KAPITEL 7

Politische Wechselbäder im Kohlebecken

Für die DFB-Offiziellen, die Sepp Herbergers Sichtungslehrgang im Frühjahr 1940 überwachten, war das Verhalten Paul Cyganeks völlig untragbar. Der Linksaußen vom 1. FC Kattowitz hatte nämlich mit einem anderen Lehrgangsteilnehmer Polnisch geredet, vermutlich war es sein Clubkamerad Ewald Dytko. Cyganek musste seine Sachen packen, Herberger strich seinen Namen aus seinem berühmten Notizbuch.1 Auch Dytko wurde nicht mehr zu den Lehrgängen eingeladen. Die beiden Oberschlesier waren polnische Nationalspieler gewesen. Cyganek hatte einmal in Weiß-Rot gespielt, beim 4:2-Sieg über Vizeweltmeister Ungarn drei Tage vor dem Beginn des Zweiten Weltkrieges, und dabei sehr gute Kritiken bekommen. Dytko, einer der stabilsten Leistungsträger der Weißen Adler, war fast schon ein alter Bekannter für Herberger: Er war bei drei der bisherigen fünf Länderspielen gegen die Deutschen einer der Ballverteiler im Mittelfeld gewesen, der Reichstrainer hatte sich auch ein Bild von ihm bei der WM 1938 im Spiel der Polen gegen Brasilien machen können.

Schon wenige Wochen nach dem deutschen Einmarsch in Polen hatte Herberger einen Lehrgang für die oberschlesischen Spieler geplant, die bis dahin in der obersten polnischen Liga gespielt hatten, nun aber wieder Reichsbürger waren. Gleichzeitig beeilte sich der DFB, Ostoberschlesien in seine Strukturen einzugliedern. Die polnischen Clubs wurden aber nicht geschlossen, wie dies im Generalgouvernement der Fall war, sondern bekamen einfach deutsche Namen. Oft waren es die alten Namen, denn die meisten von ihnen waren ja Anfang der zwanziger Jahre aus deutschen Vereinen hervorgegangen. Der stärkste Club der Region, der fünffache polnische Meister Ruch Chorzów, hieß nun Bismarckhütter Ballspiel Club, kurz BBC, so wie einer der beiden Clubs, die zu Ruch verschmolzen worden waren. Und der Lokalrivale AKS Chorzów kehrte zunächst zu seinem alten Namen VfR Königshütte zurück, um dann noch einen Schritt weiterzugehen: Als Germania Königshütte spielte er bei den deutschen Meisterschaften mit.

Der DFB erfüllte mit diesen Umstrukturierungen und Umbenennungen die Vorgaben der NS-Führung in Berlin, die die 17 Jahre währende polnische Zeit Ostoberschlesiens völlig auslöschen wollte. Dazu gehörte auch die Verhaftung zahlreicher polnischer Intellektueller; eine große Gruppe von ihnen wurde ohne jegliches Gerichtsverfahren schon in den ersten Tagen nach dem deutschen Einmarsch erschossen. Diesen hatte wiederum ein nicht kleiner Teil der Einwohner von Kattowitz, Königshütte und der anderen Industrieorte bejubelt. Polnische Inschriften wurden entfernt, an manchen Orten polnische Bücher verbrannt. Die polnische Sprache sollte ganz aus dem öffentlichen Leben verschwinden. Die NS-Behörden schlossen daher sämtliche polnischen Verlage, Bibliotheken und die Universität. Im oberschlesischen Industrierevier gab es fortan nur noch deutsche Schulen, alle Kinder hatten den Lebenslauf Hitlers auswendig zu lernen.

„Entpolonisierung und Eindeutschung“

Die NS-Behörden setzten sich die Aufgabe, die Bevölkerung in Deutsche und Polen aufzuteilen. Denn eine klare Zuordnung war bei einem Großteil der Oberschlesier, die zu Hause Wasserpolnisch sprachen, nicht ohne Weiteres möglich. Aus diesem Grunde führten die Behörden die Kategorisierung nach Volkslisten ein:

image Liste I erfasste alle Personen, „die sich vor Kriegsausbruch aktiv zum Deutschtum bekannt hatten“.

image In die Liste II waren die Personen einzutragen, die zwar nicht in deutschen Organisationen aktiv waren, „die sich ihr Deutschtum aber nachweislich bewahrt hatten“.

image Liste III bezog sich auf „deutschstämmige Personen, die Bindungen zum Polentum eingegangen waren, bei denen aber die Voraussetzungen gegeben waren, sie wieder zum Deutschtum zurückzuführen“. Ihnen wurde die Staatsbürgerschaft „auf Widerruf“ zugestanden.

image Auf Liste IV wurden die Namen der Deutschstämmigen gesetzt, „die völlig im Polentum aufgegangen und sich deutschfeindlich betätigt hatten“.

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Józef Kałuimagea, Spielmacher der Weiß-Roten in den zwanziger Jahren, dann Nationaltrainer.

Von den als Deutsche eingestuften zweisprachigen Oberschlesiern erwarteten die Behörden, dass sie nur deutsche Vornamen trugen. Vornamen mussten „entpolonisiert“ werden, die Standesämter arbeiteten entsprechende Vorschlagslisten aus. So wurde Piotr zu Peter, Paweł zu Paul, Łukasz zu Lukas, Jerzy zu Jürgen oder Georg. Wer seinen Vornamen nicht „eindeutschen“ wollte, wurde von den NS-Behörden als „Verräter am deutschen Volk“ behandelt und in ein Konzentrationslager deportiert. Unter diesen Voraussetzungen ließen sich 98 Prozent der Einwohner Ostoberschlesiens in die Volkslisten eintragen, drei Viertel von ihnen kamen in die ersten beiden Kategorien.

Angesichts der Verfolgung der polnischen Elite empfahl der Chef der neugebildeten polnischen Exilregierung, General Władysław Sikorski, den Oberschlesiern, sich unabhängig von ihren persönlichen Überzeugungen als „zum Vaterland zurückgekehrte Deutsche“ aufzuführen und in die Volkslisten einzutragen. Anders sei die „Substanz des polnischen Volkes“ in der Region nicht zu erhalten.

Alle in Oberschlesien gebliebenen polnischen Nationalspieler unterzeichneten die Volksliste und bekamen auf diese Weise deutsche Personalausweise. Auch Fußballer mit geringen Deutschkenntnissen kamen auf die Volksliste II, um die Spielerlaubnis zu erhalten. Dass sie nun auch unter Hakenkreuzfahnen in der deutschen Gauliga spielen sollten, verunsicherte einige von ihnen. Leonard Piontek, Stürmer im WM-Spiel gegen Brasilien, der sich auf polnisch Piimagetek schrieb, fuhr deshalb zum Nationaltrainer Józef Kałuimagea nach Krakau, um ihn um Rat zu fragen. Kałuimagea, damals die höchste Autorität im polnischen Fußball, sagte ihm, er sehe kein Problem darin, dass Oberschlesier nun um die deutsche Meisterschaft spielen sollten.2

Der Vater Pionteks hatte bei den Schlesischen Aufständen auf der polnischen Seite gekämpft. Der Sohn versteckte zu Beginn des Krieges zwei der Kampfgefährten des Vaters in seiner Wohnung, wie er nach dem Krieg zu Protokoll gab. Eines Abends seien Gestapoleute gekommen, er habe seine Verhaftung gefürchtet. Doch sei er eingeladen worden, für einen der neugegründeten deutschen Clubs in Krakau zu spielen. Piontek aber blieb in Oberschlesien, er hielt seinem alten Club die Treue, obwohl dieser nun Germania Königshütte hieß.3

Auch Paweł/Paul Cyganek, der Herbergers Sichtungslehrgang in Berlin verlassen musste, versteckte nach eigenen Angaben von der Gestapo gesuchte ehemalige Kämpfer des Verbandes der Aufständischen. Es war für ihn ein besonderes Risiko, denn sein Club, der wiedergegründete 1. FC Kattowitz, wurde einerseits besonders vom NSDAP-Kreisleiter Georg Joschke gefördert, andererseits aber auch besonders scharf kontrolliert.

Erwin Nytz von der aufgelösten Polonia Warschau, deren Spieler indes im Untergrund ihre Meisterschaft austrugen, soll sogar zweimal von der Gestapo einbestellt worden sein, weil er zunächst nicht für den 1. FC habe antreten wollen. Erst als ihm mit KZ gedroht worden sei, habe er eingelenkt, berichtete er nach dem Krieg. Auch Ewald Dytko, den Herberger ebenfalls für den DFB-Kader in Betracht gezogen hatte, wurde dem 1. FC zugeteilt, ebenso wie Ernst Willimowski.4

Vorwärts Rasensport und Germania

Doch die auf Befehl von oben zusammengesetzte Mannschaft hatte keinen Erfolg, sie kam in der Gauliga Oberschlesien in den fünf Spielzeiten, die trotz des Krieges durchgespielt wurden, nicht über den vierten Platz hinaus. Willimowski ging bereits nach knapp vier Monaten, Dytko und Nytz, die beiden Läufer im Mittelfeld, wurden 1942 zur Wehrmacht eingezogen. Nytz wurde dem Luftwaffen-Sportverein im niederschlesischen Markersdorf zugeteilt und von dort zum Luftwaffen-SV im brandenburgischen Fürstenwalde versetzt.

Meister des wiedervereinigten Oberschlesiens wurde in den ersten beiden Kriegsjahren statt des 1. FC Kattowitz der Vorwärts Rasensport Gleiwitz, der schon vor dem Krieg die dominierende Mannschaft auf der deutschen Seite gewesen war. Von 1942 bis 1944 gewann Germania Königshütte die oberschlesische Gaumeisterschaft. Den Sturm trieb der agile Leonard Piontek an, der zunächst Zweifel gehabt hatte, ob er in einer deutschen Liga spielen solle. In seinem Verein redeten manche der Spieler untereinander Polnisch. Die Verantwortlichen von Germania störten sich nicht daran, solange sie gewannen. Doch wenn die Germania in der Endrunde um die deutsche Meisterschaft gegen Mannschaften aus anderen Teilen des Deutschen Reiches antrat, durften die Spieler nur deutsch reden.5

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Leonard Piontek, energischer Antreiber von AKS Chorzów und Germania Königshütte.

Der Lokalrivale, der Bismarckhütter BC, wie nun Ruch Chorzów hieß, stützte sich auf den Torhüter Eryk/Erich Tatus, den zweifachen Torschützenkönig der Liga Teodor/Theodor Peterek, den schnellen Linksaußen Gerard Wodarz sowie vier weitere Spieler der Meistermannschaft der dreißiger Jahre.

Doch die Ruch-Stars von Bismarckhütte wurden bald auseinandergerissen: Nach und nach mussten sie zur Wehrmacht einrücken, wie auch die anderen polnischen Nationalspieler, die in der Gauliga Oberschlesien spielten. Offenbar dank politischer Protektion wurden der Mannschaftskapitän Leonard Piontek und andere Schlüsselspieler der Germania erst im Spätherbst 1944 eingezogen, was ihnen im Kampf um die Gaumeisterschaft zugute kam, denn die Rivalen mussten ihre besten Spieler viel eher ziehen lassen.

Etwa eine halbe Million Bürger der an das Deutsche Reich angeschlossenen Gebiete Polens dienten in der Wehrmacht, rund 200.000 von ihnen sind gefallen.6 Opfer des Krieges wurde auch Karol Kossok, der „schlesische Riese“ und Torschützenkönig der Liga. Er starb in einem sowjetischen Kriegsgefangenenlager.

Die Oberschlesier, die kein einwandfreies Deutsch sprachen, wurden von ihren Vorgesetzten in der Wehrmacht meist rüde behandelt, sie waren auch von Beförderungen ausgenommen. Nach Berechnungen polnischer Historiker ist mindestens ein Fünftel von denjenigen, die in Westeuropa stationiert waren, nach der Landung der Alliierten in der Normandie desertiert. Ein Teil von ihnen wurde in die polnischen Einheiten aufgenommen, die unter britischem Oberbefehl kämpften.7

Während die Wehrmacht an allen Fronten den Rückzug antrat und sich die Alliierten ebenso wie die Rote Armee den ehemaligen Reichsgrenzen näherten, spielten die Vereine der Gauliga Oberschlesien unverdrossen weiter ihren Meister aus. Schlesien lag außerhalb der Reichweite der alliierten Bomberstaffeln, die Menschen waren bislang nicht unmittelbar von den Kämpfen betroffen. Aus diesem Grund wurden mehrere Hunderttausend Einwohner der weiter westlich gelegenen Städte vorübergehend nach Schlesien umgesiedelt, vor allem Ausgebombte und Kinder. Hier befanden sich auch zahlreiche Rüstungsbetriebe, in denen vor allem Polen Zwangsarbeit leisteten.

Anfang 1945 führte der 1. FC Kattowitz erstmals die Tabelle der Gauliga an. Über den Spieltag vom 14. Januar berichtete die „Kattowitzer Zeitung“ ausführlich, verschwieg aber den Lesern, dass die Rote Armee nur wenige Dutzend Kilometer weiter östlich eine große Offensive begonnen hatte. Der Tabellenführer hatte auf eigenem Platz gegen Preußen Hindenburg überraschend 1:2 verloren. Und in der Kreisklasse ging die WKG Auschwitz bei der TuS Karwin mit 1:10 unter.8 Es folgte eine Vorschau auf den nächsten Spieltag. Doch es gab keine Spiele mehr, die große Flucht setzte ein; Tausende von deutschen Kattowitzern flohen nach Westen. Wenige Tage später erreichten die ersten sowjetischen T-34 das oberschlesische Industriegebiet.

„Entdeutschung und Repolonisierung“

Es begannen Wochen des Schreckens für die zurückgebliebene Bevölkerung, mit Massenvergewaltigungen, willkürlichen Erschießungen, Plünderungen und der Deportation von mehreren Zehntausend Oberschlesiern in die Tiefen der Sowjetunion. Ein beträchtlicher Teil von ihnen hatte bei den Volkstumskämpfen ein Vierteljahrhundert zuvor auf der polnischen Seite gestanden.

Schon unmittelbar nach dem Abzug der Deutschen hatten Frauen und Mütter polnischer Fußballer aus Hakenkreuzfahnen Trikots in den Nationalfarben genäht, wie in den Annalen des oberschlesischen Sports verzeichnet ist.9 Polnische Militäreinheiten und kommunistische Funktionäre begannen mit dem Wiederaufbau der Verwaltung. Ein Großteil der Bevölkerung erwartete sie allerdings mit gemischten Gefühlen. Denn das kommunistisch dominierte Polnische Komitee zur Nationalen Befreiung hatte bereits im Juli 1944 alle polnischen Staatsangehörigen, die sich während des Krieges zur deutschen Volkszugehörigkeit bekannt hatten, zu Verrätern erklärt. In Kattowitz und den Nachbarorten war die Mehrheit der Einwohner in die Kategorien I und II der „Volksliste“ der NS-Behörden eingetragen worden. Hinzu kam, dass offiziell auch der Dienst in der Wehrmacht als Verrat galt.

Die von Moskau eingesetzte neue kommunistische Führung Polens interessierte sich nicht dafür, dass der – 1943 bei einem Flugzeugabsturz umgekommene – Exilpremier Władysław Sikorski die Bevölkerung ermuntert hatte, sich aus Selbstschutz in die Volkslisten eintragen zu lassen. Sie wollte für eine möglichst schnelle „Entdeutschung“ Oberschlesiens sorgen. Die von den deutschen Behörden zurückgelassenen Volkslisten waren dabei willkommene Hilfsmittel. Wer zur Gruppe I der „aktiven Deutschen“ gehörte, kam entweder als „feindliches Element“ in ein Arbeitslager oder wurde sofort zwangsausgesiedelt. Bei der Gruppe II wurde von Fall zu Fall entschieden; dem Arbeitslager und der Vertreibung sollten nur diejenigen entgehen, die gute Kenntnisse der polnischen Sprache nachweisen konnten.

Das Programm der Entdeutschung sah auch die Beschlagnahme deutscher Bücher vor. Ein Teil kam in Bibliotheken und Antiquariate, der Rest landete in Papiermühlen oder wurde verbrannt. Deutsche Inschriften mussten von Gebäuden und auch Kirchen, sogar von Grabsteinen entfernt, Gegenstände mit deutschen Aufschriften wie Aschenbecher, Teller, Biergläser, Verpackungen mussten unverzüglich beseitigt werden.10

Der neue Woiwode Aleksander Zawadzki, ein Kaderkommunist, der den Krieg in Moskau überstanden hatte, ordnete an: „Der Deutschunterricht muss vollständig abgeschafft werden. Die Kinder sollen so schnell wie möglich die uns so verhasste deutsche Sprache vergessen. Wir müssen diesen Hass vertiefen.“11 Zum Programm gehörte die Liquidierung deutscher Vornamen. Viele Oberschlesier mussten somit innerhalb von wenigen Jahren zum zweiten Mal den Namen ändern.

Verhöre und Verhaftungen

Der wiedergegründete regionale Fußballverband erklärte, die Vereine seien „verantwortlich für die Einwandfreiheit der Spieler unter nationalem Gesichtspunkt“. Es sollte mitgeteilt werden, in welche Volksliste die einheimischen Spieler eingetragen seien.12

Die kommunistisch kontrollierte Geheimpolizei UB nahm sich die bekanntesten Spieler vor, die während des Krieges in den deutschen Vereinen gespielt, später in der Wehrmacht gedient und das Kriegsende bei den Alliierten erlebt hatten. Sie galten pauschal als verdächtig, mit dem Westen zu sympathisieren. Dazu gehörten die beiden Ruch-Torjäger Teodor Peterek und Gerard Wodarz sowie die beiden Kattowitzer Ewald Dytko und Erwin Nytz.

Von allen vieren wollte der UB sehr genau wissen, was sie in der Wehrmacht und vor allem bei den Alliierten gemacht hatten. Die Verhöre schüchterten sie ein, erst Jahre später machten sie die eine oder andere Andeutung. Doch durften sie bald wieder Fußball spielen. Laut den offiziellen Lebensläufen waren sie in die Wehrmacht gezwungen worden, obwohl sie sich als Polen fühlten, und bei der ersten Gelegenheit desertiert.

Wodarz hat sich demzufolge 1944 französischen Partisanen in der Normandie ergeben. Er wurde von den Franzosen an die Amerikaner übergeben und von dort zu einer polnischen Einheit unter britischem Oberbefehl nach Schottland gebracht. Bis zum Frühjahr 1946 spielte er im Fußballclub des Highland-Städtchens Fraserburgh.13 Auch Teodor Peterek ist nach der offiziellen Darstellung in Frankreich desertiert. Er spielte nach Ende des Krieges fast ein Jahr lang mit einer polnischen Armeemannschaft in Großbritannien. Ausschlaggebend für seine Rehabilitierung war letztlich, dass er von den NS-Behörden nur in die Volksliste III eingetragen worden war.14

Dytko ist nach eigenen Angaben in Griechenland zu den Amerikanern übergelaufen, was für den UB ausreichte, ihn in Arrest zu nehmen. Er kam erst aus der UB-Haft frei, nachdem er dem neuen Regime schriftlich seine Loyalität erklärt hatte. Auch musste er in die Änderung seiner Vornamen einwilligen: aus Ewald Oskar wurde Edward Jan.

Aus Erwin Günther Nytz, der neben Dytko im WM-Spiel gegen Brasilien im Mittelfeld gespielt hatte, wurde Edward Piotr Nyc. Er war

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Die drei Nationalspieler Teodor Peterek, Gerard Wodarz und Ewald Dytko (von links) bekamen Probleme mit der Geheimpolizei UB, weil sie für deutsche Clubs gespielt und sich bei Kriegsende in Obhut der Westalliierten befunden hatten.

in den Augen des UB höchst verdächtig, weil er während des Krieges für Sportvereine der Luftwaffe sowie die Stadtauswahl Berlins angetreten war, und wurde als Verräter vor Gericht gestellt. Doch verbürgten sich mehrere prominente Warschauer und Krakauer Spieler für ihn: Er habe „unter Einsatz seines Lebens“ Waffen für die Widerstandsbewegung besorgt.15 Er selbst verteidigte sich mit dem Verweis auf den Trainer der Nationalmannschaft, Józef Kałuimagea, der den Oberschlesiern geraten habe, in den deutschen Vereinen zu spielen, um der Verfolgung durch die Gestapo auszuweichen. Kałuimagea konnte nicht mehr dazu befragt werden, er war 1944, vom alltäglichen Terror der Deutschen zermürbt, im besetzten Krakau gestorben.

In den offiziellen Lebensläufen der Spieler wurde verschwiegen, dass sie die Volksliste unterzeichnet, in deutschen Vereinen gespielt und in der Wehrmacht gedient hatten. Stattdessen wurde bei einigen von ihnen herausgestellt, dass sie im Krieg Angehörige des den Deutschen verhassten Verbandes der Schlesischen Aufständischen versteckt hätten und als Wehrmachtssoldaten desertiert seien. Ob dies den Tatsachen entsprach oder ob dies Versionen der Spieler, ihrer Vereinschefs oder gar oberschlesischer Parteifunktionäre waren, die ihnen eine Spielerlaubnis garantieren sollten, wird sich vermutlich nicht mehr klären lassen.16

Arbeitslager für „Kollaborateure“

Längst nicht alle prominenten Spieler, die die Trikots der deutschen Vereine übergestreift hatten, kamen so glimpflich davon wie die Stars von Ruch. Andere kamen nämlich in Arbeitslager, die zunächst der sowjetische Geheimdienst NKWD eingerichtet und dann dem UB übergeben hatte. Oft wurden dafür deutsche KZ übernommen. In den ersten beiden Jahren nach dem Krieg leisteten rund 200.000 Einwohner der Region in derartigen Lagern Zwangsarbeit, keineswegs nur Deutsche, sondern auch Oberschlesier, die sich auf der polnischen Seite gesehen hatten.

Im Arbeitslager Myslowitz kam der polnische Nationalspieler Leonard Malik, der bei Polonia Warschau gespielt hatte, zu Tode. Er war vor dem Krieg als Sympathisant der Sozialisten in Polen inhaftiert worden. Nach dem Krieg galt er als Deutscher, obwohl er nie in einem deutschen Verein gespielt hatte.17 Dies hatte dagegen sein Cousin Richard Malik, der Spielmacher von Beuthen 09, dem vierfachen Südostdeutschen Meister. Er war als erster Oberschlesier in die DFB-Elf berufen worden. Im Januar 1945 fiel er an der Ostfront.

Dem berüchtigten Lager Zgoda in Schwientochlowitz bei Kattowitz entging im letzten Moment der polnische Nationalspieler Ryszard Piec (vormals: Pietz), Bruder von Wilhelm, der nun Jerzy hieß. Er war vom UB als Kollaborateur verhaftet worden. Piec konnte aus dem Transport nach Schwientochlowitz fliehen.18 Die Behörden behelligten ihn später nicht mehr, er durfte bald wieder Fußball spielen, wurde aber im Gegensatz zu seinem Bruder nicht mehr in die Nationalmannschaft berufen. Der Ruch-Torwart Eryk Tatuimage, der wie Peterek und Wodarz beim Bismarckhütter BC (vorher und danach: Ruch Chorzów) gespielt hatte, wurde wegen Kollaboration zu einer Gefängnisstrafe von anderthalb Jahren verurteilt, die aber aber nicht vollständig verbüßte. Er wurde gedrängt, auf seinen germanischen Vornamen zu verzichten, er entschied sich für „Aleksander“.

Ruch Chorzów, in den zwanziger Jahren noch die Mannschaft der nationalpolnischen Aufständischen, bereitete den Ideologiewächtern der Partei in den ersten Nachkriegsjahren wiederholt Probleme. Damit waren nicht die sowjetischen Geschütze gemeint, die monatelang im Ruch-Stadion standen und jeden Spielbetrieb unmöglich machten.19 Vielmehr berichtete das Parteiorgan „Trybuna Robotnicza“ im Oktober 1945, einige Spieler hätten sich bei der Partie gegen Polonia Bytom (Beuthen) auf Deutsch verständigt. Als ein Ruch-Spieler vom Platz gestellt worden sei, hätten die Zuschauer den Platz gestürmt, das Spiel habe abgebrochen werden müssen.

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Ryszard Piec machte Furore im deutschen Pokal und entging knapp einem polnischen Arbeitslager.

„Die bislang durch Kapuzen getarnten Deutschen lassen nun ihre Masken fallen. (…) Für sie darf nie mehr Platz bei uns sein“, hieß es in dem Kommentar dazu. Es müsse Schluss sein mit dem dreisten Auftreten der „Herrenmenschen“. Der Autor empört sich auch darüber, dass Passanten deutschen Kriegsgefangenen, die in Kolonne durch Chorzów marschierten, Zigaretten und Brötchen zugesteckt sowie überdies aufmunternde Worte zugerufen hätten. Die lokale Parteiführung schritt daraufhin zur Tat: Mehrere Vereins- und Verbandsfunktionäre wurden lebenslänglich gesperrt.

Es nützte nichts, dass der Verein erklärte, die Spieler auf dem Platz hätten nicht Deutsch gesprochen, sondern den oberschlesischen westslawischen Regionaldialekt, in dem es viele deutsche Wörter gibt. Die „Trybuna Robotnicza“ schrieb dazu nur: „Wir wollen keine Deutschen im schlesischen Sport.“

Bajonette und Warnschüsse

Die Mehrheit der Polen schaute mit großem Misstrauen nach Oberschlesien, wo nach Meinung der Warschauer und Krakauer Presse ein Großteil der Bevölkerung Deutsche waren oder mit den Deutschen kollaboriert hatte. Diese Stimmung bekamen die oberschlesischen Fußballclubs noch lange zu spüren. Vor allem die Spieler von AKS Chorzów, die im ersten Jahr nach dem Krieg oberschlesischer Meister wurden, beklagten sich über Benachteiligungen und Übergriffe. Aus polnischer Sicht war dies nämlich der Club, der sich mit seinem vorherigen Namen Germania Königshütte zum Deutschtum bekannt hatte.

Bei einem Spiel bei Warta Posen wurde der AKS-Stürmer Leonard Piimagetek (bisher: Piontek), in den dreißiger Jahren einer der wichtigsten polnischen Nationalspieler, von Zuschauern zusammengeschlagen. Einem weiteren Spieler wurde ein Zahn ausgeschlagen, ein dritter krankenhausreif geprügelt. Vor einem Spiel von AKS gegen Polonia Bytom nahmen UB-Agenten den Torwart unter einem Vorwand fest und ließen ihn mehrere Dutzend Kilometer vom Spielort wieder frei, so dass er nicht rechtzeitig zum Spiel kam. Zweimal ging die hölzerne Tribüne von AKS in Flammen auf, ohne dass Täter ermittelt wurden. Dennoch wurde AKS 1946 und 1947 jeweils Dritter bei den polnischen Meisterschaften.20

Angesichts dieser offenkundigen Schikanen verließen Schlüsselspieler den Verein, darunter Leonard Piimagetek und Wilhelm (nun: Jerzy) Piec. Damit aber waren die Probleme des AKS Chorzów noch nicht erledigt: Am 29. September 1947 kam es zu schweren Ausschreitungen beim Spiel in der Industriestadt Sosnowiec, das über den Aufstieg in die oberste Liga entscheiden sollte. Als die Gäste mit 3:2 in Führung gingen, stürmten die Fans der Heimmannschaft das Spielfeld, es kam zu einer Massenschlägerei. Schließlich marschierten 20 Uniformierte auf, setzten Bajonette auf und gaben Warnschüsse ab. Die Feuerwehr, die schon zuvor aufgefahren war, weil man offenbar mit Spannungen zwischen den einheimischen Polen und den Oberschlesiern gerechnet hatte, richtete ihre schweren Schläuche auf die Menge. Im Gedränge kamen mehrere Menschen zu Tode, ihre Zahl gaben die Behörden allerdings nie bekannt; mehrere Dutzend wurden verletzt. Einige der Spieler von Sosnowiec bewiesen schließlich Mut, sie schirmten die Mannschaft des AKS ab und führten sie aus der Gefahrenzone.

Vertreter des einheimischen Clubs beschwerten sich, einige Spieler und Zuschauer aus Chorzów hätten Deutsch geredet. Um die Wogen zu glätten, ordnete der PZPN einen Monat später ein „Versöhnungsspiel“ an. Doch fand es unter strenger Bewachung vor nahezu leeren Rängen statt, aus Chorzów waren nämlich keine Zuschauer gekommen. Die Geheimpolizei UB hatte schon während der Schlägerei zahlreiche Zuschauer festgenommen, einige von ihnen wurden zu einer Gefängnisstrafe von einem Jahr verurteilt.21

Die Parteiführung ging nun entschlossen gegen die Reste des „Deutschtums“ beim AKS Chorzów vor. Der Club wurde gezielt von Schiedsrichtern benachteiligt, weitere Spieler wanderten ab. Er verlor an Bedeutung und stieg mehrere Male ab. Im Zuge der Vergabe „sozialistischer Namen“ wurde er 1949 in „Budowlani“ (Bauarbeiter) umbenannt.

WM-Jubel für die falsche Seite

Im folgenden Jahr glaubte die Partei, das „deutsche Problem“ in Oberschlesien nach all den Zwangsmaßnahmen endgültig gelöst zu haben. Alle zurückgebliebenen Reichsbürger, die bisher noch nicht als Polen „verifiziert“ und denen somit elementare Rechte vorenthalten worden waren, bekamen 1950 kollektiv die polnische Staatsbürgerschaft verliehen.

Die kommunistische Führung verfehlte allerdings bei Weitem das Ziel, die deutsche Sprache in Oberschlesien zu liquidieren. 1952, auf dem Höhepunkt der Repressionen während der Stalinzeit, gaben bei einer Befragung, deren Ergebnisse allerdings nie veröffentlicht wurden, allein in Kattowitz rund 13000 Einwohner als Nationalität „deutsch“ an. Die Parteiführung stufte sie als „feindliche Elemente“ ein.22 Der Tod Stalins am 5. März 1953 bedeutete eine weitere innenpolitische Verhärtung, das Regime wollte damit Unruhen vorbeugen. Zu Ehren des verstorbenen Kremlchefs wurden die Stadt und die Woiwodschaft Kattowitz in Stalinogród umbenannt.

Die Fußballweltmeisterschaft im folgenden Jahr in der Schweiz sollte der Parteipropaganda zufolge die Überlegenheit des sozialistischen Systems beweisen und somit den Lehren Stalins in aller Welt Geltung verschaffen. Ihren Optimismus leiteten die Parteistrategen aus den Erfolgen der ungarischen Nationalmannschaft ab, die seit Mai 1950 ungeschlagen war.

Nach Beginn der WM bejubelte das Parteiorgan „Trybuna Ludu“ die Erfolge der Ungarn, besonders den 8:3-Sieg über die DFB-Elf im Gruppenspiel. In Oberschlesien aber stand ein Großteil der Bevölkerung auf Seiten der Deutschen, wie die Partei beunruhigt in Geheimdossiers festhielt. Besonders gespannt war man in der Region darauf, wie sich die beiden Oberschlesier in der Mannschaft Herbergers schlugen: Fritz Laband vom Hamburger SV und Richard Hermann vom FSV Frankfurt.

Laband stammte aus Hindenburg/Zabrze, das vor dem Krieg zum Deutschen Reich gehört hatte. Seine Familie wurde von dort 1945 vertrieben. Im Frühjahr 1954 lud ihn Sepp Herberger als einen der Leistungsträger des HSV erstmals zu einem Länderspiel ein, sein Foto zierte daraufhin die Titelseite des „Kickers“. Die Ausgabe gelangte auch nach Oberschlesien und ging dort nach Berichten von Zeitzeugen wie eine Ikone von Hand zu Hand.23 Während der WM gehörte er bis zum Viertelfinale gegen Jugoslawien zur ersten Besetzung. Herrmann, ein Zögling des 1. FC Kattowitz, der nach seiner kurzen Kriegsgefangenschaft bei den Briten in den Westzonen geblieben war, kam dagegen nur einmal zum Einsatz, ausgerechnet beim 3:8 gegen Ungarn.

Wegen dieses hohen Sieges galten die Ungarn für das Finale als klare Favoriten. Die Parteiführung in Warschau hatte deshalb keine Bedenken, das Spiel direkt nicht nur im Radio, sondern auch über Lautsprecher auf öffentlichen Plätzen übertragen zu lassen. Auf dem Stalinogróder Markt versammelten sich Tausende. Schnell war dabei offensichtlich, dass das Publikum keineswegs, wie die Partei es erwartet hatte, die Militärkicker aus dem sozialistischen Ungarn unterstützte. Vielmehr bejubelte nur ein Teil die rasche Führung der Ungarn zum 2:0. Die anderen reagierten dagegen bei den anschließenden drei Toren der Deutschen überschwänglich.24

Nach dem Schlusspfiff flossen in der Kattowitzer Bar „Karolinka“ „Bier und Wein in Strömen“, wie Edward Herman, der Neffe des deutschen Nationalspielers, später berichtete. „Das ganze Viertel war verrückt vor Freude.“25

Der UB verzeichnete in den Wochen nach der WM verstärkt „revisionistische Aktivitäten“ in der Woiwodschaft Stalinogród: „Viele Einheimische, die sich zuvor um die polnische Staatsbürgerschaft bemüht hatten, demonstrierten nun wieder offen ihre deutsche Volkszugehörigkeit.“ Viele Jugendliche redeten sogar in der Schule untereinander deutsch, viele Erwachsene sängen deutsche Lieder „revisionistischen Inhalts“.26 Die polnischen Stalinisten nahmen sich die Region noch stärker als bisher vor, sie begannen in den eigenen Reihen. So wurde ein kleiner Lokalfunktionär aus der Partei ausgeschlossen, nachdem bei ihm zu Hause zufällig ein Foto der deutschen WM-Elf entdeckt worden war.27

Erst mit dem kurzen Tauwetter nach der Ablösung der polnischen Stalinisten im Herbst 1956 ließ der Druck vorübergehend nach. Stalinogród bekam seinen alten Namen Katowice zurück, die Traditionsclubs durften ihre „sozialistischen“ Namen ablegen. Die neue Parteiführung in Warschau beschloss ein weiteres Mal, das „deutsche Problem“ für alle Zeiten zu lösen: Sie ließ mehrere Zehntausend Oberschlesier in die Bundesrepublik oder die DDR ausreisen. Zu dieser ersten Welle von Spätaussiedlern gehörte der frühere Nationaltorwart Eryk/Erich Tatus, der zwei Jahrzehnte zuvor der letzte Mann der Meistermannschaft von Ruch Chorzów um Willimowski gewesen war. Er ließ sich in Wuppertal nieder.