Kapitel Fünf
I ch war wie im Rausch, als ich in unserem Trainingsraum oberkörperfrei und total verschwitzt wie ein Besessener auf den Boxsack einschlug. Meine nassen, schwarzen Haare fielen mir bei jedem Schlag wirr ins Gesicht. Ich konnte nicht aufhören. Unaufhörlich trat und schlug ich mit all meiner Kraft auf den Sack ein.
Die höllisch schmerzende Schussverletzung an meiner Schulter ignorierte ich komplett. Ich musste mich ablenken und abreagieren, brauchte meinen Fokus wieder zurück. Und da half es mir am besten, auf etwas oder jemanden einzudreschen, und da Jason, dieser kleine Hurensohn, gerade nicht zur Stelle war, musste eben der Boxsack herhalten.
Meine Muskeln waren zum Zerreißen gespannt, meine Fäuste schon taub von den vielen Schlägen. Die Boxhandschuhe hatte ich schon lange ausgezogen. Ich prügelte nur noch mit meinen sorgfältig bandagierten Händen auf den Sack ein.
Vor Anstrengung keuchte ich schwer. Mein Herz hämmerte hart gegen meinen Brustkorb. Dennoch konnte ich nicht aufhören. Schlag um Schlag. Tritt um Tritt.
Auch als ich im Augenwinkel Aleks bemerkte, hörte ich nicht auf, das Leder zu bearbeiten.
Erst als mein bester Freund sich hinter den Sandsack stellte und ihn festhielt, damit ich besser zuschlagen konnte, hörte ich auf und wischte mir mit dem Arm über mein schweißnasses Gesicht. Völlig außer Atem und total verschwitzt stand ich vor ihm.
Ich sah es ihm an, er wollte etwas sagen. Mein bester Freund wusste nur noch nicht so genau, wie er mich in meinem jetzigen Zustand ansprechen sollte. Das brachte mich zum Schmunzeln.
»Na, jetzt spuck's schon aus. Ich reiß dir schon nicht den Kopf ab!«, feixte ich.
»Da bin ich mir gerade nicht so sicher. Ich habe dich ja schon öfter in einer schlechten Verfassung gesehen, aber das hier«, Aleks wedelte wildgestikulierend um sich, »das ist selbst für dich eine neue Stufe des Wahnsinns!«
»Meines Wahnsinns?!«, fragte ich ihn spöttisch und hängte mir ein Handtuch in den Nacken, um mein Gesicht und meine Haare vom Schweiß befreien zu können.
»Ja, das ist Wahnsinn. Du benimmst dich nicht wie du selbst! Ich begebe mich jetzt mal auf ganz dünnes Eis und behaupte, dass das alles rein zufällig etwas mit dem kleinen Kätzchen von gestern zu tun hat?«, fragte mich Aleks beunruhigt und nahm vorsichtshalber einen Schritt Abstand von mir.
»Ganz vorsichtig!«, knurrte ich ihn an. »Das hat rein gar nichts mit der Kleinen von gestern zu tun!« Drohend machte ich einen Schritt auf ihn zu.
Aleks zuckte gleichgültig mit den Achseln.
»Ah ja … Und warum hast du sie dann im Hinterhof fast gevögelt?«
Ich hob missbilligend eine Augenbraue. »Hast du mal wieder gespannt, eh? Bekommst du keine eigene mehr ab, oder warum hast du das nötig?«
Er gab ein spöttisches Schnauben von sich.
»Klar! Als ob ich sowas nötig hätte. Obwohl die Kleine ja schon heiß war. Und ihr freches, loses Mundwerk erst! Die kleine Wildkatze würde ich gern zähmen«, schwärmte Aleks gedankenverloren.
»Du lässt die Finger von ihr!«, verlangte ich von ihm, eine Spur zu streng.
Aleks hob skeptisch eine Augenbraue.
»So? Hat sie es dir also doch angetan, oh großer Häuptling?«, feixte mein bester Freund.
Er konnte sich ein fettes Grinsen nicht mehr verkneifen. Leider hatte er sich für blöde Scherze den absolut falschen Tag ausgesucht.
Also kam es, wie es kommen musste. Ich rammte ihm mit voller Wucht meine Faust in die Fresse. Aleks taumelte rückwärts, seine Lippe blutete.
Mit hängenden, jedoch noch immer geballten Fäusten baute ich mich vor ihm auf und funkelte ihn wütend an.
»Hör mir gut zu, mein FREUND! Meine schlechte Laune oder der berechtigte Schlag in deine hässliche Fresse haben rein gar nichts mit der Prinzessin zu tun. Sondern mit Walker und Black! Diese beiden Bastarde haben mich gelinkt und verdammt nochmal angeschossen! Ich will ihre Köpfe! Und anstatt sie mir auf einem Silbertablett zu servieren, wie es eigentlich dein Job wäre, machst du mich wegen irgendeiner kleinen Fotze blöd von der Seite an?! Vergiss nicht, wo dein Platz ist. Und jetzt geh mir aus den Augen, sonst vergesse ich mich noch!« Ich wandte mich von ihm ab und begann erneut, den Sandsack hart mit meinen Fäusten zu malträtieren. Dank meines besten Freundes fühlte ich mich noch schlimmer als zuvor. Ich hätte ihn gerade eben lieber erschossen als geschlagen. Zu seinem Glück hatte ich keine Waffe griffbereit.
In meinem Rücken hörte ich die Tür und wusste, dass ich wieder allein war.
Nach einer weiteren Stunde Training war ich so am Ende meiner Kräfte, dass ich es kaum noch die Treppen hoch in die Küche schaffte. Meine Schulter schmerzte bestialisch, die Nähte waren an beiden Seiten aufgeplatzt. Blut lief mir über Brust und Rücken hinunter, doch es war mir egal.
Dieses harte Training war nötig gewesen, um nicht doch noch aus Versehen den nächsten Hausbewohner anzugreifen, der mir blöd kam, oder ihn dieses Mal vielleicht sogar umzubringen.
Ich stand am Rande des dunklen Abgrunds und wusste nicht, wie lange ich noch die Balance halten konnte, bevor ich in die Schwärze hinabstürzen würde. In eine Finsternis, aus der es kein Entkommen gab.
Oben in der Küche angekommen war ich natürlich nicht allein. Gut, die Küche war unser sozialer Treffpunkt, doch immer, wenn ich mal gerade keiner dieser Nervensägen über den Weg laufen wollte, so wie jetzt, kamen sie gleich alle aus ihren Löchern gekrochen.
Ich seufzte laut und fügte mich meinem Schicksal, denn da ich kurz vor dem Verhungern stand, musste ich wohl oder übel in die Küche. Mit noch immer freiem Oberkörper ging ich an unserem großen Esstisch vorbei, ignorierte die Blicke und bellte Mike zu, mir etwas zu Essen zu bringen. Dann ließ ich mich auf meinen Platz am Kopfende fallen und wartete auf das, was unweigerlich kommen würde. Doch bevor ich mir ihr Gemaule anhören würde, brauchte ich Nikotin.
»Kippe!«, brummte ich knapp.
Sofort schob Aleks seine Schachtel über den Tisch. Er sah mich mürrisch an. Seine Lippe war bereits auf das Doppelte angeschwollen und blutete noch immer leicht.
Ich konnte mir ein Schmunzeln nicht verkneifen. Der Schlag in seine dämliche Visage hatte verdammt gutgetan. Schnell noch eine Kippe aus der Schachtel geschnipst, dann schleuderte ich die Packung über den Tisch zurück. Ich steckte mir die Kippe zwischen die Lippen und ließ mir von Joe Feuer geben.
Erst nachdem ich ein paar Mal gezogen hatte, sahen sie etwas entspannter aus. So als warteten sie nur darauf, dass das Nikotin meine Nerven beruhigte.
Erneut musste ich schmunzeln, als ich in ihre verschreckten Gesichter sah.
»Jesus!« Ich rollte genervt die Augen. Keiner sagte auch nur ein Wort. Und da Mike eben mit meinem Essen hereinkam, war es mir auch ganz gleich.
Schnell drückte ich die Kippe im Aschenbecher neben mir aus – Mike hatte sie überall im ganzen Haus für mich und meine Leute bereitgestellt, da er vermutlich befürchtete, dass wir sonst die Einrichtung beschädigen würden. Dann fiel ich über den riesigen Teller Nudeln her.
Ich verschlang gleich zwei Portionen.
Aleks schob mir nach dem letzten Bissen gleich noch einmal seine Kippenschachtel über den Tisch.
Ich nahm mir eine, dankte Aleks im Geiste dafür und wieder wurde mir von dem Hünen neben mir Feuer gereicht.
Nach weiteren Minuten des Schweigens gab ich es auf.
»Wie geht es David?«, fragte ich an Liam gewandt. Bis auf David saßen alle meine Leute hier am Tisch.
»Den Umständen entsprechend ganz gut. Ich kann allerdings noch nichts Neues zu seinen Stimmbändern sagen. Das verrät uns nur die Zeit. Was ist mit deiner Schulter passiert?«
»Training«, erwiderte ich knapp.
Ein spöttischer Laut kam von Aleks.
Dunkel lächelnd hob ich eine Augenbraue.
»Willst du mir etwas sagen?!«, brummte ich meinen besten Mann drohend über den Tisch hinweg an.
»Ich hätte eine Menge zu sagen!«, entgegnete er todesmutig.
Die Spannung am Tisch war wieder überdeutlich zu spüren. Ich wollte gerade zum Sprechen ansetzen, da erhoben sich meine beiden Geschwister wie auf Kommando. Einer ging nach rechts zu mir und der andere nach links zu Aleks. Und wie beinah jedes Mal war die Arbeitsverteilung klar geregelt.
Sophia ließ sich flirtend auf Aleks Schoß gleiten und hauchte ihm verruchte Sachen ins Ohr, um ihn von unserem Streit abzulenken. Das tat sie, wann immer sie die Gelegenheit dazu bekam.
Ich hatte keine Ahnung, was das genau zwischen ihnen sein sollte. Mal turtelten und vögelten sie sich durchs ganze Haus wie zwei verliebte Teenager und im nächsten Moment durfte man kein Feuer neben ihnen anzünden, sonst gingen sie mit einem lauten Knall in die Luft.
Liam kam zu mir, um sich meine Wunde anzusehen. Es lief doch eigentlich beinah immer gleich ab, wenn Aleks und ich uns vor den anderen stritten.
»Das muss neu genäht werden«, nuschelte mein Bruder und verschwand aus der Küche, um seinen Arztkoffer zu holen.
Sophia hatte es derweil wieder einmal geschafft, Aleks einzulullen, denn sie erhoben sich händchenhaltend und gingen in Richtung Tür.
Kurz bevor sie aus der Küche verschwanden, rief ich Aleks noch etwas nach – ich konnte mir den Spaß einfach nicht entgehen lassen.
»Viel Spaß euch beiden Turteltauben. Ach, und Aleks? Denk aber währenddessen nicht an die kleine Wildkatze von gestern. Das würde meine liebe Schwester sofort durchschauen.« Ich grinste breit, als er mir, ohne sich umzudrehen, den Mittelfinger zeigte. Kurz darauf hörte ich das, was ich hören wollte: meine Schwester, wie sie Aleks eine Szene wegen der kleinen Prinzessin machte.
Sie wollte nun natürlich genau wissen wer 'die kleine Schlampe' war und, und, und …
Sorry, mein Freund, das war's dann wohl mit Sex für dich!
Ein fieses Lächeln stahl sich bei diesem Gedanken auf meine Lippen.
Liam kam wieder in die Küche, bereitete alles vor, um meine beiden Schusswunden erneut zu säubern und zu nähen.
Ich ließ die Prozedur über mich ergehen.
Unerwartet klingelte mein Handy, was eigentlich nie ein gutes Zeichen war. Denn den Hunter rief man nicht mal eben so an. Außerdem hatte keiner meine Nummer, abgesehen von meinen Leuten und den Big Four.
Genervt ging ich dran, doch als ich die Stimme vom alten Hopkins hörte, wurde ich hellhörig.
»Hunter, ich habe gehört, was passiert ist. Wie konntest du so leichtsinnig sein? Walker stiftet in MEINEM Revier gerade Unruhe! Und was machst du dagegen? Bring das in Ordnung, Enzo! Wir treffen uns heute Abend ALLE in deiner Kneipe. Ach, und Hunter: Sorg für gute Stimmung. Du musst die anderen Four's irgendwie besänftigen«, grollte er und legte offensichtlich schlecht gelaunt direkt wieder auf.
Unsere Telefonate waren immer recht einseitig. Nur einer von uns beiden brüllte in den Hörer.
Dieses Mal war er es.
Ich tippte mir mit dem Handy gedankenverloren ans Kinn. Hopkins war schon ein feiner Mann. Dieser alte Kauz hatte uns, meine Geschwister und mich, vor knapp 15 Jahren mit kleinen Auftragsjobs von der Straße geholt.
Ich konnte ihn gut leiden. Er hatte mich zu dem gemacht, der ich heute war.
Hätte Aleks mich ihm damals nicht vorgestellt und den Alten von meinem Können überzeugt, wüsste ich nicht, ob das schwarze Herz in meiner Brust heute überhaupt noch schlagen würde.
Oder wäre es nicht vielleicht sogar besser gewesen, er hätte es nicht getan?!
Wer wusste das schon so genau? Na ja, sei's drum.
Er war derjenige, der mir alles beigebracht und mich in die Unterweltszene eingeführt hatte.
Ich würde nicht in dieser verdammten vierzehn Zimmer Luxusvilla sitzen, wenn ich nicht durch ihn gelernt hätte, meinen Job zu beherrschen und dementsprechend gut bezahlt zu werden.
Ich hätte nicht die härtesten Männer hinter mir stehen und sie würden mich auch nicht ihren Anführer nennen.
Die gesamte Bronx und die Unterwelt würden nicht vor meinem Namen erzittern, wenn er mich damals einfach hätte verrecken lassen. Hätte er es doch nur getan! Manche Monster konnte man nur in jungen Jahren bezwingen! Nun war es zu spät!
Durch mein erworbenes Wissen und die Fähigkeiten, die ich sowieso schon besessen hatte, wurde ich zu einem Todesengel. Ich fegte über die Welt und riss alle kleinen und größeren Ungeheuer mit mir in die Schwärze. Dort gehörten wir alle hin und früher oder später, würde auch ich in die Hölle zurückkehren, der ich entsprungen war.
Doch solange mein schwarzes Herz noch in meiner Brust schlug, so lange würde ich hier auf dieser Welt verweilen.
Ein Räuspern riss mich aus meinen Gedanken.
Ich ruckte mit meinem Kopf in Richtung des Geräuschs und sah zu Joe. Der Hüne musterte mich fragend.
»Was ist los, Chef?«
»Es wartet Arbeit auf uns. Walker macht in unserem Revier Ärger! Hopkins will uns alle heute Abend im Shade sehen.« Ich erhob mich und machte mich auf, die Küche zu verlassen.
»Sag den anderen Bescheid!« Mit diesen Worten ließ ich Joe zurück und verschwand nach oben in mein Zimmer. Ich beschloss, mich für die verbliebenen Stunden bis zum Treffen noch einmal hinzulegen. Die vergangenen Tage hatten es echt in sich gehabt.
Daher schlief ich auch sofort ein.