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Anzos Vater, Alexander hieß er, stammte aus der Gemeinde, hatte aber eines Tages kurz entschlossen das Dorf verlassen, als ein Floß den Ontos herabkam, war mit seinem Boot hinausgepaddelt und an Bord gegangen. Er hatte dann vierzehn Jahre als Flößer gearbeitet und sechzehn oder achtzehn Fahrten gemacht, bis er bei der Arbeit einen Fuß verlor. Er war beim Gang über das Floß abgerutscht und mit dem Fuß zwischen zwei Stämme geraten, als sie gerade den Dritten Katarakt überwanden. Der Fuß war zermalmt worden.

Einer der Männer auf dem Floß, der früher im Delta als Krankenpfleger gearbeitet hatte, führte eine Unterschenkel-Amputation durch, war aber offenbar außerstande, die Wunde sachgemäß zu versorgen, denn sie verheilte nie. Vier Jahre nach dem Unfall starb Anzos Vater an einer Infektion seines Beinstumpfs. Er hatte durch seine Arbeit genug Geld verdient, dass seine Frau und sein Sohn ein bescheidenes Auskommen hatten.

An sein Gesicht kann ich mich nicht mehr erinnern, es ist mehr als zehn Jahre her, ich war erst drei, als er starb. Ich weiß nur, dass er ein großer, breitschultriger Mann war, mit Händen wie Schaufeln, und dass er im Gegensatz zu allen anderen Männern in der Gemeinde keinen Bart und keine langen Haare trug, was mir als Kind merkwürdig erschien und ein bisschen Angst machte, wenn er mit nacktem Gesicht durch das Dorf hinkte.

Anzos Mutter stammte aus dem Haar. Sie war die Tochter eines Holzfällers, eine schöne und gescheite Frau, und sie hatte Alexander auf drei seiner Fahrten begleitet. Als er die Arbeit auf den Flößen aufgeben musste, brachte er sie mit ins Dorf. Zu der Zeit war sie mit Anzo schwanger.

Seine Heiligkeit, der Großarchon, war dagegen, dass sie im Dorf wohnen sollte. Anzos Vater grollte, aber er war ein zu frommer Mann, als dass er es gewagt hätte, die Krücke gegen das Oberhaupt der Gläubigen zu erheben. Er knirschte nur mit den Zähnen und pochte auf sein Recht als gebürtiger Dschihead und Mitglied der Gemeinde.

Zunächst fruchtete all sein Murren und Bitten nichts, aber dann kam es auf wundersame Weise offenbar doch zu einer Einigung. Man munkelte, dass der Krüppel ein dickes Bündel Scheine für den Schmuck des Tempels gestiftet hatte, in dem der Großarchon wohnte und amtierte. Jedenfalls durfte Alexander mit seiner Frau bleiben, musste sein Haus aber ein Stück flussabwärts außerhalb des Dorfes errichten, unweit der Stelle, wo man die Toten verbrannte und ihre Asche in den Fluss streute.

Als sein Vater starb, war Anzo erst vier Jahre alt. Es hatte sich bald nach der Geburt herausgestellt, dass er taubstumm war. Der Großarchon sagte, dies sei die Strafe für seine sündige Empfängnis, denn sein Vater hatte sich nie um den Segen des Großarchons bemüht, und uns anderen Kindern wurde verboten, mit ihm zu spielen. Die Dorfbewohner fragten sich hinter vorgehaltener Hand, warum diese Schlampe mit ihrer Missgeburt nicht zurück ins Haar ging. Gott hatte sie doch, die Witwe des Krüppels, doppelt und dreifach gestraft mit dem Unfall auf dem Fluss und einem taubstummen Jungen, der nie zu etwas taugen würde.

Ich meinte den Grund zu kennen, weshalb sie bleiben wollte. Sie wollte in der Nähe des kleinen Altars sein, den sie für die Asche ihres verstorbenen Mannes errichtet hatte, den sie jeden Tag mit frischen Blumen schmückte und auf dem sie regelmäßig ein Stückchen Harz verbrannte, wie es im Haar üblich war.

Anzo geriet ganz nach seiner Mutter: Er hatte ihr blondes Haar, ihre weiße Haut, ihre zierliche, schlanke Gestalt und ihre lebhaften dunkelbraunen Augen. Seine Mutter liebte ihn. Sie brachte ihm das Sprechen mit den Händen bei und später das Schreiben.

Er war ein freundlicher Junge, und ich mochte ihn. Wir waren etwa gleich alt. Mein Vater drückte ein Auge zu, als wir uns anfreundeten, und ich nahm ihn mit flussaufwärts zu den Wasserrädern, mit denen die Felder bewässert wurden. Wir kletterten oft stundenlang in den knarrenden hölzernen Speichen herum, zwischen denen die Eimer hingen, die sich im Fluss vollschöpften und dann träge hochstiegen, um oben ihren Inhalt in eine Ablaufrinne zu entleeren. Wir klammerten uns an den Speichen fest und ließen uns hinauftragen, hoch über die Begleiterinnen des Flusses hinaus und höher, bis wir die Schilfdächer überblicken konnten, die sich, von grauem Flugsand bedeckt, bis zu den Dünen erstreckten und unter denen, vor der Sonne geschützt, die bewässerten Felder lagen. Und während das Wasser in die Auffangrinne platschte und davonströmte, ging es wieder abwärts in den Fluss, wo wir hüfttief durchs Wasser geschleift wurden, prustend und lachend – und dann wieder hinauf.

Manchmal machten wir es wie Gabriel, den wir schon öfter dabei beobachtet hatten, ließen die Hosen herunter, schlossen die Augen, machten den Zapfen steif und umarmten eine der Gefährtinnen des Flusses. Wir schmiegten uns an sie und rieben uns an ihrer weichen feuchten Haut, bis es uns den Atem verschlug. Der Fluss verschlang unseren Samen und trug ihn mit sich fort, um das Delta zu befruchten oder die Tiere in den Tiefen des Meeres.

In der Zeit, die wir gemeinsam verbrachten, lehrte Anzo mich seine Sprache der Hände, das lautlose Sprechen, damit wir uns besser verständigen konnten, und es machte uns eine diebische Freude, wenn wir in der Gegenwart anderer miteinander »reden« konnten, ohne auch nur ein Wort zu sagen.

Wenn wir bei den Wasserrädern waren, hielt er manchmal minutenlang inne und lauschte mit geschlossenen Augen.

Ich hob die Hände und fragte: ›Was ist?‹

Anzo legte den Finger an die Lippen, dann hob er ebenfalls die Hand, klappte die Finger und den Daumen zusammen und deutete auf seinen Mund. ›Sie reden‹, sagte er. ›Ich höre sie.‹

»Wer redet?«

›Die Dongos.‹

»Ich höre nichts.«

Er nickte. Ich erstarrte in Bewunderung.

»Sprechen sie zu dir? Fragen sie: He, Anzo, wie geht’s dir heute?«

Er lächelte und schüttelte den Kopf. ›Nein, ich höre, wie sie miteinander reden. Wenn einer einen großen Fisch gefangen hat, ruft er die anderen herbei und lädt sie ein, an der Mahlzeit teilzunehmen. Sie sind sehr gesellig.‹

»Was du nicht sagst. Gib zu, du flunkerst!«

Er schüttelte erneut den Kopf, diesmal mit ernster Miene. ›Nein‹, sagte er, ›so sind sie.‹

»Hören sie dich auch, wenn du etwas zu ihnen sagst?«

Seine Augen hingen aufmerksam an meinen Lippen – wie immer, wenn jemand zu ihm sprach. Dann hob er die Schultern.

Ich glaube, sie hörten ihn, denn manchmal tauchte einer von ihnen ganz in der Nähe auf, lautlos, und musterte uns mit seinen hell blitzenden Augen, die wie flüssiges Silber aussehen, blies den Rüssel in unsere Richtung leer und tauchte wieder unter.

Und er sprach mit ihnen. Mit seiner inneren Stimme. Und sie hörten ihn, den Stummen. Und er hörte sie, taub wie er war.

Und nun hatte ich ihn und sein Geheimnis verraten.

Idiot, der ich war.