| 34 |
Die Stadt Memphis lag hoch über dem Fluss auf einem Tafelberg, und die Floßlände darunter war eine künstlich angelegte Abzweigung des Mündungsarms, gesäumt von Maschinen, deren Ausleger sich in die äußeren Stämme des Floßes verhakten und es quietschend und ratternd zum Stillstand brachten.
»Wir bleiben heute Nacht noch an Bord«, verkündete Enoch der Mannschaft, die von allen Seiten zusammengeströmt war.
Einige der Männer murrten.
»Ihr kommt morgen noch früh genug zu eurem Vergnügen«, sagte Enoch.
Mildred grinste breit. Sie hatte duftende Pfannkuchen gebacken und bot einen Imbiss und Getränke an.
»Wir machen es wie immer, Leute«, fuhr Enoch fort. »Am Morgen rüsten wir das Floß ab, dann gibt’s die Heuer, und dann fahren wir mit der Bahn hinauf in die Stadt. Ihr habt unbeschränkt Freigang, bis ich Nachricht habe, dass im Haar ein Floß für uns bereit ist, das wir übernehmen können. Wenn ihr wollt, könnt ihr das Geld ausgeben oder auf die Bank tragen, die Kosten für den Flug übernimmt die Kooperative. Ich muss nur wissen, wer auf der nächsten Fahrt wieder dabei ist.«
Alle hoben die Hand.
»Freut mich, Leute. Ich danke euch und wünsche euch eine gute Nacht.«
Bis zum Mittag waren alle Aufbauten abgeräumt, das Netz mit den restlichen Fischen hochgezogen und auf einen Hub verladen, um in einer Fischfabrik verarbeitet zu werden, und die persönlichen Dinge an Land gebracht. Die Arbeiter der Lände hatten damit begonnen, die Stämme aus der Vertäuung zu lösen und auf die am Hang liegende Darre zu schleppen, wo sie trockneten, bis sie von den Sägewerken abgeholt und geschnitten wurden.
An einen der Händler, die alles aufkauften, was die Floßleute nicht mehr brauchten und sich nicht lohnte, für die nächste Fahrt zurück ins Haar zu transportieren, verscherbelte ich mein Rundboot. Als ich Korbinian erzählte, was ich dafür bekommen hatte, tippte er sich an die Stirn und sagte: »Du hättest dafür das Fünffache verlangen können. Die Dinger sind im Delta begehrt. Hier gibt es nämlich keine Walker. Die gedeihen nur am Flussufer in Äquatornähe. Aber mach dir nichts draus – Hauptsache, wir sind gut in Memphis angekommen.«
Als Enoch die Heuer ausbezahlte, erhielt auch ich einen kleinen Betrag. Ich hatte nie im Leben Geld besessen, und plötzlich fühlte ich mich wie ein reicher Mann. Der Floßführer fragte mich, ob ich Lust hätte, eine weitere Fahrt mit ihm zu machen.
»Ich überlege es mir, Enoch. Aber zuerst versuche ich, meinen Freund Anzo zu finden, der wahrscheinlich mit einem früheren Floß hier angekommen ist.«
Enoch nickte. »Das dürfte kein Problem sein. Memphis ist zwar die größte Stadt auf diesem Planeten, aber im Grunde ein überschaubares Kaff.« Er gab mir die Hand. »Viel Glück!«
»Vielen Dank fürs Mitnehmen«, sagte ich.
»Wir haben noch keinen Zeitplan für die nächste Fahrt. Du hast also Zeit, es dir zu überlegen.«
Der Abschied von den Ruderleuten war sehr kurz – sie alle waren voller Tatendrang und freudiger Erwartung und hatten es eilig, in die Stadt zu kommen – und der von Mildred sehr herzlich. Sie umarmte mich und gab mir rechts und links einen Kuss auf die Wange. Mir fiel auf, was für eine zarte, weiche Haut sie hatte – beinahe wie die von Maurya, der Professorin von New Belfast. Nur ihr Duft war ein völlig anderer. Mildred roch nicht nach Parfüm, sondern … nach frischen Pfannkuchen.
»Bist ein guter Junge«, sagte sie. »Ich würde mich freuen, wenn du wieder mit uns fährst.«
»Mal sehen.«
»Das Haar ist wunderschön. Die herrlichen Seen, die Wasserfälle und die Wälder.«
Ich nickte und küsste sie meinerseits auf beide Wangen.
Und dann, mit meinen paar Habseligkeiten in der Bergstation der Bahn angekommen, stand ich mit Korbinian im Nu allein da. Alle anderen waren sofort losgestürmt, um die einschlägigen Etablissements aufzusuchen.
»Na, Junge«, sagte er. »Komm, wir gehen wenigstens ein Bier trinken. Ich lade dich ein.«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Ich lade dich ein.«
Er sah mich prüfend an und entblößte sein lückenhaftes Gebiss zu einem Grinsen. »Dir ist wohl dein Reichtum zu Kopf gestiegen?«
»Nein, aber ich habe das Gefühl, das bin ich dir schuldig.«
»Na, dann los!«
Wir nahmen auf der Terrasse des Hotels Terminus unter einem hellblauen Sonnenschirm Platz, dessen Saum in der Brise flappte.
»Vom Floß?«, fragte der Kellner, ein älterer Mann, der eine Schürze im gleichen Blau wie der Sonnenschirm vor den stattlichen Bauch gebunden hatte.
»Allerdings«, erwiderte Korbinian. »Kennst du mich nicht mehr, Stavros? Ich steige seit vielen Jahren in diesem Hotel ab.«
»Aber ja, Korbinian. Natürlich kenne ich dich.« Der Kellner beäugte mich skeptisch. »Und wie heißt du, Junge?«
Korbinian schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Quatsch nicht lange rum, Stavros. Bring uns zwei große Glas Bier vom Fass. Wir haben Durst.«
»Aus dem Haar quer durch den Glast. Das macht Durst.«
»Du sagst es.«
Der Kellner mit dem lustigen Namen watschelte gemächlich davon, und ich lehnte mich zurück und sah mich um. Dieses Licht! Ich war ja wahrhaft an Helligkeit gewöhnt, aber dieses Licht war anders. Alles hier war bunt, hatte eine eigene Farbe, die Blumen, die Bäume, die Vögel – hier lockte das Licht die Farben aus den Dingen hervor, ob im Sonnenlicht oder im Schatten. Im Glast dagegen schälte das Licht die Farben ab und zermalmte sie zu grauer staubiger Helligkeit.
Memphis mochte ein Kaff sein, wie Enoch behauptete, aber es war wunderschön. Und das Bier war unübertrefflich.
Ich blickte ins Flusstal hinab, ein dunkelgrüner Teppich bis zum Horizont, wo sich die Dijkengel zu ihrem Mahl niedergelassen hatten.
Korbinian rümpfte die Nase. »Bald wird’s hier furchtbar zum Himmel stinken.«
Doch noch strich eine frische Brise vom Südmeer herein, und Wolken segelten über uns hinweg, überzogen das Grün mit dahingleitenden Schatten. Und es war ganz still. Nur von der Lände her hörte man das ferne Geräusch der Maschinen, die das Floß auseinandernahmen und die einzelnen Stämme auf die Darre zogen.
In diesem Moment sah ich den Hund.
Er kam über den Platz vor dem Hotel geschlendert, groß, schwarz-braun gefleckt. Seine Bewegungen waren mühsam und steif. Er schien alt zu sein. Es war eine Hündin.
Sie lief zu mir und beschnüffelte meine Hosenbeine und Füße.
»Was willst du denn?«, fragte ich sie.
Die Hündin sah mich mit Augen an, die schon viel gesehen zu haben schienen, und erwiderte mit einer erstaunlich kräftigen Frauenstimme: »Du bist Suk. Aus dem Dorf der Dschiheads.«
Korbinian riss die Augen auf und stellte verwirrt sein Bierglas ab. »Der Köter kann ja sprechen.«
Die Hündin sah ihn mit trotzigem Blick an. »Ich bin kein Köter. Ich bin Virginia Woolf. Der Vorname ist nicht wörtlich zu nehmen.« Sie stieß ein rasselndes Lachen aus. Ihre schmalen Hinterläufe zitterten.
»Woher weißt du, wer ich bin?«, fragte ich sie.
»Jonathan Swift – ich kenne ihn seit vielen Jahren – hat mir dein Geruchsbild übermittelt, daran habe ich dich erkannt. Du suchst deinen Freund Anzo.«
Mein Herz machte einen Sprung. »Ja.«
»Er ist hier in Memphis. Er war nicht schwer aufzuspüren, vor allem wenn man jeden Winkel in der Stadt kennt wie ich. Ich bringe dich zu ihm. Er wohnt in der Bäckerei, für die er arbeitet. Es geht ihm gut.«
»Und seine Mutter?«
Virginia Woolf ließ den Schwanz sinken, sah mich mit ihren alten Augen an und sagte: »Sie lebt nicht mehr.«
Er war kräftiger geworden. Ich sah ihn auf der Straße, als er gerade aufbrechen wollte. Er trug ein rot kariertes Tuch um den Hals, offenbar das Kennzeichen der Bäckerei, bei der er beschäftigt war. Er hatte einen kleinen Hub, der mit zwei Körben beladen war, aus denen lange Brotlaibe ragten.
Als er mich erkannte, ließ er den startbereiten Hub zu Boden sinken und kam auf mich zugerannt. Wir umarmten uns lange und weinten, bis uns die Passanten, die vorüberkamen, merkwürdige Blicke zuwarfen.
›Du hast etwas vergessen bei deiner überstürzten Abreise‹, sagte ich zu ihm in unserer Sprache, öffnete meine Ledertasche, zog die beiden Hefte mit den Dongo-Zeichnungen heraus und überreichte sie ihm.
Er presste sie sich an die Brust und schluchzte. ›Danke, Suk! Danke!‹, gestikulierte er.
›Ich nehme an, du willst deine Dongo-Studien hier weiterführen.‹
Er hob die Schultern und schüttelte den Kopf. ›Hier im Delta gibt es keine Dongos. Sie brauchen die Glasflöhe, um denken zu können, und die gibt es nur in den äquatornahen Gegenden.‹ Er kraulte den Nacken der alten Hündin.
Ich sah ebenfalls zu ihr hinunter und sagte: »Danke, Virginia Woolf.«
»Virgin genügt«, erwiderte sie und fügte mit einem Kichern hinzu: »So nennen mich alle hier im Altersheim.«
»Danke, Virgin.«
»Übrigens werdet ihr mich jetzt öfter sehen. Jonathan hat mich gebeten, ein Auge auf euch beide zu haben. Falls Seine Heiligkeit, der Großarchon, auf dumme Gedanken kommt und jemanden schickt, um sich zu rächen.«
Anzo blickte auf die Hündin hinab. Es machte den Anschein, als hätte er sie gehört. Konnten sich die beiden auch anders als durch Worte verständigen? Mein Freund war wirklich voller Überraschungen.
Er sah mich fragend an. ›Wer ist Jonathan?‹
›Ich erzähle dir das alles später‹, gestikulierte ich.
Er nickte. ›Ja, ich habe dir auch viel zu erzählen. Aber jetzt muss ich los, sonst wird das Brot trocken.‹
›Wir sehen uns später. Ich wohne im Hotel Terminus neben der Bergstation der Bahn. Komm vorbei, wenn du Zeit hast.‹
›Mach ich, Suk.‹
»Auch ich werde dich dort öfter mal besuchen«, erklärte Virginia und stupste mich an.
»Du bist immer willkommen. Sag Jonathan einen herzlichen Gruß von mir, wenn du wieder mal Kontakt mit ihm hast. Und natürlich auch Maurya und Ailif.«
»Mach ich«, sagte die Hündin und trottete davon.