Tagsüber simmert die Hitze, die Nächte sind heiß und schwer. Er fühlt sich wie gestern und wie vorgestern und vorvorgestern, eine Null, ein Vakuum, vom Licht der Zukunft abgeschnitten. Einsamkeit nimmt die gesamte Wohnung ein, als wäre der Sauerstoff weggeatmet, Verzweiflung füllt die Nächte aus und brennt die Tage leer. Jeden Morgen wacht er zwischen halb vier und vier auf, der Stunde, in der die Irren, Verbrecher und Säufer aufwachen und wissen, dass für sie kein Schlaf mehr da ist. Mit weit geöffneten Augen wartet er auf die Morgendämmerung, darauf, dass das Licht sich ausdehnt. Ein Sonnenaufgang ist doch etwas Entsetzliches, wenn sich nach und nach die Schrecken aus der Dunkelheit schälen. Der weiße Plastikstuhl ist umgefallen, es sieht aus, denkt Roth, als wäre er vor vielen Jahren in einem Regenguss vergessen worden und würde seither dort trocknen. Wirres Zeug schießt ihm durch den Kopf, flache Gedanken, Fragmente, undatierte Erinnerungsfetzen, mit denen er nichts anfangen kann. Früher schien ihm eine Stunde wie eine Ewigkeit, jetzt kann er nachmittagelang auf dem Sofa oder dem Balkon sitzen und gleichgültig daran denken, dass er morgen genauso dasitzen wird, und übermorgen wieder. Es lohnt nicht, über etwas nachzudenken, wenn man nicht genügend darüber weiß. Was könnte ich heute tun, das der Mühe wert wäre? Gute Frage. Er macht ein Spiel daraus, die Schritte zu zählen, die er braucht, um vom Sessel zum Fenster, vom Sessel zum Bad, vom Sessel zum Flur zu gehen. Das Treiben draußen auf der Promenade, wie überhaupt alles, geht auch ohne ihn weiter, so wie es weitergeht, wenn er tot ist. Seine Welt zerfällt, im Inneren wie im Äußeren, eine Stahlkugel, deren Schweißnähte sich auflösen. Ihn fasziniert die Vision seines bevorstehenden Untergangs.
Saturday Night. Partytime. Neben Wirt Helmut, den Stammgästen Hardy, Mike und Frank ein Unbekannter in Zunftkleidung und Zimmermannshut. Dachdecker oder Zimmermann oder Gerüstbauer oder so was. Helmut schlurft herbei/schlurft an/kommt angeschlurft/herangeschlurft/nähert sich schlurfend Roths Tisch. Er trägt Hausschuhe.
«Was kann ich Gutes für dich tun?»
Seine untere Zahnreihe ist gelb wie die eines Hundes, links oben fehlen zwei Zähne.
«Bier und doppelten Weinbrand.»
«Aye, aye, Sir, wird sofort erledigt.»
Wenn er nur oft genug kommt und lange genug bleibt, wird sich zwischen denen und ihm eine farb- und geruchlose, sehr haltbare Verbindung ergeben.
Hardy: «Seit meine Frau bei der Bahn arbeitet, schlägt sie täglich bis zu 1800 Eier mit der Hand auf und hat immer noch Spaß daran. Sie selber mag ihre Eier aber lieber hart gekocht.»
Mike: «Mehr als kaputtgehen kann man nicht.»
Hardy: «Hörst du überhaupt zu?»
Mike: «Logisch hör ich zu.»
Frank: «Bock of my Pillermann?»
Mike: «Ach, jetzt meldest du dich, Frank, jetzt meldest du dich auch mal. Du stehst doch schon in der Wanne, bevor das Wasser warm ist. Halt lieber dein Maul.»
Hardy: «Stark am Glas, schwach im Herzen. Prost!»
ALLE : «Prost.»
Roth sitzt an seinem Tisch und lauscht. Eine aus den Fugen geratene Säufer- und Irrenparallelwelt.
Mike: «Da ist der Fremde wieder.»
Hardy: «Das ist kein Fremder.»
Helmut (in Richtung Roth): «NUN KOMM DOCH MAL RÜBER HIER .»
Roth tut, wie ihm geheißen.
Hardy: «Ist dein Glückstag heute. Russische Wochen im Spinner.»
Roth: «Wie meinen?»
Hardy: «Das ist Krim-Klaus. (Deutet auf den Dachdecker.) Immer, wenn Klaus kommt, sind russische Wochen.»
Mike: «Klaus macht Reetdächer. Auf Amrum, Sylt, Föhr und so, wo die Leute richtig Patte haben.»
Hardy (zu Klaus): «Zeig mal deinen Zollstock.»
Klaus zieht grunzend einen Zollstock aus seiner Hose.
Hardy: «Fahr mal aus, das Teil.»
Klaus fährt die Elle aus.
Mike: «Guck mal, wie lang der ist.»
Roth: «Ja, wie lang ist der denn?»
Mike: «Hundertsechzig Zentimeter.»
Roth: «Ah so.» Er kennt sich mit Zollstocklängen nicht aus.
Hardy: «Das ist ein ganz alter, Fünfzigerjahre, ’ne regelrechte Antiquität. Heute haben die alle standardmäßig zwei Meter.»
Mike: «Wenn Klaus zu den Leuten kommt für den Kostenvoranschlag, misst er das Dach vor denen ihren Augen aus. Er sacht dann immer zwei Meter mal zwei Meter mal zwei Meter mal zwei Meter und so weiter, wie lang das Dach eben ist. Und dann alles noch mal in der Breite.»
Hardy: «Verstehst du? Statt zwei Meter nur ein Meter sechzig. Bei jedem Dach bescheißt er seine Auftraggeber um zwanzig Prozent. Mit so einem billigen Trick. Und die ganzen Jahre ist ihm nie einer draufgekommen.»
Mike: «Den ganzen reichen Arschlöchern ist das egal, die haben Geld ohne Ende.»
Hardy: «Darum werden die auch beschissen ohne Ende. Die Leute geben ihm die Kohle oft in bar. Verstehst du? Fünfzig-, sechzigtausend in kleinen Scheinen, das drängen die ihm regelrecht auf.»
Mike: «Und immer, wenn Klaus ein Dach fertig hat, sind russische Wochen.»
Klaus: «Helmut, machst du noch mal einen Krimskoye und einen Moskovskaya für unseren neuen Gast?»
Roth hat in seinem ganzen Leben noch keinen roten Sekt getrunken.
Ich bin gut drauf und trink roten Sekt.
Weiß erst jetzt, wie gut Paella schmeckt.
Und steh mit Freunden abends an der Bar.
Wer braucht dich? Ich hab Ibiza.
Hardy: «So, und nun weißt du Bescheid.»
Mike: «Wenn man einen Dachschaden hat, muss man den Dachdecker rufen.»
Klaus: «Zieh dich zurück. Erkläre nichts. Bring es zu Ende und lass sie heulen. Prost.»
Hardy: «Manchmal muss man Befehle geben, ohne zuzuhören, und manchmal muss man zuhören, ohne Befehle zu geben.»
Frank: «Er trank Wodka, sie stand so da.»
Nach und nach versinkt der Spinner in einem Gurgeln und Simmern und Rauschen und Dröhnen. Draußen lauert sicher schon der Westenmann. Seine kalte Hand hat meine berührt, aber ich bin ihm entwischt. Jetzt rieche ich seinen Atem und sehe seine roten Augen in der Dunkelheit.
Seine Alkoholvorräte sind so gut wie erschöpft, es gibt nur noch eine Flasche Wein, Blutorangenlikör, etwas Rum. Ein Gang zu Edeka Jens ist unvermeidlich. Wie sieht er eigentlich mittlerweile aus? Er stellt sich mit dem Gesicht an den Spiegel, bis er mit der Nasenspitze das Glas berührt. Nicht wiederzuerkennen. Er weiß nicht mehr, wer er ist. Er ist irgendetwas anderes geworden. Auf seinem dörrfruchtartigen, papierhäutigen Gesicht hat sich eine seltsame Färbung ausgebreitet, eine kranke Blässe, die Bartstoppeln sind scharf und nagelbretthart. Seine Haare stehen in alle Richtungen ab, wodurch sein Kopf aussieht wie eine Klobürste. So kann ich unmöglich vor die Tür. Er nimmt eine Dusche, wäscht sich die Haare, rasiert sich, schneidet Finger- und Fußnägel.
In der Fensterfront von E-Jens betrachtet er sein Spiegelbild, seinen VERFALL . Kopf voran, Rücken krumm, ein o-beiniges Geschiebe, als trüge er zu große Schuhe oder als zögen irgendwelche Kräfte die Sehnen und Bänder in seinem Bauch zusammen. Gott ach Gott ach Gott. Das ganze Unterfangen steht unter einem unglücklichen Stern. Das sind so die staksigen Formulierungen in seinem inneren Monolog. Auf dem Rückweg besorgt er sich vier Döner-Mix-Teller, auf Vorrat. Zwei verschlingt er auf der Stelle, die anderen vergisst er in den Kühlschrank zu tun.
Sein vom Schrottfraß aufgewühlter Magen brennt. Er trinkt eine halbe Flasche Gin und noch einen kleinen Brandy hinterher, für den Mundgeschmack. Irgendwo dahinten, auf der gegenüberliegenden Seite, liegt Fehmarn. Heiligenhafen, dann Fehmarn. Über ihm die stille, funkelnde Sternenmasse, heute kann man sicher bis in den hintersten Winkel des Universums sehen. Gleich stürzt die Nacht in sich zusammen, weil sie die Last der Sterne nicht mehr tragen kann. Er selbst ist der Wind, aufgelöst in den oberen Sphären, und er kann die gesamte Lübecker Bucht überblicken.
Gott im Himmel
mit deiner scharf vorspringenden Nase, dem spitzen Kinn und den aufgesprungenen Lippen.
Dein Bart ist welk und fransig.
Deine Augen, weiß wie zwei geschälte, in den Schädel gebohrte Eier, machen mir Angst.
Dein Haar steht senkrecht vom Kopf ab wie die Borsten eines Tieres.
Dein Atem riecht nach Müll; wenn du lachst, hart wie Hundegebell, könnte man meinen, dein Gesicht würde in tausend Teile zerplatzen.
Wenn ich mich ganz auf die Zehenspitzen stelle, kann ich in deinen verdorrten, rissigen Schlund hineinsehen. Nicht schön, gar nicht schön.
Hör dir doch mal selber zu: leeres Gewäsch, dünne Gedanken,
falsche Versprechungen, Mahnungen, Forderungen, Drohungen, Verfluchungen, das ist alles, was du draufhast.
Doch so läuft das nicht.
So läuft das nicht länger.
Es hat einfach keinen Zweck mehr mit dir.
Du bist vergiftet, verwittert, gebrechlich, irre. Du trägst keine Schuld, du bedarfst unserer Hilfe. Wir sollten gnädig sein und dir vergeben.
Aus seinem Mund scheinen Dünste in sein Gehirn aufzusteigen und ihn benommen zu machen. Ein Geräusch wird zu einer Farbe, Farben werden zu Gerüchen, die Wände beginnen zu atmen, das Zimmer zerfällt vor seinen Augen, beginnt zu zoomen, spaltet sich auf, Molekül für Molekül, es stinkt nach Phosphor, die Angst rast vibrierend die Aorta hinauf und saugt ihm das Fleisch von den Knochen. Er hat lange Splitter aus weißem Rauschen in den Ohren.
Bad Trip. Really Bad Trip. Seine Augen sind voller Tränen. Er weint um sich selbst, weil er spürt, wie sich das Leben von ihm herunterschält, er weint, weil er Angst davor hat, alleine in der Nacht zu sterben. Und selbst der überzeugteste Atheist denkt im Moment des Todes dummes Zeug à la: «Ach, meine liebe Omi, jetzt bin ich bald bei dir.»
Aber er will noch nicht sterben.