I
ch steckte den Ersatzschlüssel, den ich mir vom Portier hatte anfertigen lassen, in das Schloss meiner Wohnungstür. Seine verstohlenen Blicke waren seltsam. Er dachte wahrscheinlich, ich würde hier nicht länger wohnen, weil er mich knapp vierzehn Tage nicht mehr gesehen hatte.
Wahnsinn, was in zwei mickrigen Wochen alles passieren konnte. Was ich alles erlebt hatte und erdulden musste.
Die knapp zehn Tage Gefangenschaft bei Enzo, wenn man es denn überhaupt so bezeichnen konnte, dann noch die drei Tage auf der Yacht und nicht zu vergessen meine letzte Nacht
gestern in Enzos Haus.
Verrückt! Das glaubte mir doch so oder so kein Mensch. Doch was würde ich nur meinen Freunden erzählen?
Ich öffnete meine Wohnungstür und betrat die WG.
Mein zu Hause.
Nur fühlte es sich überhaupt nicht mehr wie eins an. Am liebsten würde ich mich sofort in mein Bett verkriechen und es nie wieder verlassen, doch ich hörte schon die Stimmen meiner Mitbewohner aus der Küche.
»Ist gerade jemand gekommen?«, fragte Matt die anderen beiden.
Also dann, Augen zu und durch.
Noch einmal atmete ich kräftig durch, dann betrat ich unsere große Küche. Meine drei Freunde und Mitbewohner saßen an unserem Tisch. Als sie mich jedoch entdeckten, sprangen sie alle gleichzeitig auf.
Josie, meine beste und älteste Freundin fiel mir als Erstes um den Hals, gefolgt von Sarah und meinem besten Freund Matt. Sie alle redeten wild durcheinander und wollten unbedingt wissen, wo ich die letzten zwei Wochen gesteckt hatte.
»Selbst dein Onkel war schon mit der Polizei hier, Kat«, plapperte Josie aufgeregt weiter.
Während ich mich zu einem Stuhl führen ließ, weitete ich die Augen.
Mein Onkel?
Sarah stellte mir ein Weinglas hin und füllte es sehr großzügig. Als alle saßen, meldete ich mich zu Wort. Noch immer nicht ganz sicher, was ich ihnen erzählen sollte.
»Mir geht es gut. Ich habe nur ein paar anstrengende Wochen hinter mir, das ist alles.«
»Das sieht man. Du hast abgenommen. Und deine Wange ist ja blau! Mein Gott, Kat, was ist bloß mit dir passiert?!«, fragte mich Josie entsetzt. Ich nuschelte etwas Unverständliches in
mein Weinglas, dann nahm ich einen kräftigen Schluck daraus. Matt musterte mich forschend.
»Was ist aus diesem Aleks geworden?«, erkundigte er sich schließlich. Diese Frage konnte ich ihm leicht beantworten und ich war ihm dankbar dafür, dass er sie gestellt hatte.
»Dem geht es dank dir wieder gut. Er konnte rechtzeitig gefunden werden. Danke nochmal dafür, Matt.«
»Keine Ursache. Und dein Bruder? Wir haben ihn seit diesem Tag nicht mehr gesehen. Euch beide nicht! Was ist mit ihm? Hat er sich wieder beruhigt?«, bohrte Matt weiter nach. Ich nickte und schüttelte gleichzeitig den Kopf. Was sollte ich ihm auch sagen?!
Meine drei Freunde musterten mich skeptisch.
Sie wollten Antworten.
»Ehm.« Mehr bekam ich nicht raus.
»Mensch, Kat, jetzt sag uns doch endlich, wo du verdammt nochmal zwei Wochen lang warst. Und was das alles hier soll. Dein Bruder dreht durch und erschießt deinen vermeintlichen Freund und dann taucht ihr alle plötzlich ab!«, forderte Josie zu wissen. Ihre Stimme überschlug sich dabei mehrfach hysterisch.
Zerknirscht sah ich in mein Weinglas. Ich hasste es, zu lügen. Ich war nicht gut darin. Doch hier musste es leider sein. Die Wahrheit würde meine Freunde mehr in Gefahr bringen, als dass sie ihnen nützlich sein könnte.
»Okay, okay. Ich bin für zwei Wochen untergetaucht. Ich hatte Angst vor meinem Bruder. Habe eine Seite an ihm kennengelernt, die ich vorher noch nie gesehen hatte. Ich musste einfach Abstand von ihm und der ganzen verrückten Aktion bekommen. Es tut mir leid, dass ich mich nicht bei euch gemeldet habe und ihr euch Sorgen gemacht habt. Und wegen der Miete und Nebenkosten. Die zahl ich euch so schnell wie möglich zurück! Versprochen. Ich such mir gleich morgen einen neuen Job!« Ich fühlte mich schlecht. Auch wenn nur ein Teil
gelogen war, denn nun hatte ich tatsächlich Angst vor Jason. Deshalb wollte ich auch, dass meine Freunde das wussten. Wenn schon Enzo nicht mehr da war und Aleks mir nicht mehr helfen wollte, so konnte ich mich wenigstens auf meine Freunde verlassen.
Das wusste ich!
»Ehm, Kat, was redest du da?« Ich sah Matt fragend an.
Was meint er?
»Hm?«, brachte ich nur heraus. Ich hatte Angst vor dem, was nun kam. Schnell nahm ich einen großen Schluck Wein.
»Deine Miete wurde fünf Tage, nachdem du verschwunden bist, überwiesen. Für ein ganzes Jahr, plus Nebenkosten.«
Ich verschluckte mich bei Matts Worten an meinem Wein. Musste kräftig husten und rang um Atem.
Entgeistert sah ich meinen besten Freund an.
»Wer?«, war jedoch alles, was ich herausbrachte. Matt zuckte mit den Achseln.
»Woher soll ich das wissen? Ich kenne die Kontonummer nicht. Habe auch keine Angaben darüber rausbekommen. Es hat mich dann doch interessiert, wer dir für ein ganzes Jahr deine Miete zahlt. Aber ich konnte rein gar nichts über einen John Smith herausfinden. Also, wer ist der Kerl, der so dermaßen großzügig zu dir ist?«, fragte Matt misstrauisch.
Ich schüttelte nur fassungslos den Kopf. Enzo hatte mir meine Miete bezahlt? Und er hatte sich ernsthaft John Smith als Decknamen ausgesucht? Wie John Smith aus Pocahontas? Nicht gerade sehr einfallsreich für den berüchtigten Hunter von New York.
Doch warum hatte er das getan? Am fünften Tag … Das war doch der Tag, an dem er mich zu sich hoch in sein Schlafzimmer genommen hatte, nachdem das mit mir und Liam passiert war. Wieso genau dann? Ich verstand das alles nicht.
Dennoch stahl sich ein kleines Lächeln auf meine Lippen. Enzo hatte mir etwas Gutes tun wollen. Wie mit meinem
Gemälde damals, nachdem er mich nach Hause gefahren und ich mit ihm diesen Deal ausgemacht hatte, den Zusatzjob in seinem Büro zu bekommen. Danach hatte er anonym eines meiner Gemälde gekauft und einen viel zu hohen Preis gezahlt. Er hatte mir helfen wollen, ohne dass ich es wusste. Ohne dafür eine Gegenleistung zu verlangen.
Mein Herz machte bei dieser Erkenntnis einen Hüpfer. Ich wusste, dass hinter dem Monster viel mehr gesteckt hatte.
»Na, jetzt sag schon, Kat. Und warum grinst du jetzt so breit?«, schaltete sich auch Sarah ein.
»Ich war bei einem alten Freund, den ich von früher kenne. Er ist sehr wohlhabend und muss mir wohl auf meine Bedenken hin meine Miete gezahlt haben. Ich wusste nichts davon.«
Meine Freunde musterten mich kritisch.
Sie schienen mir nicht zu glauben, doch das war mir egal. Mehr würden sie nicht von mir bekommen.
»Was war jetzt mit meinem Onkel?«, stellte ich ihnen nun eine Frage.
»Er war vor knapp einer Woche hier und meinte, dass von dir und deinem Bruder jede Spur fehlt. Keiner konnte euch erreichen oder wusste, wo ihr steckt. Er hat sich schreckliche Vorwürfe gemacht, da er dir nicht verziehen hat, als du dich kurz vor deinem Verschwinden bei ihm entschuldigt hast. Kat, du solltest ihn wirklich dringend anrufen!«, entgegnete mir meine beste Freundin ernst. Ich nickte.
Das überraschte mich dann doch etwas. Ich hatte nie ein besonders gutes Verhältnis zu meinem Onkel gehabt und es gab schon öfter Zeiten, in denen wir über Wochen hinweg keinen Kontakt gehalten hatten. Da hatte er sich schließlich auch keine Sorgen um mich gemacht. Ich beschloss, ihn jedoch erst morgen anzurufen. Oder übermorgen. Erst einmal wollte ich mein neues, altes Leben genießen. Ohne Dramen oder Stress.
»Genug von mir. Wie ist es euch denn so ergangen? Ach, und weiß einer, wie es John geht?«
Josie begann, mädchenhaft zu kichern. Ich beäugte sie skeptisch. Das machte sie nur, wenn ihr etwas unangenehm war.
»Was hast du angestellt?«, fragte ich sie belustigt. Meine beste Freundin sah mich unschuldig mit ihren großen Bambi-Augen an.
»Also es ist eigentlich nichts Schlimmes. Und es ist auch eigentlich total dämlich. Du wirst dich sicher totlachen«, plapperte sie vor sich hin.
»Josie, jetzt spuck’s schon aus. Ich werd’ dir schon nicht den Kopf abreißen!«
»Vergiss diesen Satz am besten nicht«, gab Sarah belustigt von sich und erntete von Josie dafür einen bitterbösen Blick. Nun wurde ich gleich noch etwas neugieriger. Ich lächelte meiner besten Freundin aufmunternd zu.
»Okay, aber bitte hass mich nicht dafür«, beschwor sie mich.
»Herr Gott, sie ist mit John zusammen. Weiber, ehrlich!«, motzte Matt kopfschüttelnd und stand auf, um noch eine neue Flasche Wein zu holen.
Meine Kinnlade klappte nach unten. Ich hätte ja mit allem gerechnet, doch nicht damit.
»Danke für deine Hilfe, Matt!«, maulte Josie, dann sah sie wieder zu mir.
»Also, das stimmt nicht ganz. Wir sind nicht offiziell so richtig zusammen. Wir hatten erst vier Dates. Also nichts Ernstes. Und wenn es dir nicht recht ist, dann schieß ich ihn sofort ab!«, lenkte meine beste Freundin ein.
Ich konnte mir ein Lachen nicht länger verkneifen.
»Josie, alles gut. Es ist okay für mich. Es kam nur unerwartet. Aber ich freue mich für dich, wenn es dir ernst sein sollte. John ist wirklich ein toller und netter Kerl. Er passt
perfekt zu dir. Ich habe wirklich kein Problem damit.«
Augenblicklich sprang Josie auf und fiel mir quiekend um den Hals.
»Oh mein Gott, ich bin so erleichtert, Kat! Ich mag ihn wirklich sehr. Er ist sooo toll!«, schwärmte sie mir verliebt vor. Ich musste breit grinsen. Es freute mich wirklich sehr für die beiden. John hatte nach dem ganzen Drama mit mir und dem ständigen Hinhalten auch wirklich ein nettes Mädchen wie Josie verdient.
Ich hatte mich ihm nie öffnen können. Konnte ihm nie mehr geben oder das geben, was er wollte. Klar, ich hatte schon immer für John geschwärmt, doch so wirklich verliebt war ich nie in ihn gewesen.
Das wusste ich jetzt.
Ein stechender Schmerz machte sich in meiner Brust breit. Meine Gedanken waren wieder zu Enzo und zu unserer gemeinsamen Zeit gewandert. Es schmerzte fürchterlich, dass ich ihn nie wiedersehen würde. Dass er sich für mich und die anderen geopfert hatte.
»Kat, alles okay?«, fragte mich Matt. Ich riss den Kopf hoch. War so in Gedanken versunken gewesen, dass ich nichts mehr mitbekommen hatte.
Ich nickte und zwang mich zu einem falschen Lächeln.
Dann klappte mir erneut die Kinnlade runter, als mein bester Freund Sarah einen flüchtigen Kuss auf die Wange gab. Als wäre es das Normalste auf der Welt. Als wären sie zusammen.
Moment mal?!
»Seid ihr etwa?«, stotterte ich. Beide sahen mich breit grinsend an.
Okay, was habe ich denn bitte alles verpasst? Es waren doch nur zwei Wochen gewesen.
Sarah nickte eifrig und strahlte wie ein Honigkuchenpferd, auch Matt schien glücklich damit zu sein.
»Wow, da lässt man euch mal zwei Wochen allein und ihr macht solche Sachen. Aber ich freu mich für euch.«
»Sag das nicht. Es ist schrecklich, mit den beiden zusammen zu wohnen. Du wirst sehen. Wenn sie nicht die halbe Nacht ungezügelten Sex haben, dann turteln und kleben sie nur so aneinander. Total nervig!«, beschwerte sich Josie.
Matt warf eine Serviette nach ihr.
»Sagt die Richtige. Was war das gestern mit John?«
»Sssscht! Mann, Matt! Kannst du nie die Klappe halten?« Josie sah mich entschuldigend an.
Ich begann, zu lachen. Ich freute mich für meine Freunde, die wohl alle ihr Happy End bekamen. Eins, das mir leider verwehrt geblieben war.
Das Klingeln an der Tür riss mich aus meinen traurigen Gedanken. Da die drei in eine freundschaftliche Kabbelei verfallen waren, stand ich auf und ging zur Tür.
Als ich sie öffnete, stand ein völlig überraschter John vor mir.
»Kat? Was? Wie geht es dir?« Sofort zog mich John in eine innige Umarmung. Ich fühlte mich unwohl, nachdem mir Josie gesagt hatte, sie wären zusammen.
Er gab mich aus seiner Umarmung wieder frei, hielt mich jedoch noch immer mit leichtem Druck an beiden Oberarmen fest und sah mich eindringlich an.
»Was ist passiert? Wie hast du es da rausgeschafft?« Was sagte ich ihm bloß? Ich konnte John keinen Bären aufbinden. Er war schließlich im Shade dabei gewesen. Er wusste, was passiert war.
»John, ich kann dir darüber nichts sagen. Die anderen wissen übrigens auch nichts. Sie denken, ich war bei einem alten Freund, weil ich Abstand zu Jason gebraucht habe. Bitte sag ihnen nichts. Sie sollen und dürfen darüber nichts wissen!« Flehend zog ich die Brauen zusammen.
Er dagegen machte ein wütendes Gesicht.
»Schön! Deinen Freunden werd’ ich nichts sagen! Aber ich will genau wissen, was passiert ist. Und was ist mit Jason? Er klang so komisch am Telefon«, sprach John ungehalten.
»John, ich kann nicht! Bitte versteh doch, ich darf dir nichts sagen. Und zu meinem Bruder … ich weiß nicht, wo er ist. Und ich will es auch nichts wissen. Er ist mir egal. Er soll zur Hölle fahren!« Das Letzte zischte ich wütend.
John sah mich entgeistert an und ließ langsam seine Hände von meinen Armen gleiten. Meine Worte schienen ihn tatsächlich zu überrumpeln.
»Kat, was ist denn bloß passiert? Und was ist mit deiner Wange? Welcher von diesen Schweinen hat dich geschlagen? Es war der Hunter, stimmt’s?!«, presste John den letzten Satz nur so aus zusammengebissenen Zähnen hervor.
Bei der Erwähnung von Enzo zog sich alles in mir schmerzhaft zusammen. Der Schmerz wurde fast übermächtig und ich versuchte zwanghaft, keine Reaktion darauf zu zeigen. Mich John gegenüber nicht zu verraten. Er würde es so oder so nicht verstehen.
Keiner würde das. Sie würden mich alle für verrückt halten, mich in diesen Mann, in dieses Biest, verliebt zu haben. Und doch war genau das passiert.
Ich war unsterblich in beide Seiten von Enzo verliebt gewesen. Doch das war jetzt nicht mehr wichtig. Nichts war mehr wichtig. Er war tot und ich würde ihn vergessen müssen. Würde alles, was mir in den letzten Wochen mit ihm und seinen Leuten passiert war, ausradieren müssen.
Und dank Enzos kleiner Finanzspritze musste ich mir auch keinen dämlichen Job als Kellnerin mehr suchen. Ich konnte mich ganz auf das Zeichnen und meine Kunst konzentrieren. Denn ich musste mir keine Sorgen mehr um die Miete und Nebenkosten machen. Und das bisschen, was ich für Essen und zum Leben brauchte, verdiente ich mir mit meiner Kunst allemal.
Ich hatte ein Jahr Zeit, um mir etwas mit meiner Kunst aufzubauen, und dafür war ich Enzo unendlich dankbar. Er hatte mir damit mehr gegeben, als er sich überhaupt vorstellen konnte.
Und wer wusste schon – vielleicht schaffte ich es ja, in dem einem Jahr so erfolgreich zu werden, dass ich mir meinen Traum von einem eigenen Atelier erfüllen konnte.
Wieder sah ich zu John, der mich die gesamte Zeit über streng beäugt hatte. Ich schüttelte den Kopf.
»Ob du’s glaubst oder nicht, aber der Hunter hat mich nicht angerührt. Er hat mich nicht geschlagen oder schlagen lassen. So, wie er es versprochen hat. Er hat sich an alle Abmachungen gehalten. Mein Bruder jedoch nicht! Und deswegen will ich nichts mehr mit ihm zu tun haben. Er hat mich wissentlich in Gefahr gebracht und es war ihm egal! Er hat Männer schlimme Dinge mit mir tun lassen, nur um sich am Hunter rächen zu können. Und es war ihm egal, wie es mir dabei ging. Das Thema Jason hat sich für mich erledigt, verstanden?!«
Nach meiner Rede starrte mich John fassungslos an. Er konnte wohl nicht glauben, dass sein bester und ältester Freund doch nicht so ein feiner Kerl war, wie er es uns allen vorgespielt hatte. Doch war es Jason, der eigentlich das wahre Monster war. Das wusste ich jetzt.
»Kat, ich wusste nicht …«
»Ich weiß, John. Ich wusste es auch nicht. Und jetzt lassen wir das Thema, ja? Geh rein. Deine Freundin wartet schon auf dich.« Ich zwinkerte ihm frech zu. John verzog zerknirscht das Gesicht und fasste sich jungenhaft in den Nacken.
»Du weißt es schon? Es ist irgendwie passiert. Aber wenn es dich …« – doch ich unterbrach ihn erneut.
»John, sei nicht albern. Ich freue mich für euch. Ich finde, ihr passt perfekt zusammen. Ich werde eurem Glück ganz sicher nicht im Wege stehen. Aber jetzt entschuldige mich. Ich bin
echt kaputt. Sagst du den anderen Bescheid?«
John nickte nur.
Ich grinste ihn noch einmal schwach an, dann machte ich mich auf in mein Zimmer.
Als ich die Tür in meinem Rücken schloss, lehnte ich mich dankbar an diese an. Ich sah mich in meinem Zimmer um. Alles war beim Alten. Nichts war in meiner Abwesenheit bewegt worden.
Und dennoch war es komisch, wieder hier zu sein, in meinem alten Leben, mit meinen alten Freunden, ohne ihn.
Dann fiel mir ein, dass ich hier das letzte Mal mit Aleks zusammen gewesen war.
Diese zwei Männer hatten mir so viel gegeben, hatten mir unbewusst so viel beigebracht und mich noch um einiges stärker gemacht.
Ich war ihnen wirklich dankbar dafür.
Sie hatten mich mit ihrer Düsternis, die sie und ihre Welt umgab, gezwungen, die meine zu überdenken. Alles in Frage zu stellen, was ich kannte, liebte oder gelebt hatte.
Ich stieß mich von meiner Tür ab und schlüpfte erst einmal in neue Kleidung. Endlich wieder Unterwäsche! Nachdem ich mich in eines meiner Joggingoutfits geschmissen hatte, zog es mich an meinen Zeichentisch. Ich hatte das Zeichnen so vermisst.
Ich setzte mich, schnappte mir eine mittelgroße Leinwand, Farbe und Pinsel und malte drauflos.
Ich verfiel in einen regelrechten Rausch. Der Pinsel fegte nur so über die Leinwand. Als wäre ich in meiner eigenen Welt gefangen. Hier gab es nur mich, meine Kunst und sonst nichts. Hier konnte ich sein, lieben und hassen, wen ich wollte. Hier war ich frei.
Nach knapp zwei Stunden trat ich von meinem erschaffenen Kunstwerk zurück. Ich war selbst ganz erstaunt, was mir hier gelungen war. Noch nie hatte ich so etwas gemalt. Es wirkte
ein wenig fremd, entsprach überhaupt nicht meinem Stil.
Jetzt wohl schon.
Ich hatte die düstere und dunkle Seite in mir entdeckt, die von Enzo erweckt worden war. Er hatte sie mir gezeigt. Ebenso, dass ich mich für sie nicht schämen brauchte.
Die Leinwand zeigte ein in Schwarz und Grau gehaltenes Bild. Sonst war ich immer recht farbenfroh unterwegs. Doch hier nicht, es hätte nicht gepasst. Nicht sein Wesen eingefangen.
Mein Kunstwerk zeigte eine dunkle Kreatur mit großen schwarzen Schwingen. Inspiriert durch Enzos Todesengel auf seinem Rücken. Nur hatte ich in meinem Bild Enzo als diesen abgebildet. Seinen Körper als Vorlage verwendet.
Seine Narben, seine Tätowierungen, seine Haare und vor allem seine Augen. Sie trugen auch als einzige Elemente Farbe in diesem Bild.
Meiner Meinung nach hatte ich sie perfekt eingefangen. Sie strahlten einem elegant und doch unergründlich und bedrohlich wie das ewige Eis entgegen. In seine eisblaugrauen Augen hatte ich mich zuerst verliebt.
Enzo schwebte als Todesengel über die Leinwand. Gerahmt von dunklen Rauchschwaden, Schädel und der ihn immer umgebenen Düsternis.
Ich hatte versucht, ihn so einzufangen, wie ich ihn immer gesehen hatte.
Diesen Mann und seine dunkle Aura mit seinem ständigen Begleiter, der Düsternis.
Ich war mir sicher, ihm würde dieses Bild gefallen. Nein, er würde es lieben. Ganz bestimmt.
Eine Mischung aus Trauer und Stolz kam in mir auf. Trauer, weil er es nie sehen würde, und Stolz, dass ich es geschafft hatte, Enzo so vollkommen einzufangen.
Die Müdigkeit schlich sich in meine Knochen. Ich beschloss, ins Bett zu gehen. Noch schnell einen Gang ins Bad, um mich
bettfertig zu machen und vor allem, um mir die Farbe von der Haut zu waschen, dann fiel ich auch schon erschöpft ins Bett. Die letzten Wochen waren dermaßen nervenaufreibend gewesen, dass ich gefühlt zwanzig Stunden durchschlafen könnte. Kein Wunder also, dass ich binnen Minuten einschlief.