KAPITEL 9
Sozialistische Völkerfreundschaft
Leipzig, 18. April 1979. Am Ende der Halbzeitpause im EM-Qualifikationsspiel gegen die DDR überfiel den polnischen Abwehrrecken Stefan Majewski ein plötzliches Unwohlsein: Druck auf den Magen, Schwindelgefühle. Auch anderen Akteuren der polnischen Elf erging es so, darunter Grzegorz Lato. „Wir fanden kaum den Weg von den Kabinen durch den Tunnel zum Spielfeld zurück“, erinnerte sich Majewski. Einige seiner Mitspieler hätten hinterher berichtet, sie hätten das Gefühl gehabt, betrunken über den Platz zu torkeln und jegliches Gefühl für die Geschwindigkeit des Balls verloren zu haben.1
Jedenfalls unterlagen die Polen der DDR mit 1:2, nachdem sie die ganze erste Halbzeit deutlich überlegen gewesen waren und zur Pause durch ein Tor von Zbigniew Boniek geführt hatten. Im polnischen Trainerstab vermutete man nach der Untersuchung der Spieler, dass sie in der Halbzeitpause mit dem Mineralwasser Stoffe aufgenommen hätten, die für deren körperliche Reaktionen verantwortlich seien. Die Getränke hatten die Platzherren vom DDR-Fußballverband DFV zur Verfügung gestellt.
Der Verdacht der Polen, die Partie habe mit Hilfe von Pülverchen und Tropfen manipuliert werden sollen, erhärtete sich noch, als die DDR-Delegation zum Rückspiel nach Chorzów mit einem eigenen Getränkevorrat anreiste. Auch wurden DDR-Offizielle beobachtet, wie sie ihrerseits Proben aus den Getränken und dem Essen nahmen, die ihnen die Polen anboten.
Den Schwächesymptomen einiger polnischen Spieler wäre in Warschau sicherlich nicht diese Bedeutung beigemessen worden, wenn es das erste Mal gewesen wäre. Doch schon vier Jahre zuvor, bei einem Länderspiel in Halle, hatten polnische Spieler in der zweiten Halbzeit über Brechreiz und Durchfall geklagt.2
Im PZPN beschloss man nach den Erfahrungen während der EM-Qualifikation, bei Spielen gegen die DDR besonders auf der Hut zu sein. Nun nahmen auch die Polen stets eigene Vorräte mit; die Spieler wurden angewiesen, sogar zum Zähneputzen das mitgebrachte Mineralwasser zu benutzen.3
Bei den polnischen Sportlern verfestigte sich die Überzeugung, die DDR kämpfe mit unfairen Mitteln. Längst hatten in Polen Gerüchte vom DDR-Doping in der Leichtathletik, beim Schwimmen und in vielen anderen Sportarten die Runde gemacht. Offiziell angesprochen wurde das heikle Thema allerdings nicht, es blieb auch für die Presse tabu. Grzegorz Lato sagte dazu im Rückblick: „Für uns stand fest, wir spielten viel lieber gegen die Westdeutschen, obwohl wir gegen sie nie gewinnen konnten.“4
Über die Friedensgrenze nach Stalinogród
Dabei beschworen die Regierungen in Warschau und Ost-Berlin ebenso wie der PZPN und der DFV bei jeder Gelegenheit die „sozialistische Völkerfreundschaft“. 1950 hatte die DDR-Führung im Görlitzer Vertrag den endgültigen Verlust der deutschen Ostgebiete und somit die Oder-Neiße-Linie als polnische Westgrenze anerkannt, sie hieß von nun an offiziell „Friedensgrenze“.
Die Freundschaft zwischen dem „Ersten Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem Boden“ und der Volksrepublik Polen sollten auch zahlreiche Sportwettkämpfe stärken. Am 21. September 1952 kam die DDR-Auswahl zu ihrem allerersten Länderspiel nach Warschau und verlor 0:3. Im Tor der DDR-Mannschaft stand Wolfgang Klank, der nach der Niederschlagung des Aufstandes vom 17. Juni 1953 in den Westen ging, dann aber nach einer Amnestie zurückkehrte und straffrei blieb. Im Mittelfeld spielte Heinz Fröhlich, der später eine Parteikarriere machte und SED-Chef von Leipzig wurde. Mit von der Partie war auch der Stürmer Günter Schröter von Dynamo Dresden, der als Kriegsgefangener fast vier Jahre in einem polnischen Arbeitslager in Oberschlesien verbracht hatte.
Auch die nächste Begegnung beider Mannschaften in Rostock am 26. September 1954 gewannen die Polen, das einzige Tor des Tages schoss der Oberschlesier Gerard Cielik, der als Soldat der Wehrmacht nach dem Krieg in einem sowjetischen Lager auf dem Gebiet der späteren DDR interniert war.
Zwei Jahre später reiste die DDR-Auswahl erstmals nach Oberschlesien, zur Eröffnung des Schlesischen Stadions nach Chorzów. Damit wollten auch die Politiker beider Seiten unterstreichen, dass die Region um Stalinogród, wie Kattowitz damals offiziell hieß, endgültig zu Polen gehört. Die Presse hatte in den Tagen zuvor angekündigt, dass der Schütze des ersten Tores in dem neuen Stadion einen Pokal erhalten werde. Doch der erste Treffer in der Partie am 22. Juli 1956 war ein Eigentor des polnischen Verteidigers Jerzy Woniak. Der Pokal wurde nicht vergeben, die Presse erwähnte das Thema nicht mehr.5 Die DDR gewann vor rund 100.000 Zuschauern 2:0, ihr erster Sieg über Polen.
Woniak stand auch in der polnischen Elf, die zwei Jahre später, wiederum in Rostock, ein 1:1 erreichte. In ihr debütierte der deutschstämmige Engelbert Jarek, der „Bomber“ von Odra Oppeln. Nach dem Ende seiner aktiven Karriere siedelte er in die Bundesrepublik über.
Die nächste Begegnung zwischen Polen und der DDR am 22. Oktober 1961 entschied der ebenfalls aus Oberschlesien stammende Torjäger Ernest Pol, er erzielte zwei Treffer beim polnischen 3:1-Sieg. Die Partie fand in Breslau (Wrocław) statt. Die Zeitungen beider Länder vermieden den Hinweis darauf, dass dort bereits 26 Jahre zuvor ein deutsch-polnisches Länderspiel stattgefunden hatte. Denn damals war Breslau noch deutsch gewesen, was im Ostblock ein Tabu war.
Die Wahl des Spielortes Breslau war eine politische Botschaft.
Nach dem Sieg von Breslau wussten die Polen, wo sie sich sportlich zwischen den beiden deutschen Auswahlmannschaften verorten konnten. Denn genau zwei Wochen zuvor war die DFB-Elf nach Warschau gekommen und hatte mühelos 2:0 gesiegt. Polnischer Kapitän war Ernest Pol, sein Vorbild war sein Namensvetter Ernst Willimowski, der damals allerdings offiziell nicht erwähnt werden durfte. Nach der Wende von 1989 kehrte er wieder zur ursprünglichen deutschen Schreibweise seines Namens, Ernst Pohl, zurück und zog zu seinen Angehörigen in den Schwarzwald. Heute ist das Stadion seines Clubs Górnik Zabrze nach ihm benannt.
Kaiser Franz und Karl Marx
Die Sportkontakte zwischen der DDR und der Volksrepublik Polen entwickelten sich zunächst weiter störungsfrei, bis 1971 die bundesdeutsche Nationalmannschaft als Störfaktor auftrat: Als diese nämlich am 10. Oktober bei der EM-Qualifikation die Polen in Warschau mit 3:1 besiegte, saßen neben 2.500 eigens angereisten Bundesbürgern auch rund 6.000 Fans aus der DDR im Stadion und jubelten dem doppelten Torschützen Gerd Müller zu.
Im Zentralkomitee der SED hatte man durchaus damit gerechnet, dass einzelne DDR-Bürger nach Warschau zu dem Spiel fahren wollten, aber nicht diesen Massenansturm erwartet. Deshalb waren nur 14 Stasi-Offiziere zur Beobachtung nach Warschau abgeordnet worden.6 Einige von ihnen postierten sich am Tag vor dem Spiel vor und in dem Hotel „Europejski“, in dem die DFB-Elf Quartier bezogen hatte. Denn dort warteten auch zahlreiche Fans aus der DDR.
Als sich Helmut Schön in der Lobby zeigte, wurde er sogleich von einer Gruppe von ihnen umringt, die sich als Landsleute aus Dresden vorstellten. Die Stasi vermerkte, dass Schön „die Lebensverhältnisse in Westdeutschland idealisiert“ und außerdem Eintrittskarten für das Länderspiel am folgenden Tag verteilt habe. Schön hatte sich selbst 1950 mit einem Teil der Spieler seines damaligen Clubs, des Dresdner SC, aus der DDR abgesetzt, nachdem dieser aus offenkundig politischen Gründen bei einem wichtigen Meisterschaftsspiel vom Schiedsrichter benachteiligt worden war.
Im Warschauer Stadion begannen die Stasi-Offiziere mit Unterstützung des polnischen SB (Słuba Bezpiecze
stwa – Sicherheitsdienst) mit der Überprüfung der Zuschauer in dem für die Deutschen vorbehaltenen Block sowie Deutsch sprechender Fans in anderen Abschnitten. Sie erfassten namentlich 1.303 DDR-Bürger. Penibel notierten sie, dass einige ihrer Landsleute im Stadion Spruchbänder hissten. Auf einem hieß es: „Leipzig grüßt Kaiser Franz u. Co.“7 Zur Erläuterung für die vorgesetzte Dienststelle wurde in dem Stasi-Bericht hinzugefügt, dass damit der „BRD-Spieler Franz Beckenbauer“ gemeint sei. Ohne Kommentar ließen sie dagegen „Chemnitz grüßt die deutsche 11“. Der Satz allein musste schon als politische Provokation gelten, denn die sächsische Großstadt hieß ja seit 1953 offiziell „Karl-Marx-Stadt“. Auch hätten DDR-Bürger in den Sprechchor des Klassenfeindes eingestimmt: „Deutschland, zeig’s den Polen – wir wollen den Sieg uns holen!“
Weiter hieß es in einem der Berichte, Einwohner der DDR hätten sich „demonstrativ den westdeutschen Bürgern auf dem Weg ins Stadion angeschlossen und Plätze im Block für die BRD-Bürger eingenommen“. Nach dem Schlusspfiff sei es dort zu Verbrüderungsszenen gekommen.
Das Zentralkomitee der SED nahm die Berichte aus Warschau so ernst, dass eine Aussprache darüber auf die Tagesordnung der nächsten Sitzung kam.8 Dabei wurden die Bezirks- und Kreisleitungen aufgefordert, Maßnahmen gegen 204 Personen, darunter 83 SED-Mitglieder, zu ergreifen, die Sympathien für die bundesdeutsche Mannschaft gezeigt hätten, sowie gegen weitere Parteigenossen, die gegen das „politisch schädliche Verhalten“ der anderen nicht eingeschritten seien. Im ZK kam auch zur Sprache, dass die nach Warschau gereisten DDR-Bürger durchweg falsche Ziele bei dem Antrag für das Reisevisum angegeben hätten, darunter eine Hundeschau in Posen sowie die Gedenkstätte Auschwitz.
Dem Protokoll der ZK-Sitzung zufolge bereitete es der SED-Spitze ganz offensichtlich Sorgen, dass in Warschau DDR-Bürger dazu beigetragen hätten, den polnischen Zuschauern ein „gesamtdeutsches Auftreten“ zu demonstrieren. In der Tat schenkte auch die polnische Führung der Verbrüderung von Fußballfans aus beiden Teilen Deutschlands große Aufmerksamkeit, wie der „Spiegel“ unter Berufung auf politische Kreise in Warschau berichtete. An der Weichsel seien sogar Befürchtungen aufgekommen, „die beiden deutschen Staaten könnten sich, von Moskau begünstigt, einander nähern, und Polen würde zwischen die Interessen der Sowjetunion und eines wiedervereinigten Deutschlands geraten.“ Die Armee-Zeitung „ołnierz Wolno
ci“ malte das Schreckensbild eines kapitalistischen deutschen Staates, der bis an Oder und Neiße reiche.9
Deutsche Schlager und polnische Zigaretten
Anfang 1971 führte die DDR den visafreien Reiseverkehr von und nach Polen sowie in die Tschechoslowakei ein. Angesichts der Erfahrungen mit dem Warschauer Länderspiel baute die Stasi in Absprache mit dem SB große Außenvertretungen in Warschau, Danzig, Breslau und Stettin auf.
Unter strenger Beobachtung der Stasi standen auch die polnischen Fußballspieler, die in die DDR kamen. So führte Odra Oppeln, einer der führende Vereine Oberschlesiens, regelmäßig Trainingslager in einer Sportschule in der DDR durch. Zu den Teilnehmern gehörte Josef Klose, der Vater Miroslavs.
Der polnische Nationalspieler Engelbert Jarek, der wie Klose aus einer deutschen Familie in Oberschlesien stammt, berichtete, DDR-Offizielle seien völlig verwundert gewesen, dass einige der Odra-Spieler Deutsch wie Deutsche redeten. Beim Bankett nach einem Spiel gegen eine DDR-Mannschaft hätten einige seiner Klubkameraden alte deutsche Schlager angestimmt. Doch die DDR-Spieler und -Trainer seien so verunsichert gewesen, dass sie nicht mitgesungen hätten. Nach offizieller Lesart gab es in der Volksrepublik Polen keine Deutschen, das Thema ehemalige deutsche Ostgebiete war in der DDR tabu.
Laut Jarek handelten einige seiner Mitspieler in der DDR mit polnischen Zigaretten. Für den schwarzen Markt in Polen hätten sie Musikinstrumente gekauft, die eigentlich nicht ausgeführt werden durften.10
Polnische Fußballmannschaften, aber auch Offizielle des PZPN wurden bei der Ausreise aus der DDR besonders scharf kontrolliert, obwohl beide Staaten offiziell befreundet und verbündet waren. Die Kontrollen waren besonders am deutsch-deutschen Grenzübergang Helmstedt oft mit Schikanen verbunden.11 Die Polen erfreuten sich unter allen Ostblock-Staaten Mitte der siebziger Jahre der größten Reisefreiheit, was ihnen von ihren Nachbarn geneidet wurde.
Auch die polnischen Fußballclubs reisten damals immer häufiger ins westliche Ausland, was für die DDR-Vereine gänzlich undenkbar war. Die Polen sahen sich mit ihren WM-Stars Jan Tomaszewski, Grzegorz Lato und Andrzej Szarmach aufgrund ihrer internationalen Erfolge in der Rolle des klaren Favoriten, als sie im Olympiafinale von Montreal 1976 auf die DDR stießen. Doch sie hatten ihre Gegner sträflich unterschätzt, schon nach 14 Minuten hatte die DDR zwei Treffer erzielt, sie gewann schließlich 3:1. Es schmerzte viele Polen sehr, zwei Jahre nach der Wasserschlacht von Frankfurt ein weiteres prestigeträchtiges Spiel gegen den noch weniger geliebten zweiten deutschen Staat verloren zu haben.
Virus der Konterrevolution
Zunehmend trübten sich die politischen Beziehungen zwischen Warschau und Ost-Berlin ein, seitdem die DDR-Führung sich offen auf die preußischen Traditionen berief. Dazu gehörte der Stechschritt für die Nationale Volksarmee sowie die Wiedererrichtung eines Reiterstandbildes Friedrich des Großen Unter den Linden in Ost-Berlin. Der Preußenkönig war die treibende Kraft bei den Teilungen Polens im 18. Jahrhundert gewesen. Die DDR-Bürger, die in den Augen der Polen besonders staatstreu und obrigkeitshörig waren, wurden nun im polnischen Volksmund „rote Preußen“ genannt. Umgekehrt machten sich Polen durch Einkaufsfahrten, bei denen sie vor allem größere Posten von Defizitwaren erstanden, in die DDR unbeliebt.
Als im Sommer 1980 die Gewerkschaft „Solidarität“ mit einer Streikwelle die Wirtschaft Polens weitgehend lähmte, bemühte die von der Zensur kontrollierte DDR-Presse die alten preußischen Klischees von der „polnischen Wirtschaft“, vom faulen, liederlichen Polen, der seinen Staat nicht organisieren könne. In Polen habe sich der „Virus der Konterrevolution“ verbreitet, schrieb das Parteiorgan „Neues Deutschland“. DDR-Staats- und Parteichef Erich Honecker sah darin eine Bedrohung für seine Herrschaft. Also ließ er den Reiseverkehr nach Osten fast völlig unterbinden. Im Sommer 1981 gab es somit weder in Masuren, noch im Riesengebirge Touristen aus der DDR, die in den Jahren zuvor noch zu Zehntausenden gekommen waren.
In diesem angespannten politischen Klima trafen die Nationalmannschaften Polens und der DDR erneut bei den Qualifikationsspielen zur WM 1982 in Spanien aufeinander. Allerdings konnte die DDR-Auswahl nicht in stärkster Besetzung antreten. Die Stasi hatte nämlich wenige Wochen zuvor drei wichtige Spieler verhaftet: Angeblich hatte Gerd Weber von Dynamo Dresden, der bereits 35-mal für die DDR aufgelaufen war, sich bei einer Südamerika-Tournee seines Clubs absetzen wollen. Ihm soll der 1. FC Köln über einen Mittelsmann einen Vertrag angeboten haben. Seine Clubkameraden Peter Kotte und Matthias Müller sollen davon gewusst haben.12
Weber wurde als Hauptverdächtiger zu einer Haftstrafe von zwei Jahren und drei Monaten wegen „landesverräterischer Agententätigkeit und versuchter Republikflucht“ verurteilt. Müller und Kotte wurden zur Nationalen Volksarmee eingezogen und außerdem in Mannschaften unterer Spielklassen versetzt.
Erst nach der Wende von 1989 wurde bekannt, dass Weber mehrere Jahre selbst als Informeller Mitarbeiter der Stasi Mannschaftskameraden bespitzelt hatte, unter anderem bei der Olympiade in Montreal. Doch 1979 geriet er in Verdacht, von der Flucht des Dynamo-Stürmers Lutz Eigendorf in die Bundesrepublik gewusst zu haben. Eigendorf, der mittlerweile für Eintracht Braunschweig stürmte, kam 1983 bei einem Verkehrsunfall ums Leben. Zahlreiche Indizien sprechen dafür, dass es sich dabei um einen getarnten Mordanschlag der Stasi handelte. Weber verbüßte elf Monate seiner Haftstrafe in Bautzen. Da er lebenslang gesperrt war, arbeitete er anschließend in einer Autowerkstatt. Vier Monate vor dem Fall der Berliner Mauer gelang ihm mit seiner Familie über Ungarn die Flucht in die Bundesrepublik. Er ließ sich in Bayern nieder.
Die Verhaftung der drei Dynamo-Spieler wirkte sich 1981 auch auf das Klima in der DDR-Auswahl vor den beiden Spielen gegen Polen aus. Das Hinspiel fand wieder in Chorzów statt, das Schlesische Stadion war mit 80.000 Zuschauern bis auf den letzten Platz besetzt. Allerdings waren nur ganz wenige Fans aus der DDR angereist, es handelte sich durchweg um Parteifunktionäre und Jungkommunisten. Das gewöhnliche Volk durfte wegen des „polnischen Virus“ nicht in das Nachbarland reisen.
Kein weiß-roter Jubel im Fernsehen
Die beiden Mannschaften kämpften verbissen und mit großer Härte gegeneinander. Auf polnischer Seite waren noch drei Stars der WM-Elf von 1974 dabei: Tomaszewski, Lato und Szarmach. Das einzige Tor erzielte der Gleiwitzer Mittelfeldspieler Andrzej Buncol per Kopfball; sechs Jahre später bekam er einen bundesdeutschen Pass und spielte in der Bundesliga.
Das Rückspiel im Leipziger Zentralstadion musste die DDR hoch gewinnen, um sich für die WM zu qualifizieren. Unter den rund 80.000 Zuschauern, die von den Parteiorganisationen sorgfältig ausgewählt worden waren, verloren sich gerade einmal 3.000 polnische Fans. Es handelte sich überwiegend um Studenten und Montagearbeiter, die vorübergehend in der DDR lebten. Dagegen erreichten mehrere Zehntausend Fans aus Polen Leipzig erst gar nicht: Sie wurden an der „Friedensgrenze“ von DDR-Grenzern und Zöllnern so lange kontrolliert, dass sie keine Chance mehr hatten, rechtzeitig zu dem Spiel einzutreffen.13
Die DDR-Spieler waren übernervös, sie waren vor dem Anpfiff von DFV-Funktionären über die Bedeutung der Partie für die Verteidigung der Errungenschaften des Sozialismus belehrt worden. Besonders unsicher spielte die Abwehr – zum Entsetzen der Zuschauer führten die Polen nach fünf Minuten bereits 2:0. Torschützen waren der für seine Nervenstärke bekannte Andrzej Szarmach und der antrittsschnelle Włodzimierz Smolarek, der ebenfalls wenige Jahre später in der Bundesliga spielte. Zwar erkämpfte sich die DDR den Ausgleich und drängte die Polen in der zweiten Halbzeit in die Defensive. Doch ein Konter Smolareks sorgte für den 3:2-Endstand.
Polen war somit qualifiziert, der DDR blieb das WM-Ticket hingegen erneut verwehrt. Das DDR-Fernsehen beendete unmittelbar nach dem Schlusspfiff die Übertragung, um nicht den Jubel der polnischen Spieler und Fans zu zeigen, die ihre mitgebrachten weiß-roten Fahnen schwenkten.
Der polnische Trainer Antoni Piechniczek berichtete später von politischen Reibereien hinter den Kulissen: „Wir fürchteten, dass die Deutschen uns irgendetwas ins Essen tun könnten, und nahmen deshalb unseren eigenen Koch mit. Die DDR-Regierung schickte in der Angelegenheit eine Protestnote an unser Außenministerium, in der sie sich über das polnische Misstrauen beklagte.“14
Zwei Monate nach diesem Spiel, am 13. Dezember 1981, verhängte der polnische Partei-, Regierungs- und Armeechef, General Wojciech Jaruzelski, das Kriegsrecht über das Land. Jaruzelski wollte mit dem Kriegsrecht die Demokratiebewegung um die Gewerkschaft Solidarno zerschlagen. Rund 13.000 Oppositionelle kamen in Haft. Der SB verübte mehrere Dutzend politische Morde. Es war eine Zeit der krassen Behördenwillkür und der großen materiellen Not, die vier Millionen Hilfspakete aus der Bundesrepublik kaum lindern konnten.
Provokation vor der Eckfahne
Die polnische Nationalmannschaft um Spielmacher Zbigniew Boniek konnte wegen der Reisebeschränkungen unter dem Kriegsrecht keine Länderspiele zur Vorbereitung auf die WM austragen. Also fuhr die Mannschaft ohne Spielpraxis nach Spanien. Dennoch schaffte sie es ohne Niederlage in die Zwischenrunde, wo sie ausgerechnet gegen die Sowjetunion um den Einzug ins Halbfinale spielen musste.
Jeder Spieler wusste, was die Partie für ihre Landsleute bedeutete: ein „Spiel gegen die Besatzer“, wie es eine Untergrundzeitschrift formulierte. Denn im Lande stand eine halbe Million Sowjetsoldaten, auf die sich der Kriegsrechtsgeneral Jaruzelski stützte. Doch auch die Vertreter des Regimes hofften, die Weiß-Roten würden die sowjetische Auswahl aus dem Turnier werfen. Jaruzelski würde die Mannschaft beglückwünschen, dies würde dazu beitragen, ihn vom Odium des „Kremlknechtes“ zu befreien. Aus der PZPN-Zentrale ging ein Telegramm
Włodzimierz Smolarek überlief in Leipzig immer wieder die DDR-Abwehr.
an die Mannschaft ein, mit der dreifachen Aufforderung: „Ihr müsst es schaffen!“15
Den Polen genügte ein Unentschieden. Beide Mannschaften spielten hart und nervös. Immer wieder trieb der sowjetische Stürmer Oleg Blochin seine Mannen nach vorn, doch die polnische Abwehr um den kopfballstarken Stefan Majewski war nicht zu knacken. In der Schlussphase ersann Smolarek eine neue Methode, auf Zeit zu spielen, und brachte die sowjetischen Spieler damit zur Weißglut: Er dribbelte mit dem Rücken zum Spielfeld vor den Eckfahnen der gegnerischen Hälfte. Wenn ihm ein Verteidiger den Ball vom Fuß spitzelte, gab es Ecke oder Einwurf für Polen.
Die Partie endete 0:0 – die UdSSR war ausgeschieden. Das in ganz Polen als Sieg gefeierte Unentschieden gab auch der Solidarno im Untergrund Auftrieb, denn auf der Tribüne in Barcelona waren riesige Spruchbänder mit dem berühmten roten Logo der von Jaruzelski verbotenen Demokratiebewegung ausgerollt worden – und auch im polnischen Fernsehen zu sehen. Das Spiel gilt noch heute vielen Polen als ein Kapitel im gewaltlosen Untergrundkampf gegen die sowjetischen Besatzer.
Polen verlor zwar das Halbfinale gegen den späteren Weltmeister Italien, gewann aber das „kleine Finale“ gegen Frankreich und erreichte somit zum zweiten Mal nach 1974 den dritten Platz bei einer WM. Als die Mannschaft zurückkehrte, warteten Zehntausende auf dem Warschauer Flughafen.
Für die Opposition im Untergrund war die WM 1982 ein doppelter politischer Erfolg: Der Eliminierung der UdSSR durch Polen waren die Siege über die DDR vorausgegangen. Dass sich die DDR-Führung für ein besonders hartes Vorgehen gegen die polnische Demokratiebewegung ausgesprochen hatte, war im Land wohlbekannt.
Übrig geblieben ist von all den Reibereien zwischen den Auswahlmannschaften beider „sozialistischer Bruderstaaten“ nur die durchwachsene Statistik: In neun der 19 Länderspielen siegte Polen, sechs Mal gewann die DDR, die aber beim Torverhältnis mit 27:26 die Nase vorne hatte.