Ein paar wenige Stunden später erwachte ich mit einem monströsen Kater. Da ich hier kein eigenes Badezimmer hatte, musste ich wohl oder übel in mein Zimmer zurückgehen, denn ich brauchte dringend eine Dusche. Sonst könnte man mit mir heute nichts mehr anfangen und ich hatte schließlich noch einiges zu erledigen.
Auf leisen Sohlen schlich ich in mein Zimmer, um sie nicht aufzuwecken. Zu meiner Überraschung war mein Bett allerdings unberührt. Das Kätzchen hatte weder darin noch auf meiner Couch geschlafen. Sie war nicht im Raum.
Ich ging dennoch erst einmal heiß duschen, um mich wieder wie ein Mensch fühlen zu können. Ich hatte gestern eindeutig zu viel getrunken.
Nachdem ich mich geduscht und angezogen hatte, machte ich mich auf den Weg zu Enzos Zimmer.
Im Türrahmen stehend staunte ich nicht schlecht.
Es war alles wieder beim Alten. Selbst die Wand war vom Blut befreit worden. Der Schreibtisch stand ebenfalls wieder an Ort und Stelle.
Das konnte unmöglich das kleine Kätzchen gewesen sein.
Wo zum Teufel ist sie?!
Langsam wurde ich nervös.
Ich hatte sie doch gestern nicht mit meiner dummen Aktion verjagt?
Das wär’s ja jetzt noch.
Ich suchte alle leeren Schlaf- und Gästezimmer ab. Nichts. Keine Spur.
Ein ungutes Gefühl beschlich mich. Mit zunehmend schlechter Laune ging ich runter in Richtung Küche. Kaffee sowie Essensgeruch stiegen mir bereits im Flur in die Nase.
Schnell betrat ich die Küche und fand dort tatsächlich die Prinzessin vor, die mit einer Tasse in der Hand am Tisch saß und ein Shirt und Shorts von Enzo trug. Der Tisch war reich gedeckt.
Verblüfft zog ich eine Braue hoch.
»Was machst du denn hier und wo zum Teufel warst du die Nacht über?«
Sie sah zu mir auf. Erneut konnte ich ihren Blick nicht deuten.
»Ich habe hier unten auf der Couch im Wohnzimmer geschlafen. Aber nur für zwei Stunden. Sie ist wirklich unbequem.«
»Warum hast du denn hier unten geschlafen? Mein Zimmer war doch leer.«
»Und woher sollte ich das wissen? Nach deinem Abgang gestern dachte ich, du möchtest nicht, dass ich dir hinterherdackle. Und da ich nicht weiß, welches Zimmer den anderen Männern gehört und ich auch nicht in Enzos Zimmer schlafen konnte, blieb mir nur die Couch hier unten.«
Noch immer sah ich sie verständnislos an.
»Und sein Zimmer? Wer war das?«
»Na, ich. Es konnte ja schlecht so bleiben«, ermahnte sie mich und trank noch einen Schluck ihres Kaffees.
»Du hast den Schreibtisch allein hochgehoben?«, fragte ich sie beinah belustigt.
Sie schüttelte den Kopf.
»Nein, das war Mike. Er hat mitbekommen, dass ich allein dein Chaos aufräume, und wollte es mir untersagen. Hat sich nicht davon abbringen lassen, mir zu helfen, statt wie ihr anderen euren Rausch auszuschlafen.«
Sie wusste also, dass ich gestern betrunken war. Gut, das machte es leichter. Ich konzentrierte mich wieder auf sie.
»Dann wollte er noch unbedingt Frühstück für mich machen. Aber das ging dann doch zu weit. Ich habe ihm kurzerhand für heute freigegeben.«
Meine Kinnlade fiel runter.
»Du hast was getan?«
Sie zuckte mit den Achseln.
»Ich habe Mike freigegeben. Wusstest du, dass er noch nicht einen Tag freihatte, seitdem er für Enzo arbeitet?!«
Nachdenklich zog ich die Brauen zusammen.
»Ich habe mich ehrlich gesagt nie damit beschäftigt. Er ist nun mal unser Mädchen für alles.«
Einen Moment lang schwiegen wir uns an. Die Prinzessin trank unbekümmert ihren Kaffee weiter.
»Also hast du das alles hier gemacht? Das ganze Frühstück und mein Chaos oben in seinem Zimmer?«
Sie nickte.
»Das hättest du aber nicht tun müssen.«
»Ich weiß«, entgegnete sie nur knapp.
Ich ließ mich erstaunt und baff in den Stuhl ihr gegenüber fallen.
»Bedien‹ dich«, bot sie mir lächelnd an.
Ich griff jedoch nur nach einer Tasse und der Kaffeekanne. Mit dem Kater war mir gerade nicht nach essen zumute.
»Kätzchen, hör zu, wegen gestern … Also ich habe etwas zu viel getrunken und …« – doch sie unterbrach mein Gestotter sofort.
»Aleks, lass gut sein. Es ist okay.« Sie lächelte mir noch einmal aufmunternd zu, dann bediente sie sich selbst an dem reich gedeckten Tisch.
»Wie geht es deinen Händen?«, fragte sie mich wenig später.
Ich hatte mich mittlerweile doch an einem trockenen Bagel probiert.
»Es gab schon Schlimmeres. Es geht mir gut. Und dir? Soll ich dich doch nach Hause bringen?«
Die Prinzessin zog die Brauen zusammen.
»Möchtest du denn, dass ich gehe?«, fragte sie kleinlaut und sah auf den Teller vor sich. Am liebsten hätte ich sofort lautstark verneint, doch es war gestern schon wieder verdammt knapp gewesen und wenn sie mich nicht abgehalten hätte, wüsste ich nicht, wie die Sache ausgegangen wäre.
Ach Bullshit, ich wusste genau, wie es ausgegangen wäre. Gestern hätte ich beinah den größten und dümmsten Fehler meines Lebens begangen, hätte sie, betrunken wie ich nun mal war, im Badezimmer meines toten besten Freundes hart gegen die Wand gefickt.
Ja, ich war ziemlich sicher, genauso wäre es ausgegangen. In ihrer Nähe hatte ich mich einfach nicht im Griff. Noch immer übte sie eine dermaßen starke Anziehungskraft auf mich aus, dass ich mich nicht dagegen wehren konnte.
Doch das war falsch! Sowas von verdammt falsch! Daher musste sie gehen. Sie musste dieses Haus, Enzos Haus, verlassen.
Sie musste in ihr altes Leben zurückkehren und sollte so schnell es ging vergessen. So, wie Enzo es von ihr verlangt hatte.
Sie sollte einen ehrlichen und netten Mann finden, der sie glücklich machte und das war sicher keiner hier in diesem Haus.
Plötzlich legten sich zwei zierliche Arme von hinten um meinen Nacken. In Gedanken versunken hatte ich gar nicht mitbekommen, dass sie aufgestanden war.
Ich blickte ihr erstaunt über die Schulter entgegen. Sie führte ihre Hände auf meiner Brust zusammen und beugte sich noch etwas weiter zu mir herunter, sodass ihr ihre braunen Locken ungebändigt nach vorne fielen und meinen Hals kitzelten.
»Du möchtest, dass ich gehe. Ich verstehe das. Ich danke dir für alles, was du mir gegeben hast. Ich werde dich genauso wie ihn nie vergessen und immer lieben. Es tut mir schrecklich leid, Aleks«, raunte sie heiser in mein Ohr und hauchte mir einen kleinen Abschiedskuss auf die Wange. Sie wollte sich zurückziehen, wollte sich von mir entfernen und einfach gehen. Doch ich konnte sie nach diesen Worten nicht gehen lassen, noch nicht. Ich wollte mich richtig verabschieden, so wie es unsere zum Scheitern verurteilte Liebesgeschichte verdient hatte.
Ich hielt ihre Hände auf meiner Brust gefangen, hielt sie damit davon ab, sich von mir zu entfernen.
Über meine Schulter hinweg sah ich sie an. Die Prinzessin musterte mich stirnrunzelnd. Schien nicht zu verstehen, was ich nach ihren Abschiedsworten noch von ihr wollte. Mit meiner freien Hand klopfte ich auf meinen Schoß und lächelte sie schwach an, als sie entgeistert dreinblickte.
»Kätzchen, ich kann dich doch so nicht gehen lassen. Verlang das bitte nicht von mir. Gib mir einen ehrlichen Moment des Abschieds. Ohne schlechtes Gewissen oder Verpflichtung. Nur du und ich. Einen letzten Kuss. Bitte.«
Sie schien zu überlegen, abzuwägen, ob sie sich diesen Moment der Schwäche gönnen dürfte. Ob es ein Betrug an ihm wäre.
Ja wäre es, Prinzessin, doch ich brauche diesen Abschied jetzt.
Noch einmal wollte ich egoistisch sein.
Dann nickte sie schließlich. Augenblicklich gab ich sie frei, rutschte mit meinem Stuhl etwas zurück, sodass sie sich auf meinen Schoß setzen konnte.
Sie ging um mich herum und ließ sich zaghaft und leicht seitlich nieder. Rittlings hätte mir zwar besser gefallen, doch so war es ungefährlicher.
Ich grinste jungenhaft, zog sie näher an mich heran und legte bestimmend beide Hände auf sie, die eine an ihren Rücken, die andere auf ihre nackten Schenkel.
Ich ließ ihr noch etwas Zeit, um sich wieder an meine Nähe zu gewöhnen, wollte ich doch einen ehrlichen Abschied von ihr.
Nach ein paar Sekunden entspannte sie sich endlich, legte ihre Hände um meinen Nacken und verringerte somit die Distanz zu mir.
Ein kleines Lächeln stahl sich auf meine Lippen.
»Was ist?«, fragte sie mich ehrlich interessiert.
Dieses neugierige kleine Kätzchen.
Das brachte mich nur noch mehr zum Schmunzeln. Sie begann ebenfalls, zaghaft zu lächeln. Das erste Echte, das ich seit gestern von ihr bekommen hatte.
Es tat gut, es jetzt in dieser Situation bei ihr zu sehen. Es machte diesen Moment zwischen uns tatsächlich ehrlich und vollkommen. Ich liebte ihr schönes und aufrichtiges Lächeln.
Leicht legte ich den Kopf schief.
»Nichts, ich genieße nur diesen letzten Moment mit dir. Präge mir genau dein Gesicht ein und versuche derweil, deinen viel zu heißen Körper auf mir zu ignorieren.« Ich grinste sie verschmitzt an und erntete dafür einen leichten Klaps auf die Brust, genauso wie ein leises Lachen.
»Sag das nicht so, als würden wir uns nie wiedersehen!« Sie wandte den Blick ab. Ich lachte nun ebenfalls.
»Kätzchen, das bedeutet Abschied nun mal. Dass man sich nicht wiedersieht. So ist das Leben. Aber du wirst merken, es ist besser so.«
Ihre Augen hatten einen traurigen Glanz bekommen. Fast schien es so, als würde sie mit den Tränen ringen.
Oh, Kleines, tu mir das nicht an. Mach mich nicht schwach!
»Für wen soll das denn besser sein? Ich habe schon ihn verloren und jetzt soll ich auch noch dich verlieren? Warum tust du das?«
»Kätzchen, was soll das jetzt? Du hast doch gestern selbst gesehen was passiert, wenn ich mich nur eine Sekunde nicht unter Kontrolle habe. Das ist dir und ihm gegenüber nicht fair. Mach es mir nicht schwerer. Und jetzt komm her. Gib mir meinen Abschiedskuss, dann bringe ich dich nach Hause.« Ich legte eine Hand in ihren Nacken. Sie schloss die Augen, Tränen rollten ihr über ihre Wangen. Dann trafen unsere Lippen aufeinander. Ganz sanft.
Ich schmeckte das Salz ihrer Tränen. Ihre Finger wanderten in mein Haar hinten im Nacken und krallten sich darin fest.
Vorsichtig stieß ich mit meiner Zunge an ihre Lippen an. Bat zaghaft um Einlass, statt wie sonst dominant in ihren Mund einzudringen.
Sie seufzte einmal auf, dann öffnete sie ihre Lippen für mich. Ließ mich herein und begrüßte meine Zunge mit ihrer.
Sie begannen, miteinander zu spielen.
Meine Hände hielten nun zu beiden Seiten ihr Gesicht gefangen. Mein Kuss wurde langsamer. Ich musste aufhören, bevor ich mich in ihm verlor. Bevor mir die Kraft fehlte, sie fortzuschicken und damit freizugeben. Für uns beide. Für Enzo und mich.
Die Prinzessin musste aus diesem Haus und unserer Welt verschwinden. Dieses Leben war nichts für sie. Die Düsternis und Dunkelheit waren nichts für eine Prinzessin.
Enzo hatte recht, es würde kein Happy End für sie mit einem Monster wie uns geben.
Das musste sie doch endlich einsehen?!
Unser Abschiedskuss endete so sanft, wie er begonnen hatte. Ich hauchte ihr noch einen allerletzten Kuss auf ihre bereits geschwollenen Lippen, dann entfernte ich mich endgültig von ihr. Gab sie damit für immer aus unserer Welt frei.
Mit traurigen Augen sah sie mir entgegen, dann nickte sie schließlich und erhob sich von meinem Schoß.
Unschlüssig blieb sie vor mir stehen.
Ich bat sie, kurz auf mich zu warten. Sie zog die Stirn kraus, tat jedoch wie befohlen.
Schnell ging ich in mein Zimmer, sammelte ein paar Sachen zusammen und suchte dann in Sophias Zimmer noch ein paar Klamotten, die sie sich überziehen konnte. Immerhin konnte ich sie schlecht nur in Shorts und Shirt bekleidet durch die Gegend fahren und das im November.
Nach ein paar Minuten kam ich wieder in die Küche. Die Prinzessin stand noch genau an der Stelle, wo ich sie zurückgelassen hatte.
Ich reichte ihr eine Jogginghose, Turnschuhe sowie Mantel von Sophia. Skeptisch runzelte sie die Stirn. Ich lächelte sie aufmunternd an.
»Zieh das an. So kann ich dich ja wohl schlecht nach Hause bringen, oder?«
Nach einem kurzen Moment der Stille nahm sie mir die Sachen ab.
Kurzerhand zog sie sich die Jogginghose über die Shorts von Enzo, schlüpfte in die Schuhe und den Mantel, dann war sie fertig.
Ich wandte mich zum Gehen ab.
»Warte«, murmelte sie kleinlaut in meinen Rücken.
Ich stoppte abrupt, drehte mich wieder um und zog fragend eine Braue in die Höhe.
»Du willst wirklich, dass ich gehe? Was ist mit meinem Bruder? Was ist, wenn er Kontakt zu mir aufnimmt? Was soll ich dann tun?«
Ich trat wieder an sie heran und blieb dicht vor ihr stehen. Meine Hand wanderte wie automatisch und ferngesteuert zu ihrer Wange und streichelte ihre zarte Haut.
»Kätzchen, das ist deine Entscheidung, was du dann mit deinem Bruder tust. Aber wenn du es willst, lass ich ein paar meiner Männer ein Auge auf dich werfen, sollte Jason doch wiederauftauchen.« Ihre erste Frage hatte ich mit Absicht nicht beantwortet, denn es wäre eine Lüge gewesen. Ich wollte nicht, dass sie ging, wollte, dass sie bei mir blieb. Doch das durfte ich nicht. Also musste sie gehen. Jetzt!
Ich nickte Richtung Tür, dann gab ich sie wieder frei. Trat zurück und wandte mich zum Gehen ab. Sie folgte mir widerwillig.
Die gesamte Fahrt über sprachen wir kein Wort miteinander. Sie blickte nur seitlich aus dem Fenster, während ich mich aufs Fahren konzentrierte.
Vor ihrem Haus hielten wir.
Mit leerem Blick sah sie zu dem Gebäude. Es schien, als wäre sie noch unschlüssig, ob sie sich freute, wieder ihr altes Leben zurückzuhaben.
Ich schaltete den Motor aus und drehte mich leicht zu ihr. Ihr Blick blieb auf ihr Haus gerichtet.
»Soll ich noch mit hochkommen? Dir beim Erklären helfen? Deine Freunde werden sicher viele Fragen haben und es wäre gut, wenn sie nicht allzu viel wissen. Vor allem nichts über Enzo oder seinen Tod! Das sollte noch so lange wie möglich unter Verschluss bleiben!« Bei der Erwähnung von Enzo hatte sie ihren Kopf ruckartig in meine Richtung gedreht. Ihre Augen schimmerten wieder verdächtig, doch ich versuchte, das auszublenden. Sie schüttelte den Kopf und sah wieder zur Seite.
»Ich schaff das schon. Ich muss wohl jetzt so oder so lernen, ohne euch auszukommen.« Im Stummen gab ich ihr recht. Sie musste tatsächlich lernen, alleine ohne uns zurechtzukommen.
»Kätzchen, ich hab hier noch etwas für dich.« Sie sah mich wieder an, wartete darauf, was ich wohl für sie hatte.
Ich holte behutsam das gefaltete Blatt Papier aus meiner Lederjacke heraus und reichte es ihr.
Im ersten Moment zog sie die Brauen zusammen, dann nahm sie es entgegen und faltete es auf.
Als sie es vollständig geöffnet hatte, wurden ihre Augen groß. Dann sah sie zu mir.
Ich lächelte zaghaft.
»Ich dachte, das möchtest du vielleicht gern haben. Als Erinnerung.«
Sie nickte stumm und starrte auf die Zeichnung in ihrer Hand.
»Danke«, flüsterte sie, dann legte sie ihre Hand auf den Türgriff, drückte diesen allerdings noch nicht herunter.
Eine Weile verharrte sie so, ehe sie ohne ein weiteres Wort des Abschieds ausstieg. Nichts.
Die Prinzessin sah nicht einmal mehr zurück.
Sie lief über die Straße zu ihrem Haus und betrat dieses ebenfalls, ohne sich noch einmal zu mir umzudrehen.
Es war besser so, dennoch schmerzte es.
Ich startete den Motor und raste los. Achtete nicht auf Geschwindigkeitsbegrenzungen oder rote Ampeln. Wollte hier einfach nur so schnell es ging weg.
Ich fuhr unsere Einfahrt hoch, hatte aber schon von weitem gesehen, dass uns hoher Besuch beehrte.
Alle Autos der Big Four standen vor unserem Haus.
Na toll!
Ich wusste zwar, dass ich früher oder später mit ihnen reden musste, doch später, weitaus später, wäre mir lieber gewesen.
Noch einmal atmete ich tief durch, dann stieg ich aus meinem Auto aus und begab mich in die Höhle des Löwen. Kaum betrat ich die Eingangshalle, hörte ich schon aus der Küche eine hitzige Diskussion.
»Wo zum Teufel ist der Hunter? Wieso lässt er uns so lange warten?!«, grölte Williams durch den Raum. Ich konnte diesen Penner, alias besten Schmuggler überhaupt, nicht ausstehen.
Eigentlich bekamen wir uns bei jedem Treffen in die Wolle. Er würde sicher gleich toben, wenn er erfuhr, dass ich der neue Hunter war.
»Hier bin ich. Entschuldigt. Wenn ich gewusst hätte, dass ihr kommt, wäre ich schneller hier gewesen!« Mit dem letzten Satz warf ich David und Liam einen bösen Blick zu, da sie mich nicht darüber informiert hatten, dass die Big Four hier waren. Augenblicklich zogen sie entschuldigend die Köpfe ein.
Williams begann, laut zu lachen. Ich verdrehte nur genervt die Augen und setzte mich an Enzos – meinen Platz.
Als ich auf diesem bestimmten Stuhl saß, der immer dem Hunter gehört hatte, verstummten alle am Tisch. Jeder wusste, was das bedeutete.
Hopkins, der sich die gesamte Unterhaltung über ruhig verhalten und desinteressiert gewirkt hatte, setzte sich sofort alarmiert auf. Selbst Williams war sein Scheißlachen im Halse stecken geblieben.
»Ja, ihr versteht richtig. Ich sitze hier leider nicht zum Spaß. Bei unserer letzten Mission, Walker und Black auszuschalten und Sophia zu befreien, hat es Enzo nicht mehr geschafft. Sophia leider auch nicht. Sie wurde von Jason erschossen. Doch wir konnten wenigstens Walker und all seine Männer ausschalten.«
Die Prinzessin erwähnte ich mit Absicht nicht. Meine Leute und ich hatten uns darauf geeinigt, dass sie niemals auf dieser Yacht gewesen war.
»Und Black?«, warf der schlaue Fuchs Gibson ein. Leider war der Drogendealer von New York nicht so hohl wie der Pisser Williams. Ihm war nicht entgangen, dass ich nur Walkers Tod erwähnt hatte.
»Leider konnte dieser Schweinehund wieder einmal entkommen. Wie er das geschafft hat, grenzt an ein Wunder. Es waren vier Bomben an der Yacht angebracht worden. Alles flog in die Luft und dennoch konnte der Bastard Black fliehen. Bis heute fehlt jede Spur von ihm.«
»Vielleicht ist er im Meer ertrunken?«, mutmaßte Williams.
»Wir wissen es nicht. Wir lassen jeden verfügbaren Mann nach ihm suchen. Bis jetzt kein Lebenszeichen«, erklärte Joe fachmännisch. Es tat gut, ihn auf meiner Seite zu wissen. Wir kamen nie besonders gut aus, weshalb ich noch erleichterter über seine Rückendeckung war.
»Vielleicht konnte er von der Yacht fliehen, aber mehrere Tage im eiskalten Wasser überlebt keiner«, mischte sich wieder der Drogenboss Gibson ein. Die meisten der Männer am Tisch nickten, nur Hopkins hatte bis jetzt noch keine Regung gezeigt. Angespannt sah ich zu ihm. Nur sein Urteil zählte wirklich.
Er war der Boss von uns allen. Der Big Boss. Was er in der Unterwelt sagte, war Gesetz. Selbst die Straßenkinder kannten seinen Namen und wussten, wer er war.
Eine hitzige Diskussion entfachte sich am Tisch, doch ich beachtete sie nicht. Ich beobachtete nur Hopkins, wie er mit dem Kopf auf seiner Faust abgestützt in seinem Stuhl saß und vor sich hinstarrte.
»Wie?«, ertönte es dann unerwartet aus seiner Richtung. Alles verstummte, sah von mir zu Hopkins hin und her. Ich zog die Brauen fragend zusammen, denn ich verstand nicht ganz, was er meinte.
»Wie ist Enzo gestorben?« Dann traf mich sein Blick. Er wirkte eiskalt. Ich schluckte unmerklich. Ja, der Alte konnte sehr unheimlich sein, wenn man ihn kannte, und wusste, zu was er alles fähig war.
Ich richtete mich leicht in meinem Stuhl auf.
»Enzo hatte sich alles genau überlegt. Und da man bei Jason mit allem rechnen muss, hat Enzo deswegen die Bomben von David bauen und anbringen lassen. Wir hätten es alle noch rechtzeitig von der Yacht schaffen können. Doch Walker hat weitaus mehr Männer gehabt, als geplant war. Es waren sicher an die siebzig Männer auf dieser Yacht. Eine Zahl, mit der wir auf so einem kleinen Kampffeld nicht gerechnet haben. Enzo hat sich, um seine Schwester zu retten, gefangen nehmen lassen. Er musste vor seinem Tod viel einstecken. Ich wollte ihn retten. Doch wenn sie bemerkt hätten, dass er frei ist, hätte es keiner von uns lebend rausgeschafft. Enzo gab mir seinen letzten Befehl. Ich sollte seine Männer vom Schiff schaffen und sofort die Bomben zünden. Damit Walker, seine Männer und Jason mit ihm draufgehen würden.« Auch hier ließ ich die Prinzessin geschickt aus. Sie kam nie in dieser Geschichte vor und Schluss! So hätte Enzo es gewollt.
Hopkins musterte mich einen langen Moment. Alle schwiegen und sahen zu mir. Sie hingen regelrecht an meinen Lippen.
»Und die Kleine? Blacks Schwester? Was ist mit ihr? Könnte sie nicht wissen, wo ihr Bruder ist?«, warf der Alte mürrisch ein. Er wusste einfach alles. Unfassbar.
Ich schüttelte den Kopf.
»Ganz sicher weiß sie nichts. Sie haben laut unserer Information keinen Kontakt mehr zueinander. Sie lebt ihr Leben weiter und fertig.« Ich war mehr als dankbar über meine Entscheidung, die Prinzessin heute nach Hause gebracht zu haben. Es war genau der richtige Zeitpunkt gewesen. Wenn sie noch hier gewesen wäre, hätten wir unsere Geschichte wieder ändern müssen und sie hätten sie sicher ins Kreuzverhör genommen.
»Vielleicht sollte man ihr nochmal einen Besuch abstatten und es herausfinden?«, überlegte Williams laut.
Erneut schüttelte ich den Kopf.
»Sie hat keinen Wert mehr für uns. Sie weiß nichts! Wusste nie etwas. Das wäre verschwendete Zeit, die man sinnvoller nützen könnte!«, hielt ich dagegen.
Meine Männer nickten alle zur Bestätigung.
»Der Hunter hat recht. Sie ist nutzlos. Sollte sie zur Bedrohung werden, können wir uns immer noch um sie kümmern. Unsere oberste Priorität sollte sein, Jason zu finden und auszuschalten.« Erstaunt sah ich Hopkins an.
Es war seltsam, von ihm so betitelt zu werden, doch damit hatte er die Bestätigung gegeben.
Ich war der neue Hunter von New York.