Kapitel Acht­und­zwanzig
E rst als die Tür sich schloss und ich hörte, wie er von außen doppelt absperrte, wagte ich es, mich wieder zu rühren. Noch einmal sah ich angewidert zu dem dicken Bolzen hinauf. Er hatte doch nicht wirklich vor, mich an die Wand zu ketten, oder?!
Als ich mich abwandte, traf mein Blick einen anderen Gegenstand an der Wand.
Mein Kopf schnellte wieder in dessen Richtung. Es war ein Bild an der Wand gegenüber seines Betts. Und es war nicht nur irgendein Gemälde, es war mein Gemälde!
Völlig irritiert riss ich die Augen auf. Enzo war der großzügige, anonyme Kunde von letztens gewesen?
Er hatte den dreifachen Preis überwiesen und auf keinen meiner Kontaktversuche, um ihn über seinen vermeintlichen Fehler zu informieren, reagiert. Nun wusste ich, dass es kein Fehler gewesen war. Enzo hatte mein Gemälde gekauft, um mir zu helfen, weil er wusste, dass ich Geldprobleme hatte.
Warum tut er sowas?!
Doch ich hatte keine Zeit mehr, über solche Dinge nachzudenken.
Ich musste mich beeilen, er könnte jederzeit zurückkommen.
Schnell zog ich mir Enzos Sachen über, schnappte mir Liams Handy und gab den Code mit zittrigen Fingern ein. Als Liam mich unten in meiner Zelle besucht hatte, war es mir möglich gewesen, einen Blick auf seinen Sperrcode zu erhaschen. Wieder dankte ich meinem fotographischen Gedächtnis.
Das Handy entsperrte sich. Sofort gab ich Jasons Nummer ein und rief ihn an. Doch auch nach dem dritten Anruf ging er nicht ran. Mein Blick ging immer wieder zur Tür. Alle paar Minuten lauschte ich in die Stille hinein. Zu blöd, dass ich nicht wirklich laufen konnte. Ich wäre zu langsam, damit Enzo keinen Verdacht schöpfen würde. Auch wusste ich noch nicht so recht, wo ich Liams Handy hier verstecken sollte. Doch darum würde ich mich später kümmern. Nun musste ich mir erst einmal überlegen, wie ich zu meinem Bruder Kontakt aufnehmen konnte.
Whatsapp wollte ich nicht öffnen. Man könnte sehen, dass Liam online gewesen war, jedoch sein Handy nicht bei sich hatte. So blieb er vielleicht im Glauben, er hätte es im Badezimmer liegen gelassen. Bei dem Chaos da unten würde er sich nicht wundern, sollte er es nicht sofort finden. Auch das Problem, wie ich sein Handy wieder loswerden würde, verschob ich auf später.
Ich entschied mich dazu, Jason eine SMS zu schicken. Ich hoffte, er glaubte mir, dass ich es war.
Jason, ich bin es. Kat. Bitte melde dich! Ich habe Liam das Handy geklaut und nicht viel Zeit! Sie werden gleich zurückkommen! Ruf mich sofort an!!!
Keine drei Minuten später klingelte das Handy. Ich ging sofort dran, als ich die Nummer von meinem Bruder erkannte.
»Kat?«
»Ja, ich bin’s! Jason, ich habe nicht viel Zeit. Ich weiß nicht, wann er wieder zurückkommt. Wo bist du? Warum hältst du dich nicht an die Abmachung? Weißt du denn nicht, was du mir damit antust?!« Ich konnte meine Tränen nicht mehr zurückhalten, auch meinen anklagenden Ton konnte ich nicht verbergen.
»Kat, sag mir erst, wie es dir geht? Hat dich jemand angerührt?«
»Nein! Mir geht es gut. Es ist zwar nicht das Plaza, aber ich werde halbwegs anständig behandelt. Jason! Jetzt sag doch bitte, wo du bist?!« Mein Flehen in der Stimme nahm zu.
Jason seufzte laut auf.
»Kat, ich kann dir nicht sagen, wo ich bin. Es ist zu gefährlich! Du könntest unbewusst abgehört werden.«
»Aber dann sag mir doch wenigstens, warum du dich nicht an die Abmachung mit Enzo hältst. Wieso nimmst du nicht Kontakt zu ihm auf? Warum tust du nicht, was er sagt?«
Eine Pause entstand. Immer wieder sah ich panisch zur Tür, redete auch bedacht leise und zischte meine Worte lediglich.
»Weil ich diesen Hurensohn nicht gewinnen lassen werde! Ich hol dich da schon raus, keine Sorge. Aber nicht, wie es vereinbart war. Kat, wo bist du gerade? Und wie lange kannst du dieses Handy behalten, ohne dass es auffällt?«
»Jason, das gefällt mir nicht! Du hattest einen Deal mit ihm! Wenn er davon erfährt, wird er mich benutzen, um dich zu bekommen. Das ist dir hoffentlich klar, oder? Und um auf deine beiden Fragen zu antworten, ich weiß es nicht. Ich bin in Enzos Zimmer eingesperrt. Er wird bald zurückkommen.«
»Wieso zum Teufel bist du in seinem Schlafzimmer?!« Jason brüllte mir regelrecht ins Ohr. Ich überlegte kurz, musste ihm ja wohl nicht alles erzählen.
»Ist doch jetzt auch egal. Fakt ist, so konnte ich an Liams Handy gelangen und mit dir Kontakt aufnehmen.«
Jason schwieg. Ich lauschte.
»Okay, Kat, hör mir jetzt genau zu. Vielleicht könnte es ganz nützlich sein, dass du bei ihm im Zimmer bist. Ich brauche einen Hinweis, wo sich sein Haus befindet. Keiner weiß es! Ich kann gerade nicht einmal das Handy orten, es ist wie verhext! Ich habe wirklich alles versucht. Das System zeigt mir an, dass du dich in Georgia befinden müsstest, und das tust du doch nicht, oder Kat?«
Ich stutzte kurz.
»Nein. Wir sind nicht lange Auto gefahren. Vielleicht vierzig Minuten. Aber es könnte überall sein. Ich konnte nichts sehen. Was soll ich denn für dich tun? Und wie willst du mich hier aus dieser Festung rausholen? Das gesamte Grundstück wird kameraüberwacht und eine riesige Mauer ist auch noch darumgezogen. Und vergiss Enzos Männer nicht.«
»Könntest du bitte aufhören, ihn so vertraut ›Enzo‹ zu nennen? Das macht mich ganz verrückt. Dieser Psychopath ist der Feind, Kat! Vergiss das nicht. Und zu dem, was du für mich tun kannst: Ich schicke dir gleich eine Datei per E-Mail. Diese musst du jedoch an seinem Computer öffnen. Siehst du in seinem Zimmer einen?«
Ich sah mich vom Bett aus in seinem Zimmer um. Mein Blick fiel auf den Schreibtisch.
»Ja, hier steht ein Laptop. Aber der wird sicher passwortgeschützt sein. Und wie soll eine E-Mail auf meinem Account dir helfen, das Haus und damit meinen Aufenthaltsort zu finden?«, fragte ich meinen Bruder irritiert, denn ich verstand es wirklich nicht.
»Ganz einfach, du musst die Mail nur von seinem Laptop öffnen. Dort ist eine Datei draufgespielt, die einen Virus enthält. Wenn du sie öffnest, werden sämtliche Firewalls gesprengt. Egal, wie gut Liam sein Meisterwerk auch von außen gesichert hat, von innen kann ich es zerstören und er wird es, wenn ich vorsichtig bin, nicht einmal bemerken. Durch meinen Virus habe ich Zugriff auf seinen Computer und kann ein Signal an mich senden. Und dieses Mal wird es das Richtige sein.«
»Hast du dir das ausgedacht? Ich wusste gar nicht, dass du sowas kannst?« Ich war fassungslos und erstaunt zugleich. Mein Bruder hatte wohl viele Geheimnisse vor mir, uns – seiner Familie – versteckt.
»Kat, konzentrier dich! Ich werde dir jetzt erklären, wie du sein Passwort umgehst. Hör mir genau zu.«
»Aber Jason, das kann ich unmöglich jetzt machen. Er kommt bestimmt bald zurück«, beschwor ich ihn.
»Okay, dann merk es dir gut. Was hat er für einen Laptop?«
Ich sah noch einmal kurz zu seinem Schreibtisch hinüber.
»Einen Mac.«
»Natürlich, was sonst. Okay, hör genau zu, es ist nicht sonderlich schwer.«
Ich tat wie befohlen, versuchte, mir jeden seiner Schritte einzuprägen.
»Hast du alles verstanden, Kat?«
»Ja, aber ich weiß nicht, wann ich wieder die Gelegenheit bekommen werde, so lange allein zu sein.«
»Das macht nichts. Ich werde es wissen, solltest du die Mail öffnen. Kat, pass auf dich auf und verlier nicht deinen Stolz! Dieser Schweinehund ist gerissen. Wenn dich dieser Bastard Aleks schon einlullen konnte, wird es bei ihm nicht besser. Vergiss nicht, sie sind der Feind! Versuche, so bald du wieder kannst, mit mir Kontakt aufzunehmen, ja?«
»Versprochen. Aber Jason, bitte tu wenigstens so, als würdest du mitspielen. Ruf Enzo an. Das wird seine Laune verbessern. Sie ist nämlich dank dir an einem neuen Tiefpunkt. Ach, und Jason? Wie genau willst du mich hier rausholen? Sollte dein brillanter Plan funktionieren, wie geht es dann weiter?«
Jason lachte einmal kalt auf. Er hörte sich überhaupt nicht mehr wie mein Bruder an. Doch er kam nicht mehr dazu, zu antworten, denn ich hörte plötzlich Gespräche im Gang.
»Jason, ich muss auflegen!« Mit diesen Worten drückte ich meinen Bruder weg und verwischte schnell meine Spuren am Handy, indem ich die Nachricht und den Anruf von meinem Bruder löschte.
Der Schlüssel wurde umgedreht. Ich schmiss mich in die Laken und steckte das auf lautlos gestellte Handy zwischen Matratze und Bettgestell und hoffte, dass er es dort nicht finden würde.
Ich hatte mich mit dem Rücken zur Tür gelegt. Mein Herz raste, mein Puls war bestimmt bei zweihundert. Fest presste ich die Augen zusammen, als ich seine Schritte hörte. Kurze Zeit später drang jedoch Wasserrauschen aus der Dusche an mein Ohr und ich atmete erleichtert aus. Ich versuchte, mich zu beruhigen, doch als die Tür wieder aufging, machte mein Herz erneut einen kräftigen Satz.
Enzo durchquerte das Zimmer. Er musste an dem Bett vorbeigehen, um in sein Ankleidezimmer zu gelangen. Ich behielt die Augen geschlossen und versuchte, ruhig zu atmen, was in Anbetracht der Situation nicht gerade einfach war.
Enzo sollte glauben, dass ich bereits schlief, so musste ich nicht wieder mit ihm diskutieren.
Ich spürte sein Gewicht auf der Matratze. Sie gab leicht nach, während er unter unsere gemeinsame Decke schlüpfte. Dass wir uns eine Decke teilen mussten, machte die Sache nicht gerade leichter. Ich konnte die Wärme, die von seinem perfekten Körper ausging, fühlen, so nah war er mir.
Verdammt!
Unbewusst hielt ich den Atem an, lag ich schließlich gerade mit dem Hunter von New York zusammen in SEINEM Bett.
Verrückt!
Ich versuchte, meine Atmung zu kontrollieren, und stellte mich weiterhin schlafen, denn wirklich schlafen konnte ich nicht. Ich war viel zu aufgekratzt von diesem Tag.
Enzo rührte sich keinen Millimeter. Seine Atmung war flach und ruhig.
Ob er wirklich schläft?
Meine Gedanken kamen einfach nicht zur Ruhe. Sie rasten nur so durch meinen Kopf. Sein betörender Geruch hing überall in der Luft, aber vor allem hier im Bett war er am präsentesten. Am liebsten würde ich einmal kräftig einatmen, um ihn richtig in mich aufzunehmen. Doch ich unterdrückte den Impuls.
Plötzlich hallten mir die Worte meines Bruders durch den Kopf.
Jason hatte recht, ich durfte meinen Stolz nicht verlieren. Ich musste standhaft bleiben. Durfte mich nicht wieder von ihnen einlullen lassen. Von keinem hier in diesem Haus.
Ich fand einfach keinen Schlaf. Egal, wie sehr ich es auch versuchte. Auch traute ich mich nicht, mich umzudrehen. Enzo hatte sich, seitdem er ins Bett gekommen war, nicht mehr bewegt. Seine Atmung war immer noch dieselbe.
Liegt er ebenfalls wach im Bett?
Dieser Gedanke ängstigte mich ebenso, wie er mich erregte. Ich mahnte mich sofort im Stillen selbst. Ich musste meinem Körper untersagen, so auf ihn zu reagieren.
Irgendwann kam die Müdigkeit doch. Legte sich über mich wie eine schützende, schwere Decke. Drückte mich nieder und begleitete mich in das Land der Träume.
Ich wusste nicht, ob es nur ein Traum war. Doch als ich am Morgen erwachte, hätte ich schwören können, in der Nacht einen Arm um meine Taille gespürt zu haben. Noch immer lag ich auf der Seite, mit dem Rücken zu ihm. Ich drehte mich leicht um und linste über die Schulter.
Enzo lag auf dem Rücken, sein Gesicht von mir abgewandt. Seine Brust hob und senkte sich entspannt. Er schien noch zu schlafen.
Ich drehte mich vorsichtig auf die andere Seite, um ihn besser zu betrachten. Ich wusste, ich sollte es nicht tun, doch seine nackte Haut lockte mich schon beinah. Und da die Decke knapp über seiner Scham endete, konnte ich seinen muskelbepackten Oberkörper genaustens beäugen. Er war wirklich gut trainiert. Geradezu die Perfektion eines männlichen Körpers. Warum musste er auch so gut aussehen? Konnte er äußerlich nicht dem Monster in seinem Innern gleichen? Das würde alles viel leichter machen.
Meine Augen wanderten regelrecht gierig über seine Haut. Diese starken Arme, mit dem zu ihm perfekt passenden düsteren Tattoo. Aleks hatte erwähnt, dies sei sein Zeichen und dass sie es alle trugen, weil sie hinter ihm standen und Enzo gegenüber bedingungslos loyal waren.
Mein Blick wanderte weiter über die vielen Muskeln und ausgeprägten Sehnen, die sich über seine Arme spannten. Sie machten mich noch ganz verrückt.
Bei seinem Tattoo oberhalb seiner linken Brust blieb ich besonders lange hängen. Da es sich auf meiner Seite befand, konnte ich es gut betrachten. Doch mir fiel sofort etwas daran auf. Unter ihm versteckte sich eine große Narbe oberhalb des Herzens. Das Tattoo kaschierte sie gut, dennoch schien es so, als wollte er, dass sie auffiel.
Es war ein wahnsinnig gut detailliert gezeichnetes Tattoo. Ich war von dem Kunstwerk beeindruckt, auch wenn es für meine Verhältnisse zu düster war. Doch zu ihm passte es perfekt.
Die Tätowierung zeigte ein von Stacheldraht zermatschtes Herz. Man konnte es kaum noch als dieses erkennen. Einziger Hinweis waren die markanten Venen und typischen Muskeln eines Herzens. Alles war in Schwarz getaucht. Selbst das Blut, die schwarzen Tropfen, liefen an dem Herz und dem Draht herunter. Es sah so aus, als würde der Stacheldraht wirklich in seiner Haut stecken, um das Herz an Ort und Stelle zu halten.
Ich konnte die Augen nicht von diesem Bild nehmen. Schon immer hatte ich ein Faible für Tattoos gehabt, hatte selbst schon einige für ein Tattoostudio gezeichnet und an dieses verkauft. Mir gefiel der Gedanke, dass es Menschen da draußen gab, die meine Kunst auf der Haut trugen.
Meine Augen gingen weiter auf Wanderschaft. Seine breite Brust war schon sehr imposant, doch sie war nichts im Vergleich zu seinen Bauchmuskeln. Jeder Muskel wölbte sich in einer Perfektion nach außen, dass es schon fast unwirklich erschien. Ich kämpfte gegen den Drang an, über sie zu fahren. Wie gern würde ich ihn jetzt berühren.
Erneut mahnte ich mich im Stummen über meine Schwäche. Doch wer könnte es mir bei diesem Gott neben mir auch verdenken?!
Die vielen zum Teil doch recht großen Narben entgingen mir nicht. Und doch erlitt sein Aussehen dadurch keinen Abbruch.
Enzo besaß tatsächlich noch mehr Narben als Aleks. Was war diesen beiden Männern nur zugestoßen? Stammten sie alle von ihrem Job?
Mein Blick wanderte weiter über seinen Körper, knapp vor seiner Scham angekommen sah ich allerdings schnell wieder hoch. Denn durch das dünne Laken konnte ich seine imposante Länge erahnen.
Wahnsinn!
Konnte aber auch gar nichts an ihm abstoßend sein?! Musste er wahrlich einem Gott gleichen?! Ich fluchte ausgiebig in meinem Kopf.
»Du tust es ja schon wieder«, merkte er mit rauer Stimme an. Ich zuckte heftig zusammen. Er war wach.
Seine Stimme ging mir sofort durch Mark und Bein. Dieser kehlige, verschlafene Klang.
Ich sah zu ihm auf. Er hatte das Gesicht noch immer von mir abgewandt.
Wie macht er das immer?
»Was meinst du?«, stellte ich mich dumm. Vielleicht hatte er es ja doch nicht bemerkt. Enzo begann, breit zu lächeln.
Okay, er hat es bemerkt. Super!
»Mich anstarren als wäre ich ein Alien.«
Ich schnaubte belustigt.
»Du bist ja auch ein Alien.«
Er drehte den Kopf in meine Richtung. Mir stockte der Atem, als mich sein Blick traf. Seine Augen strahlten mich in dem hellsten Eisblau an, was ich je bei ihm gesehen hatte. Jedoch nicht bedrohlich oder ernst. Einfach endlos schön wie das Eis. Dazu noch sein zerzaustes schwarzes Haar, dass ihm niedlich wirr in die Stirn hing.
Verflucht nochmal!
Seine Mundwinkel zuckten wieder verdächtig. Wir sahen uns einen langen Moment an.
Langsam wurde es mir unangenehm, daher räusperte ich mich.
»Ich würde gerne duschen gehen.«
Nun grinste er mich tatsächlich breit an, ja regelrecht frech.
»Soll das ein Angebot sein?«
Verächtlich schnaubte ich auf.
»Nein! Ich wollte dich fragen, ob das mit den Verbänden geht?«
Sein Grinsen verschwand leider nicht, was mir leichtes Unbehagen bescherte.
»Klar. Nimm sie einfach ab. Sieh nur zu, dass nicht zu viel Seife oder Sonstiges an die Nähte kommt. Ich kann jedoch gerne mitkommen und darauf achten, wenn du möchtest?« Sein Lächeln wurde sogar noch etwas anzüglicher. Ich rutschte ein Stück von ihm weg und schüttelte den Kopf.
»Nein danke!«, gab ich schnippisch zurück, dann stand ich auf. Mein Fuß schmerzte, als ich versuchte, aufzutreten. Ich entlastete ihn, so gut es ging, und bemühte mich, so galant wie irgend möglich ins Badezimmer zu kommen. Sein lauernder Blick war mir durchaus bewusst, daher drehte ich mich noch einmal an der Badezimmertür angekommen zu ihm um. Er hatte einen Arm unter seinen Kopf gelegt, sich eine Zigarette angezündet und mir wie erwartet hinterhergestarrt.
»Könnte ich bitte etwas Vernünftiges zum Anziehen bekommen?«
»Was passt dir nicht an dem, was du anhast?«, fragte er mich belustigt.
Ich seufzte laut.
»Weil es deine Klamotten sind.«
Enzo zog die Stirn kraus.
»Und die davor waren von meiner Schwester. Aber du kannst natürlich gern mein Geschenk von gestern anziehen. Deine Entscheidung.« Unbekümmert rauchte er weiter.
»Wie großzügig von dir. Du lässt mir die Wahl zwischen deinen Klamotten oder einem Hauch von Nichts. Danke, da nehme ich dann doch deine. Bekomm ich da denn auch frische? Oder muss ich jetzt die nächsten Tage in diesen rumlaufen?«, fragte ich ihn bissig. Er brachte mich dermaßen auf die Palme.
»Ich überlege es mir in der Zeit, in der du duschen gehst.«
Argh!
Wütend stapfte ich ins Badezimmer und verfluchte mich sogleich hinter geschlossener Tür dafür, denn mein Fuß schmerzte deswegen höllisch.
Ich löste meine Verbände und vermied es, meine Wunden genau anzusehen, zog mich aus und stellte mich unter die luxuriöse Regenwalddusche. Wie das angenehm heiße Nass auf mich niederprasselte, genoss ich in vollen Zügen. Ich ließ mir viel Zeit dabei. Zu meiner Überraschung stand in der Kabine auch Frauenduschgel. Ach was, das wunderte mich eigentlich nicht. War doch klar, dass der Hunter viel Frauenbesuch bekam.
Nachdem ich das Wasser ausgestellt und aus der Dusche gestiegen war, schlang ich mich in ein flauschiges, großes Handtuch. Dann durchstöberte ich seine Badezimmerschränke und auch hier fand ich, was ich gesucht hatte. Eine verpackte Zahnbürste. Ich öffnete sie ganz frech und putzte mir damit meine Zähne. Einen Kamm sowie Frauenparfüm fand ich auch. Ich wollte gar nicht wissen, welche Schlampe sie hier vergessen hatte.
Meine Lockenpracht endlich wieder nach Tagen gebändigt und zwei kleine Spritzer Parfüm aufgelegt, fühlte ich mich wahrlich wie neu geboren. Doch sofort überkam mich das Unbehagen, als ich fertig war und ich zu ihm ins Zimmer musste. Wie in die Höhle des Löwen.
Zaghaft öffnete ich die Tür und linste hinaus. Enzo lag nicht mehr in seinem Bett. Er saß angezogen an seinem Schreibtisch und schrieb etwas auf seinem Laptop.
Er bemerkte mich erst, als ich ins Zimmer trat, sah flüchtig über seinen Laptop, nur um in der nächsten Sekunde doch wieder aufzusehen und mich mit einem Blick zu mustern, den ich nicht deuten konnte.
Was starrt er mich so an?!
Schnell legte er wieder seine zynische Maske auf und nickte in Richtung Bett, dann konzentrierte er sich wieder auf seinen Laptop. Ich humpelte so galant wie möglich zum Bett. Dort lag wieder ein schwarzes Shirt und eine Shorts von ihm. Unter dem Handtuch schlüpfte ich in die Shorts. Über es zog ich das Shirt. Erst dann ließ ich das Handtuch fallen und drehte mich zu ihm um. Es war gar nicht so leicht, alles mit einer Hand zu machen. Meine linke konnte ich noch nicht wirklich benutzen und die Nähte ziepten schrecklich.
Auf dem Weg zum Bad, den ich humpelnd auf mich nahm, bemerkte ich erst, wie dämlich ich gewesen war. Verdammt. Warum hatte ich mich nicht gleich dort umgezogen?
Als ich das Handtuch aufgehängt hatte, stand Enzo auch schon im Türrahmen und beobachtete mich belustigt, ehe er zum Wannenrand nickte.
»Na komm, ich leg dir deine Verbände wieder an.«
Ich beäugte ihn noch einmal skeptisch, dann folgte ich doch seinem Befehl.
Der Verbandskasten lag noch immer vor der Wanne am Boden. Ich setzte mich wieder auf den Rand.
Enzo kniete sich wie gestern vor mir auf den Boden und verband erst meinen Fuß, dann meine linke Hand. Vorher hatte er sich noch einmal die Wunden angesehen und zufrieden genickt. Die schrecklich stinkende Salbe hatte er ebenfalls wieder aufgetragen. Erst als er von mir abrückte, atmete ich unmerklich erleichtert auf.
Während er sich die Hände wusch, blieb ich sitzen. Er drehte sich wieder zu mir herum und musterte mich mit ausdrucksloser Miene.
»Komm«, sagte er dann und verließ den Raum.
Ich stutzte kurz, dann folgte ich ihm.
»Was machen wir jetzt?«, fragte ich in seinen breiten Rücken. Enzo hatte sich sein Handy und Zigaretten vom Schreibtisch geholt und kam wieder auf mich zu.
»Na, frühstücken, Prinzessin. Oder dachtest du, dich erwartet ein Frühstück im Bett?«, fragte er spöttisch. Ich verdrehte nur die Augen. Er schloss seine Zimmertür auf.
Enzo machte eine einladende Handbewegung nach draußen, wollte, dass ich vorging. Ich sah noch einmal an mir herunter, dann wieder mit strengem Blick zu ihm. Er wollte doch nicht wirklich, dass ich mich so zu seinen Männern an den Tisch setzte. Halbnackt und barfuß?
Doch sein Kopfnicken nach draußen bestätigte mir, dass er genau das von mir verlangte. Ich fügte mich laut seufzend meinem Schicksal und wollte nicht gleich schon am Morgen mit ihm streiten.
Humpelnd ging ich voraus. Ich konnte seinen heißen Atem in meinen Haaren spüren. Auf der Hälfte der Treppe angekommen hörte ich Stimmengewirr. Es kam aus der Küche. Ich stoppte mitten auf der Treppe. Enzo schob mich mit leichten Druck an meinem Rücken weiter.
Als wir in die Küche traten, verstummten alle Gespräche. Ich fühlte mich sofort unwohl und würde nun gerne wieder in meine private kleine, jedoch sichere Zelle zurück. Nichts wäre mir gerade lieber.
Erneut schob Enzo mich weiter voran, bis zu den Plätzen, auf denen wir schon an meinem ersten Tag hier gesessen hatten.
Enzo verschwand in einem Nebenraum.
Ich ließ mich eingeschüchtert auf meinen Stuhl fallen und sah verstohlen in die Runde. Vier Männer und eine Frau befanden sich am Tisch. Letztere musste Liams und Enzos Schwester sein. Sie war wirklich eine Schönheit. Sie hatte die gleichen schwarzen Haare und Augen wie Enzo, dazu trug sie ein atemberaubendes, enganliegendes Kleid von Gucci. Geschmack hatte sie, doch das wusste ich ja bereits.
Kurz sah ich verstohlen zu Liam. Dieser mied jedoch meinen Blick. Dann sah ich weiter zu Aleks. Er schüttelte fast mahnend den Kopf. Keine Spur mehr von dem zärtlichen Mann, der noch vor kurzem in meinem Bett gelegen hatte. Diese Erkenntnis schmerzte mich leider mehr, als ich dachte. Er hatte mich tatsächlich nur benutzt.
Schnell blickte ich in meinen Schoß und begann, nervös meine Finger zu kneten.
Enzo kam wieder aus der Küche und stellte ein Tablett vor mir ab. Aus dem Augenwinkel musterte ich ihn. Er setzte sich neben mich und bediente sich an dem Tablett.
»Iss«, brummte er von der Seite. Ich hielt noch kurz inne, dann nahm ich mir ein Croissant und goss mir einen Kaffee ein. Mit viel Milch und noch mehr Zucker. Anders konnte man einen Kaffee gar nicht genießen.
»Seit wann essen Gefangene mit uns am Tisch?«, giftete seine Schwester in unsere Richtung und fixierte mich mit hasserfülltem Blick.
Ob sie weiß, was gestern im Badezimmer unten abgegangen ist?
»Seitdem ich das sage«, konterte Enzo gelangweilt.
»Also bringst du sie uns wieder nicht zum Spielen mit, Chef? Ich kann ihre steifen Nippel sehen. Das ist wahrlich eine Schande!«, motzte der unheimliche Hüne vom anderen Ende des Tisches.
Unwillkürlich rutschte ich auf meinem Stuhl zurück und legte schützend meine Hände über meine Brüste.
Enzo hob langsam den Kopf und fixierte ihn mit strengem Blick. Eine bedrückende Stille breitete sich am Tisch aus.
Ich schluckte schwer. Das alles war mir mehr als unangenehm.
Erst als der Hüne seinen Blick senkte, entspannte sich auch Enzos Gesichtsausdruck wieder etwas.
»Enzo, was soll der Scheiß hier? Sie ist die Schwester eines Verräters! Jason hat uns schon wieder verarscht und du lässt die kleine Schlampe hier einfach bei uns am Tisch sitzen und bei dir im Bett schlafen, oder was? Wir sollten sie eigentlich foltern, bis sie darüber zwitschert, was sie über die Machenschaften ihres Bruders weiß! Am besten jetzt gleich!« Seine Schwester lächelte boshaft.
Enzo ließ sein Messer mit einem lauten Scheppern auf den Teller vor ihm fallen. Er musterte seine Schwester mit einem solch strengen Blick, dass mir allein nur beim Hinsehen die Adern gefroren.
»Sophia, falls du es wieder vergessen haben solltest: Ich bestimme, wie das hier läuft. Wir bekommen doch nicht wieder ein Problem miteinander, oder Schwesterchen?« Spöttisch grinste er sie an.
»Dann triff die richtigen Entscheidungen, Enzo, sonst tu ich es!«
»Droh mir noch einmal, Sophia, und ich vergesse mich!«, knurrte er nun. Ich verspannte mich sofort. Ich wollte hier nur noch weg.
Alle anderen am Tisch schienen es ähnlich wie ich zu sehen, denn keiner sagte auch nur ein Wort. Alle warteten stumm, was nun als Nächstes passieren würde.
Doch plötzlich geschah etwas. Viel zu schnell, als dass mein ungeschultes Auge es auch nur hätte erahnen können.
Sophia sprang auf, zog etwas unter ihrem Kleid an ihrem Bein hervor und schleuderte es in meine Richtung. Ich schrie spitz auf, als Enzo ebenso schnell seinen Arm schützend vor mich hielt. Dann ließ er zischend die Luft aus.
Ich hatte die Lider aufeinandergepresst. Als ich sie wieder öffnete, zog sich Enzo gerade ein Messer aus seinem Arm. Er ließ es scheppernd zu Boden fallen. Sein Blick war der reinste Zorn. So hatte ich ihn noch nie gesehen.
Mein Atem ging hektisch, ich konnte gar nicht begreifen, was hier gerade passiert war.
»RAUS! LASST UNS ALLEIN! Aleks, bring sie hoch!«, bellte Enzo den Befehl. Ich zuckte unwillkürlich bei seiner scharfen Stimme zusammen.
Enzo band sich gerade notdürftig seinen Arm mit einer Stoffserviette ab. Weiterhin starrte er seine Schwester bedrohlich an. Die beiden lieferten sich ein heftiges Blickduell.
Ich zuckte heftig zusammen, als sich plötzlich von hinten eine Hand auf meine Schulter legte. Ich sah über meine Schulter in Aleks Gesicht. Er nickte Richtung Türbogen. Mein Blick glitt noch einmal fragend zu Enzo.
»Geh!«, knurrte dieser nur leise.
Alle anderen hatten sich schon erhoben und verließen den Raum. Ich tat es ihnen gleich und folgte Aleks nach draußen und weiter nach oben, wieder zurück in Enzos Zimmer.
Ich war ihm einfach stumm gefolgt, unfähig, etwas anderes zu tun. Meine Gedanken schwirrten noch immer und wollten sich einfach nicht klären.
Was war das da gerade? Hatte sie tatsächlich vor, mich umzubringen?
Und wie konnten sie alle so blitzschnell reagieren? Ich hatte noch nicht einmal gesehen, was passiert war.
Aleks ließ mich in Enzos Schlafzimmer vorgehen. Verwirrt ließ ich mich auf die Couch fallen, während sich Aleks mir schräg gegenüber an Enzos Schreibtisch lehnte und mich ernst musterte. Es war komisch, nun mit ihm allein zu sein, nach allem, was passiert war.
»Dir geht es wohl schon wieder besser. Ich habe mir Sorgen um dich gemacht. Ich bin froh, dass meine Nachricht Enzo noch rechtzeitig erreicht hat.«
Aleks sah mich erstaunt an, ließ sogar seine Arme aus der Verschränkung vor seiner Brust sinken.
»Wie meinst du das?« Seine Stimme war streng.
»So, wie ich es gesagt habe. Ich habe mir wirklich Sorgen um dich gemacht.«
»Nicht das! Das mit der Nachricht!«, brummte Aleks ungeduldig.
Abermals zog ich die Stirn kraus.
»Ich habe Enzo eine Nachricht zukommen lassen, sodass er dich findet. Hat er dir das nicht erzählt?« Er verschränkte wieder abweisend seine Arme vor der Brust. Sein Blick war nachdenklich zu Boden gerichtet.
»Was war das mit Liam?«, fragte mich Aleks dann unerwartet. Mein Kopf rückte schnell in seine Richtung. Ich konnte seinen Blick jedoch nicht deuten.
»Nichts«, nuschelte ich nur beschämt und wandte meinen Blick von ihm ab.
»Kätzchen, komm schon.«
Bei seinem Spitznamen für mich bekam ich sofort Gänsehaut. Wie oft hatte er ihn mir erregt in mein Ohr geflüstert, als wir uns geliebt hatten.
»Ein Moment der Schwäche, nichts weiter. Er war nett zu mir. Ich brauchte das nach all den Erniedrigungen von Enzo und euren Lügen!«
Aleks biss den Kiefer aufeinander, dann nickte er knapp.
»Verstehe!«, antwortete er missmutig.
Ist ER jetzt wirklich sauer auf MICH?! Sein Ernst?
»Und was war das mit uns?«
Nun war es Aleks' Kopf, der hochschnellte. Wenn er unfair spielte, konnte ich das auch.
»Das darfst du mich nicht fragen!«, entgegnete er streng.
»Warum nicht?« Ich setzte mich etwas auf und beobachtete seine Regungen.
Aleks biss sich erneut auf den Kiefer und blickte zur Seite.
»Weil ich dir diese Frage nicht beantworten kann, ohne wieder gegen seinen Befehl zu verstoßen, deshalb!«
Ich stutzte.
»Und welcher Befehl soll das bitte sein?«
Aleks gab ein beinah knurrendes Geräusch von sich, doch das beeindruckte mich nicht.
Er war mir diese Antwort schuldig und er wusste das.
»Kätzchen, was willst du von mir hören? Unsere Zeit war schön, aber jetzt ist sie eben vorbei. Ich werde dich nicht wieder anrühren. Ende der Lovestory!«
Ich versuchte, den schmerzenden Stich, den seine Worte ausgelöst hatten, zu ignorieren. Stattdessen verschränkte ich die Arme vor der Brust und funkelte ihn herausfordernd an.
»Das ist sein Befehl? Du darfst mich nicht mehr anrühren? Warum? Weil er meint, mich zu besitzen? Das tut er nicht! Ich entscheide, wem ich nahekomme und wem nicht! Und ganz sicher nicht Enzo!«
Aleks schüttelte tadelnd den Kopf, ein kleines Lächeln umspielte dabei seine Lippen.
»Er besitzt dich doch schon längst. Du willst es nur noch nicht wahrhaben. Ebenso wenig wie er. Ihr tut euch nicht gut. Seid regelrecht toxisch für den anderen. Und doch kommt ihr nicht voneinander los. Frag dich mal, warum das so ist, Kätzchen?!«
Mein Mund öffnete sich fassungslos.
So ein Bullshit!
Ich konnte auf diesen Schwachsinn nur mit einem spöttischen Schnauben antworten. Aleks begann erneut, leise zu lachen.
Idiot!
Eine beklemmende Stille legte sich über uns. Ich schluckte schwer.
»Du wusstest, dass mein Bruder auf uns wartet, oder? Als wir im Aufzug waren. Warum dann der Sex? Was sollte das?« Ich sah ihn nicht an. Erst, als Aleks vor mir in die Hocke ging und sich damit in mein Blickfeld drängte.
»Das war mein Abschied. Ich wusste, dass es jetzt vorbei sein würde. Doch ich konnte dich nicht gehen lassen. Noch nicht. Nicht, ohne dich noch einmal berührt zu haben. Es war egoistisch von mir, doch so sind wir nun mal, Kätzchen. Wir sind Männer, die sich nehmen, was sie wollen, ohne zu fragen oder zu verhandeln.«
Wieder stahl sich dieses spitzbübische Lächeln auf Aleks' Lippen.
»Wir? Du entschuldigst dich ernsthaft auch für ihn?«, fragte ich schnippisch.
Aleks wurde wieder ernst.
»Ja! Ich werde immer hinter ihm stehen und werde ihn sicher nie mehr hintergehen! Das mit euch bringt Probleme mit sich, Kätzchen. Du hast den falschen Männern den Kopf verdreht. Jetzt musst du auch mit den Konsequenzen leben.«
»Die da wären?«
»Dass er dich gefangen hat, Prinzessin. Er ist und bleibt ein Hunter und egal, wie oft du vor ihm fliehst, er wird dich nicht wieder gehen lassen. Das ist deine Konsequenz. Lern, mit ihr zu leben, denn ich denke, eine andere Möglichkeit gibt es nicht.« Aleks erhob sich wieder und lehnte sich erneut an den Schreibtisch an.
»Du irrst dich. Ich werde einen Weg finden, vor ihm zu fliehen, und mein Bruder wird einen Weg finden, ihn aufzuhalten.«
Aleks musterte mich streng.
»Ist es das, was du willst? Dich in einen sinnlosen Krieg einzumischen, um die kleine Schlampe deines Bruders zu sein? Einen Mann, den du gar nicht kennst? Der dich dein halbes Leben belogen hat? Ja?«
Ich wusste nicht mehr, was ich auf Aleks letzte Worte erwidern sollte. Steckte doch ein Funken Wahrheit in ihnen.
Aleks nickte einmal anerkennend, dann stieß er sich ab und ging.
»Danke«, rief ich ihm nach.
Aleks drehte sich bei der Tür angekommen noch einmal zu mir um.
»Wofür?«, fragte er ehrlich erstaunt.
»Dafür, dass du die Kugel für mich abgefangen hast. Du hättest das nicht tun müssen.«
»Doch, Kätzchen, ich musste. Das weißt du!« Er zwinkerte mir noch einmal typisch frech zu, dann verließ er das Zimmer.
Toll!
Ich war keinen Deut schlauer als zuvor.
Seine Worte schwirrten mir durch den Kopf. Was für ein Bullshit Aleks sich dort zusammengereimt hatte. Der Hunter und ich?
Ja, klar!
Enzo hatte doch gar kein wirkliches Interesse an mir. Ich war nur ein Mittel zum Zweck, nichts weiter. Er brauchte mich, um an meinen Bruder ranzukommen und ihn für sich zu benutzen. Mehr nicht!
Warum dachte ich überhaupt darüber nach? Er war und blieb der Feind! Ich würde meinem Bruder dabei helfen, Enzo aufzuhalten. Wenn ich mich zwischen Jason oder Enzo entscheiden musste, fiel mir die Wahl nicht schwer. Ich würde alles für meinen Bruder tun. Auch wenn er mich belogen hatte. Er war dennoch das Wichtigste in meinem Leben.
Ich schielte zum Schreibtisch. Ob ich es nun wagen sollte?
Nein! Da die Tür nicht verschlossen worden war, war ich mir sicher, dass Aleks vor ihr stand und mich bewachte. Er könnte jederzeit reinkommen. Es war zu gefährlich und es stand einfach zu viel auf dem Spiel. Dann musste ich mich wohl oder übel noch in Geduld üben.
Stattdessen sah ich mich aufmerksam in Enzos Schlafzimmer um.
Zu meiner Überraschung war es wirklich geschmackvoll eingerichtet. Es war wie das, was ich von dem Haus bis jetzt gesehen hatte, ebenso im Kolonialstil möbliert.
Es stand nicht viel in dem großen Zimmer, dennoch passte es zu Enzo. Ich blieb weiter auf der Couch sitzen, wollte nicht zurück in sein Bett. Wieder überkam mich die ewige Langeweile. Hier war es nicht viel besser als in der Zelle. Ich konnte hier ebenso wenig tun wie dort unten.
Die Neugierde packte mich. Er hatte mir untersagt, mich genauer umzusehen, doch oberflächlich würde er es wohl nicht bemerken.
Ich stand auf und humpelte durch sein Zimmer. Davon, dass hier der tödlichste und gefährlichste Mann ganz New Yorks wohnen sollte, merkte man nichts. Das konnte doch nicht sein.
Ich ging zu seinem Nachtisch und öffnete die Schublade und tatsächlich, wie ich es mir gedacht hatte, lag ganz oben eine Pistole. Mit großen Augen starrte ich auf die Waffe. Ich hasste alle Art von Waffen. Und jetzt sollte ich auch noch die nächste Zeit direkt neben einer schlafen? Warum ließ er sie auch so offensichtlich liegen? Ich könnte sie nehmen und ihn damit erschießen.
Theoretisch wusste ich, wie eine Waffe funktionierte. Mein Bruder sowie Onkel waren leidenschaftliche Waffensammler.
Gedankenverloren nahm ich sie in die Hand. Sie war nicht einmal gesichert. ›Allzeit bereit‹, lautete das Motto der Männer, das wusste ich ja schon von Aleks.
Sorgsam legte ich die Waffe wieder an ihren Platz zurück und schloss die Schublade. Ich wusste noch nicht so ganz, was ich davon halten sollte, einer Waffe so nah zu sein.
Ich seufzte, starrte zur Decke. Hier drin war mir so sterbenslangweilig. Nicht einmal Sport konnte ich machen. Schon komisch. Ich hatte Sport immer gehasst. Kaum hatte ich keine andere Beschäftigung, konnte ich ohne fast nicht mehr leben.
Das Zeichnen fehlte mir sehr. Wie gern würde ich meine wirren Gedanken nun auf Papier bringen. Doch ich traute mich nicht, zum Schreibtisch zu gehen und nach einem Stift und Papier zu suchen. Bei meinem Glück würde er genau in diesem Moment reinkommen und denken, ich hätte geschnüffelt. Daher ließ ich es lieber bleiben.
Nach einer gefühlten Ewigkeit hielt ich die Langeweile nicht mehr aus, also legte ich mich auf den Rücken am Boden vor dem Bett und begann mit meinen Bauchübungen. Hierbei belastete ich weder meine verletzte Hand noch meinen Fuß. Meine Beine winkelte ich an und führte schöne und saubere Sit-ups aus.
Ich wusste nicht, wie viele ich machte. Der Schweiß lief mir bereits nur so.
Immer wenn ich eine Pause einlegte, begannen meine Gedanken zu fliegen. Aber genau das wollte ich verhindern. Also ließ ich mich wieder dankbar in diese wundervolle Ablenkung fallen und brachte meinen Körper bis zum Äußersten. So, wie ich es lange nicht getan hatte. Ich brauchte diese Art der kleinen selbstauferlegten Folter jetzt. Genau das war gerade die richtige Therapie für mich.
Süßer und willkommener Schmerz.