorausgegangen. »Ihr seid doch sehr lange unterwegs auf dem Floß.«

»Etwa hundert Tage, ja.«

»Und?«

»Du meinst …« Er machte eine unmissverständliche schlenkernde Handbewegung.

»Ja.«

»Da muss sich jeder selbst behelfen. Oder zwei tun sich zusammen.«

Der alte Mann musste meinen angewiderten Gesichtsausdruck bemerkt haben – ich hatte in dem Moment an die unappetitlichen Spielchen von Gabriel und Michael gedacht, deren Zeugen Anzo und ich geworden waren. »Weißt du, Suk«, sagte er, »jeder soll auf seine Weise glücklich werden.« Er zuckte mit den Achseln. »Wenn wir Memphis erreicht und das Floß vertäut haben und ausbezahlt werden, dann ist was los in den Bordellen der Stadt. Das kannst du mir glauben, Junge.«

»Du auch?«, fragte ich.

»Ha!« Er kicherte und streifte seine Kapuze zurück. »Junge, bei mir sind diese Zeiten längst vorüber. Ich bin so trocken wie der Glast.«

Inzwischen hatten wir die Brücke erreicht. Das Floß wurde wieder in die Mitte des Flusses gesteuert.

»Wollt ihr was trinken?«, fragte uns Mildred. »Eistee?«

Ich nickte. »Ja, bitte.«

»Wein«, krächzte Korbinian durstig.

Mildred grinste. »Dachte ich mir doch.«

»Wann werden wir in Memphis sein?«, fragte ich.

»Aha.« Mildred grinste noch mehr und wandte uns ihre Westküste zu.

»Memphis?« Korbinian drehte unbestimmt die Hand. »Acht, zehn, zwölf Tage. Je nachdem, wie die Flut uns aus dem Delta entgegenkommt.«

Und die Flut kam uns entgegen – mächtig.

Der Ontos wurde breiter, seine Ufer wurden grüner, und auch die Luft veränderte sich: Sie wurde kühler und feuchter. Immer häufiger sah man Gehöfte, Villen, sogar kleine Ortschaften – und nachts ihre Lichter.

Tag für Tag machten wir, Korbinian und ich, unsere Tour mit dem Proviantwagen, morgens zum Bug, abends zum Heck, um die Männer, die an den Rudern Dienst taten, mit Essen und Getränken zu versorgen und die leeren Behälter abzuholen, die Mildred in der Maschine wusch.

»Was ist mit den Leuten an den Seitenrudern?«, fragte ich einmal.

»Die kommen abwechselnd herüber und essen im Gemeinschaftsraum. Die haben es ja nicht so weit.«

Von da an gesellte ich mich manchmal zu ihnen. Es waren raue, kräftige Burschen, die nicht viel redeten, aber umso mehr aßen.

Mildred tischte riesige Platten mit Fisch auf – »aus dem Keller«, wie sie sagte. Und sie wusste den Fisch zuzubereiten, dass einem das Wasser im Mund zusammenlief: herrliche weiße Filetstücke, leicht angebräunt, auf Gemüse serviert und mit Kräutern bestreut, die sie in ihrem kleinen Garten neben der Küche zog. Dazu jeden Tag frisch gebackenes Brot. Es war ein Vergnügen, sich von ihr bewirten zu lassen.

Die Tage verbrachte ich meist vor einem der Bildschirme, wobei mir vieles neu war und manches unverständlich blieb, aber ich lernte eine Menge dabei, sah Dinge, von denen ich keine Ahnung gehabt hatte. Wie wenig uns doch während unserer Schulstunden im Tempel beigebracht worden war. Wie arm an Wissen über die von Menschen besiedelten Welten wir aufgewachsen waren.

Nachts war es meist zu schwül, um in der Koje zu schlafen, und ich hielt es wie mein Kompagnon, der seine Matratze ins Freie gezogen und sie seitlich der Brücke unter dem Sonnensegel platziert hatte. Dort lag er dösend auf seinem Lager. Einmal öffnete er unvermittelt ein Auge und sagte: »Hier in der Gegend hauste die Schnecke Nimmersatt.«

»Die Schnecke Nimmersatt?«, fragte ich verdutzt.

»Ja. Sie hat die ganzen Wälder abgefressen.«

»Wie das?«

»Der südliche Glast war ursprünglich so dicht bewaldet wie das Haar. Dann tauchte dieses Ungeheuer auf – fünfzig Meter breit und über zweihundert Meter lang – und hat die Bäume weggeputzt.«

»Du flunkerst doch.«

Korbinian schloss das Auge wieder, drehte sich um und brummte: »Frag den Floßführer.«

Das tat ich bei nächster Gelegenheit.

Enoch blickte lächelnd auf seine Segeltuchschuhe und verschränkte die braungebrannten Arme vor der Brust. »Dazu kann ich beim besten Willen nichts sagen, Suk. Wenn es tatsächlich solche Ungeheuer gegeben haben sollte, wie manche meinen, dann waren sie längst ausgestorben, als die ersten Menschen auf diese Welt kamen. Tatsächlich kann man aus der Luft viele glitzernde Streifen im Sand des südlichen Glast erkennen, die wie Schleimspuren gewaltiger Nacktschnecken aussehen – aber weiß der Teufel, was das wirklich für Spuren sind. Ausdünstungen des Sandes oder was weiß ich. Weiter nördlich sind keine zu entdecken, die Sandstürme, die hier in den niedrigen Breiten toben, müssen sie, wenn es auch dort einmal welche gab, getilgt haben. Jedenfalls erfand irgendein Spaßvogel das Märchen von der Schnecke Nimmersatt, die die Wälder gefressen hat, und seither geistert sie in den Köpfen herum. Deine Freunde von New Belfast sollten diese Spuren untersuchen – es gibt hier auf Hot Edge noch viel zu erforschen.«

Eines Nachts weckte mich ein sonderbares Geräusch: ein leises unregelmäßiges Trommeln, als würde etwas auf die Plane über uns geworfen. Ich rüttelte Korbinian wach, der neben mir schnarchte.

»Was ist das?«, flüsterte ich und deutete nach oben.

Der Alte setzte sich schlaftrunken auf, lauschte und ließ sich dann wieder auf seine Matratze zurücksinken. »Kein Grund zur Beunruhigung«, versicherte er. »Es regnet.«

»Es klingt wie Wasser, das auf die Plane tropft.«

»Junge, das ist Wasser! Regen ist Wasser, das vom Himmel fällt.«

»Vom Himmel fällt? Wo gibt es denn so etwas?«

»Wie du hörst – hier.«

Ich schüttelte ungläubig den Kopf.

»Ja, wo glaubst du denn, kommt das Wasser des Ontos her, mein Junge?«

»Aus dem Haar.«

»Richtig. Dort regnet es häufig und viel.«

»Aber wie soll das Wasser denn in den Himmel kommen?«

Korbinians Geduld war hörbar erschöpft, als er erklärte: »Die Sonne hebt es aus dem Meer hoch. Am Himmel bilden sich Wolken. Der Wind schiebt die Wolken an Land. Und dort fällt es herunter.«

»Du nimmst mich doch auf den Arm.«

»Himmeldonnerwetter! Ich nehme dich nicht auf den Arm. Und jetzt lass mich weiterschlafen, verdammt!«

Ich stand auf und ging ein paar Schritte auf das Floß hinaus. Tatsächlich: Wasser fiel aus dem Himmel!

Ich ließ es mir über das Gesicht und die Arme rinnen. Es schmeckte frisch und war eine Wohltat auf der Haut.

Aber wie der riesige Ontos in den Himmel gelangt sein sollte, wollte mir einfach nicht in den Kopf.

Einige Tage später – wir waren gerade auf dem Weg zurück zur Brücke – hielt Korbinian plötzlich an, schob den Daumen unter den Schultergurt und musterte mich unter seinen buschigen grauweißen Brauen hervor, die wie zwei zerwühlte Schilfdächer großzügig seine Augen beschatteten. Dann öffnete er ein Fach in seinem Wägelchen und holte eine kleine Flasche aus Metall heraus. Er schraubte sie auf und setzte sie an die Lippen. Mit Behagen ließ er sich den Inhalt in die Kehle plätschern.

»Willst du auch einen Schluck?«, fragte er, nachdem er getrunken hatte.

»Was ist das?«

»Wein.«

Ich schüttelte den Kopf. »Danke, nein.«

Er nickte, setzte die Flasche erneut an die Lippen und ließ es plätschern.

Ich betrachtete ihn von der Seite. Sein Haar stand wirr vom Kopf ab und sah aus wie verstaubte Wolle. Es hatte offenbar nie einen Kamm gesehen, genauso wenig wie sein Bart – der hatte irgendwann zu wachsen aufgehört und hing ihm wie angeklebte Fussel am Kinn. Aus seiner halblangen khakifarbenen Leinenhose ragten braungebrannte dünne, aber muskulöse Beine, gekräftigt von den täglichen Fußmärschen über das Floß. Seine Arme dagegen sahen zum Fürchten aus. An den Handgelenken ringelten sich die Adern, als wären blaue Würmer unter die Haut gekrochen und drängten sich nun schutzsuchend aneinander. Ich musste den Blick abwenden, und doch betrachtete ich sie immer wieder mit einer Mischung aus Abscheu und Faszination. Seine mageren Schultern ragten aus dem ausgewaschenen Hemd wie die Arme eines Kleiderbügels.

»Was glotzt du mich so an, Junge?«

»Es ist das erste Mal, dass ich dich draußen ohne deine verspiegelte Jacke sehe.«

»Aha. Und was siehst du?«

Was sollte ich nur darauf sagen? »Dich.«

»Du siehst einen alten Knacker.«

»Knacker?«

»Hörst du nicht, wie es in meinen Gelenken knackt, wenn wir über das Floß gehen?«

»Wie alt bist du?«

Er lachte und rümpfte die schmale Hakennase. »Ich habe keine Ahnung.«

»Und wo bist du geboren?«

Er kraulte seine Kopfwolle. »Auf einem Floß, nehme ich an. Ich wurde gezeugt auf einem Floß, kam auf die Welt auf einem Floß, wuchs auf auf einem Floß. Mein Vater und meine Mutter waren Floßfahrer seit Jahrzehnten. Und seither lebe ich auf Flößen. Ich kenne nichts anderes.«

»Warum hast du die Jacke ausgezogen?«, fragte ich.

»Du kannst deine Jacke auch ausziehen, Suk. Wir sind hier am südlichen Polarkreis, die Sonne steht sehr tief. Mit deinen astronomischen Kenntnissen scheint es nicht weit her zu sein.«

Ich zuckte mit den Achseln. Ich hatte natürlich schon seit Tagen bemerkt, dass die Sonne nur zögernd aufging und – mal darüber, mal darunter – den Horizont entlangbummelte, ohne richtig an Höhe zu gewinnen. Das also war die Erklärung.

»Euch hat man in der Schule wahrscheinlich nur frommen Quatsch beigebracht.«

»Ja, eine ganze Menge.«

Er nickte. »Schmeckst du die Luft?«

»Was?« Wie schmeckt Luft?, fragte ich mich.

Er schmatzte mit den Lippen. »Die Luft. Sie trägt mehr Feuchtigkeit. Sie schmeckt nach Meer.« Er schraubte erneut die Flasche auf und ließ sich großzügig Wein in den Mund rinnen, bevor er sie wieder in dem Geheimfach verschwinden ließ. »Die Nächte werden kühler. Sieh zum Himmel auf. Das Blau wird blasser, milchiger.«

»Ja, stimmt.« Aber ich sah nicht zum Himmel – ich sah ihn an. Und plötzlich überkam mich Mitleid. Ich legte meinen Arm um seine mageren Schultern.

»Was ist?«, fragte er.

»Nichts.«

Er sah mich an. »Du bist ein guter Junge, Suk.«

Vielleicht täuschte ich mich, aber ich glaubte Tränen in seinen hellen blaugrauen Augen zu sehen.

Am folgenden Tag erklärte Korbinian: »Wir sind fast im Delta. Wir müssen jetzt nach Steuerbord manövrieren, um den Memphis-Arm nicht zu verfehlen. Das ist der Mündungsarm, an dem Memphis liegt.«

»Dachte ich mir schon, wenn er so heißt.«

»Klugscheißer«, erwiderte er schmunzelnd.

»Entschuldigung«, sagte ich.

»An der Floßlände von Memphis machen wir fest. Da muss das Holz hin. Wenn wir in den Arm eingefahren sind, haben wir noch etwa achtzig Kilometer vor uns. Morgen müssten wir am Ziel sein.«

Doch es kam anders.

Wir fuhren zwar in den richtigen Mündungsarm ein, aber wir hatten noch nicht die Hälfte der Entfernung zurückgelegt, als uns die Flut entgegenkam. Schon am Abend war klar, dass wir uns kaum noch vom Fleck bewegten.

Gegen Morgen, es war noch dunkel, war von der Brücke Enochs Trillerpfeife zu hören. Vom Bug wie vom Heck, von Backbord wie von Steuerbord wurde geantwortet. Dann läutete die Floßglocke, lang und anhaltend.

Korbinian hatte sich aufgesetzt, den Blick prüfend auf das Ufer gerichtet.

»Gegenverkehr?«, fragte ich ihn.

»Kann man wohl so nennen«, erwiderte er.

Ich sah ebenfalls zum Ufer hinüber. Lichter waren zu erkennen, und in dem dunstigen Leuchten dreier eng beieinanderstehender Apostel meinte ich vertäute Kähne auszumachen. Und weit voraus wuchs eine Wand aus dem dunklen Grün der Landschaft, sechzig, siebzig Meter hoch.

»Dijkengel«, flüsterte Korbinian ehrfurchtsvoll. »Sie stemmen sich der Flut entgegen. Und die ist heute Nacht ganz schön happig.«

Im Licht der Monde, die in diesen Breiten einen ganz anderen Schein verströmten, bot sich ein unwirkliches Bild: Das Floß hatte angehalten und … bewegte sich ganz langsam rückwärts!

Was mussten das für Kräfte sein, die ein so schweres, Tausende von Tonnen wiegendes Floß nicht nur anzuhalten, sondern sogar zurückzuschieben vermochten?

Mit besorgtem Gesicht kam Enoch von der Brücke herab. »Bleibt auf euren Matratzen und rührt euch nicht vom Fleck!«, befahl er. Und an mich gewandt, fügte er erklärend hinzu: »Wir befinden uns nicht mehr auf einem Floß, einer zusammengepackten Einheit, die von der Strömung gezogen wird, sondern auf einer losen Ansammlung einzelner Stämme. Achte darauf, nicht mit dem Fuß dazwischenzugeraten – das kann böse enden.«

Ich musste unwillkürlich an das Bein von Anzos Vater denken und zog mit einem Ruck die Knie an die Brust. Tatsächlich hörte ich unter uns das Poltern, Dröhnen und Quietschen, mit dem die Stämme aneinanderprallten und -rieben, und hier und da platzten krachend die auf die Stämme genagelten Bretter der Stege ab.

Im Laufe des Vormittags überschritt die Flut ihren Höhepunkt, und das Floß setzte sich ganz langsam wieder in Bewegung – Richtung Memphis. An den Ufern bot sich ein schaurig schönes Bild: In den Dijkengeln waren im dichten, sich reusenartig zusammenziehenden Gezweig Hunderte und Aberhunderte von Fischen gefangen, die silbern blitzten und zappelten, umschwärmt von grellbunten Vögeln, die der Vegetation ihren Fang abzujagen versuchten. Ihre Schreie mischten sich in das Pfeifen und Schnarren der Dijkengel, die ihre Luftsäcke entleerten und den Griff um ihre Beute festigten.

»Hörst du sie furzen? Pfui Deibel!«, sagte Korbinian und hielt sich die Nase zu. »Und das ist erst der Anfang. Die haben kein Verdauungssystem. Sie lassen die Fische, die sie sich gekrallt haben, verwesen und saugen dann die Säfte der zersetzten Masse auf. Das stinkt zum Himmel, kann ich dir sagen. Und erst die nächste Flut spült die Überreste zurück ins Meer.«

»Was sind das für Vögel?«, fragte ich und wies auf die kreischenden Scharen, die über den Dijkengeln schwirrten.

Korbinian hob die Schultern. »Weiß ich nicht genau. Mit dem Vogelzeugs kenne ich mich nicht so aus. Enoch sagt, es sind Papageien oder so was von der Erde. Aras, die man hier weitergezüchtet und ausgewildert hat. Memphis ist bekannt für seine Vogelzüchter.«

Ich musste an die Schwalben denken, die der frühere Commander der Flottenstation bei uns ausgesetzt hatte – es hieß, er hätte sie von einem Züchter in Memphis bezogen.

Und dann, in der Abenddämmerung, erreichten wir schließlich die Anlegestelle.