Brennnesselfalter – eine aufschlussreiche Gemeinschaft
Pfauenauge, Kleiner Fuchs, Admiral und die Kohlweißlinge sind unsere bekanntesten Tagfalter. Pfauenaugen und Kohlweißlinge kennt praktisch jeder. Aber warum sind sie so bekannt? Der Schönheit allein wegen gewiss nicht, auch wenn das Pfauenauge ein eindrucksvoller Schmetterling ist. Die Kohlweißlinge würde man unter die besonders Schönen ohnehin nicht einreihen. Der Grund für ihre Bekanntheit ist so einfach wie bedeutungsvoll. Wir Menschen haben sie so häufig gemacht. Sie sind, um es positiv auszudrücken, typische Kulturfolger. Die Kohlweißlinge gelten als Schädlinge, wenn ihre Raupen in den Gärten oder auf den Feldern Kraut und Kohlsorten kurz und klein fressen. Mit deren Anbau ist diesen auf Pflanzen der großen Familie der Kohlgewächse spezialisierten Schmetterlingen ein üppiges Nahrungsangebot bereitet worden. Die Kohlweißlinge waren früher, was in unserer Zeit der Maiszünsler Ostrinia nubilalis wäre, würden ihn nicht hochgradig wirksame Insektizide davon abhalten, die zweieinhalb Millionen Hektar Maisfläche in Deutschland Sommer für Sommer ratzekahl zu fressen. Pfauenauge, Kleiner Fuchs und Admiral hingegen profitieren von ganz anderen Pflanzen, die unbeabsichtigt von den Menschen, insbesondere von der landwirtschaftlichen Düngung, gefördert worden sind, den Brennnesseln. Zusammen mit weiteren weniger bekannten Schmetterlingsarten bilden sie die ökologische Gruppe der Brennnesselfalter.
Tagpfauenauge, bekannt, häufig, prächtig, aber auch voller Rätsel
Brennnesseln, Anzeiger von Überdüngung
Betrachten wir das Leben dieser Falter näher, fällt es leicht, einige der ganz großen Veränderungen der letzten Jahrzehnte in unserer Natur zu verstehen. Das Stichwort hierzu lautet Überdüngung. Die Leitpflanze ist die Brennnessel; genauer, es sind die beiden Arten von Brennnesseln, die es bei uns gibt, die Große Urtica dioica und die Kleine Urtica urens. Bei der Großen Brennnessel drückt der wissenschaftliche Artname einen wichtigen Unterschied zur Kleinen aus: dioica meint »zweihäusig«. Dies bedeutet, dass es voneinander getrennt weibliche und männliche Pflanzen dieser Brennnesselart gibt. Urens als Artbezeichnung für die Kleine heißt die Brennende, weil sie noch stärker als die Große nesselt. Bei ihr entwickeln sich die weiblichen und die männlichen Blüten auf ein und derselben Pflanze.
Dass diese botanische Besonderheit nicht unbedeutend ist, wird sich noch ergeben. Wichtig ist ein weiterer Unterschied zwischen beiden Nesselarten. Die Große bildet im Boden ein weitverzweigtes Wurzelwerk aus. In diesem werden den Winter über so viele Nährstoffe gespeichert, dass sie im Frühjahr rasch treiben und wachsen kann. Als Pflanze ist die Große »mehrjährig«, die Kleine hingegen einjährig. Sie muss im Frühjahr keimen, im Frühsommer erfolgreich blühen und zum Aussamen kommen, sonst überlebt sie nicht. Folglich ist sie besonders nährstoffbedürftig. Und sie wird, da sie nicht aus einem dauerhaft vorhandenen Wurzelstock treiben und wachsen kann, im Lauf des Sommers bei weitem nicht so hoch wie die Große. Vieles deutet darauf hin, dass die Kleine Brennnessel irgendwann vor Jahrhunderten nach Mitteleuropa gekommen ist und als Pflanze gar nicht zur ursprünglichen Vegetation zählt, sondern zu den »alten Neupflanzen«, zu den Archäophyten gehört. Die Große Brennnessel breitete sich wahrscheinlich schon mit dem Vorrücken der Pflanzenwelt am Ende der letzten Eiszeit ohne Zutun der Menschen aus. Einjährigkeit kann Vergänglichkeit bedeuten, Mehrjährigkeit Beständigkeit. Mitunter lohnt es, die Pflanzen genauer zu betrachten, von denen die Raupen der Schmetterlinge leben. Brennnessel ist nicht gleich Brennnessel, auch wenn wir das Brennen als gleichermaßen unangenehm empfinden.
An Brennnesseln leben weitere Arten von Schmetterlingen, darunter zwei deutlich verschieden aussehende Zünsler, deren Raupen aber grün wie die Nesselblätter sind. Diese rollen sie sich zu Tüten, in denen sie leben. Weil die Blatt-Tüten sehr auffallen, sollen diese Nesselzünsler hier zum Vergleich mit den Tagfaltern herangezogen werden, deren Raupen Brennnesselblätter fressen. Wo sie das tun, bemerkt man es, weil sie sich meist in Klumpen zusammengedrängt halten und zudem mehr oder minder große, vom Raupenkot verschmutzte Gespinste an den Brennnesselstauden bilden. Diese Klumpen sind unnötig, möchte man meinen, denn die Nesseln gibt es häufig in sehr großen Beständen. Voller Saft und Kraft wächst Brennnessel neben Brennnessel, doch die meisten sind nicht befressen. Nur in der direkten Umgebung der Raupenklumpen haben diese ganze Arbeit geleistet und Lücken im Bestand verursacht. Wenn in einem gleichförmig großen Bestand von Pflanzen ein und derselben Art die Raupen so geballt vorkommen, muss dies einen Grund haben. Dass es anders geht, zeigen die eben genannten, zu waagerecht oder leicht nach unten geneigt abstehenden, gerollten Tüten der Brennnesselblätter, die von den Raupen der Nesselzünsler besetzt sind. Da diese nur einige wenige glasig dünne Borsten am Körper tragen, während die Raupen von Tagpfauenaugen, Kleinem Fuchs und Admiral geradezu bizarr stachelig sind, wird deren Klumpung noch merkwürdiger. Die Nesselzünslerraupen haben den Schutz der Blattrolle offenbar nötig. Die Pfauenaugenraupen schützt entsprechend ihr Stachelkleid. Oder doch nicht?
Raupen vom Tagpfauenauge an Brennnessel
Die Raupen all dieser Schmetterlinge müssten eigentlich durch die Brennnesseln umfassend geschützt sein. Deren stilettartige Brennhaare brechen bei leichtester Berührung und injizieren irritierend wirkende Giftstoffe in die Haut der Eindringlinge. Die bedeutendsten davon sind Acetylcholin und Histamine sowie etwas Ameisensäure. Wie sehr Brennnesseln brennen, dürften die allermeisten Menschen aus eigener Erfahrung wissen. Warum die Nesseln so brennen (müssen), ist eine andere, gleichwohl biologisch höchst interessante Frage. Die Antwort darauf, die wir mit großer Sicherheit geben können, trifft den Kern der gegenwärtigen, in ihrer Bedeutung öffentlich längst noch nicht hinreichend erfassten Landwirtschaftskrise.
Brennnesseln sind sehr stickstoffreiche, also höchst nahrhafte Pflanzen, deren Wuchern von der Überdüngung verursacht wird. Es liegt in der Natur der Brennnesseln, dass sie für ihr Wachstum einen hohen Bedarf an Pflanzennährsalzen, insbesondere an mineralischen Stickstoffverbindungen haben. Ursprünglich gediehen sie an jenen Stellen, an denen es im Boden irgendwie zur Anhäufung von Stickstoffverbindungen gekommen war. Das waren Lagerplätze großer Weidetiere, wie Wisente Bison bonasus und Auerochsen Bos primigenius in Wäldern und Flussniederungen. Ihre domestizierten Nachfolger, die Hausrinder, lagerten ebenfalls an halbschattigen, geschützten Waldrändern und in der Nähe von Quellen auf den Almen. Die Ausscheidungen des Viehs, die sich dort ansammelten, düngten die Umgebung der Ruheplätze.
Die Rinder verwerten bekanntlich das Gras und anderes Futter durch Wiederkäuen. Was sie vorher ziemlich schnell in sich hineingefressen haben, würgen sie dabei aus dem Pansen wieder hoch und kauen dieses gründlich durch. Den grünlichen Brei schlucken sie erneut. Er nimmt nun seinen Weg durch das in mehrere Kammern gegliederte System von Mägen. Die Wiederkäuer-Nahrungsverwertung ist sehr effektiv. Unter Mitwirkung von Mikroben werden dabei aus Gras oder Heu letztlich Milch und Fleisch erzeugt. Dass dabei entsprechend große Mengen an Ausscheidungen in Form der breiigen Kuhfladen anfallen, ist gleichfalls bekannt und steigt uns, wenn dieser als Flüssigmist bei Stallhaltung ausgebracht wird, als Güllegestank äußerst unangenehm in die Nase. An den Lagerplätzen im Freien gab es keine Gülle, sondern eine komplexe und kontinuierliche natürliche Aufarbeitung der Kuhfladen durch eine Vielzahl unterschiedlicher Insekten, wie Käfer und Fliegen sowie jede Menge von Mikroben. Ohne Gestank setzten Dungverwerter diese Pflanzennährstoffe frei und düngten damit die Vegetation an diesen Stellen. Die stickstoffbedürftigen Pflanzenarten reagierten darauf mit üppigem Wachstum, allen voran die Brennnesseln und großblättrige Ampferarten, weil beide vom Vieh nicht gefressen werden. Die Botaniker fassten diese Pflanzen unter dem etwas schräg klingenden Begriff der Lägerflora zusammen und meinten damit all jene Pflanzen, welche die Lagerstätten des Viehs umgeben.
Die Viehhaltung begünstigte also seit ihren Anfängen die Brennnesseln. Da in Regionen mit frostigem Winterwetter das Vieh in die Ställe musste und die Schweine ohnehin überwiegend im Stall gehalten wurden, entwickelte sich die Lägerflora auch um die Ställe der Bauernhöfe, insbesondere wo Jauche aus dem Misthaufen floss. Dort wucherten die Brennnesseln. Sie sind, so könnte man sie auch charakterisieren, Jauchepflanzen. Dass diese Einstufung gerechtfertigt ist, lässt sich leicht beweisen. Man muss sie nur etwas zerquetscht in Wasser ansetzen. Nach wenigen Tagen wird die Brühe heftig stinken und dabei ziemlich stark Jauche und Gülle ähneln. Brennnesselbrühe ist als Flüssigdünger bestens geeignet, das Wachstum nährstoffbedürftiger Pflanzen im Garten zu intensivieren. Aus den Brennnesseln wird dabei einfach wieder frei, was sie bei ihrem Wachstum an Stickstoff aufgenommen und zu organischen Verbindungen umgebaut haben. Ganz ähnlich verhält es sich beim Mais. Auch er wächst über alle Maßen schnell, sofern er entsprechend überreich mit Nährsalzen versorgt ist. Dann wird aus einem steinchenkleinen Maiskorn in wenigen Monaten eine bis über drei Meter hohe Staude mit kinderarmdickem Stängel und, so es sich um Körnermais handelt, schweren, goldgelb reifenden Kolben. Auf den Mais komme ich später zurück, denn er nimmt eine Schlüsselposition im Niedergang der Schmetterlinge, der Wildblumen und der Vögel der Fluren ein. Hier geht es darum, den biologischen Grundzusammenhang zwischen den beiden äußerlich so extrem verschiedenen Pflanzen herzustellen. Mais wie Brennnessel sind beide besonders stickstoffbedürftig. Und entsprechend gehaltvoll für Tiere, die von Pflanzen leben. Mais ist (auch) Schweinefutter; Brennnesseln hat man früher viel als Gemüse genutzt und als klein gehacktes Grünfutter den Gänsen und Enten, sogar den Hühnern gegeben. Brennnesselsalat ist gesund. Es müssen bei der Zubereitung nur das Acetylcholin und die Histamine hinreichend »entschärft« werden. Kein Wunder, dass Brennnesseln auch für die Raupen unterschiedlichster Schmetterlinge attraktiv sind.
Kein Kahlfraß an den Brennnesseln
Sehen wir uns nach dieser Abschweifung zu den allgemeinen Zusammenhängen nun die speziellen Verhältnisse bei den Brennnesselfaltern etwas genauer an. Wie schon betont, sollten diese Schmetterlinge außerordentlich häufig sein, weil es doch so viele Brennnesseln gibt. Suchen wir aber die Bestände in Gärten oder Wäldern ab, werden wir feststellen, dass es gar nicht leicht ist, Raupen daran zu finden. Wohl entdecken wir da und dort ein Raupennest, aber nie werden die Brennnesselbestände auf größeren Flächen kahl gefressen. Wehren sie sich mit ihren giftigen Brennhaaren also doch erfolgreich genug gegen Tierfraß? Gegen Rinder, Ziegen oder Schafe ja. Die meiden die Brennnesseln. Auch Reh und Hirsch mögen sie nicht. Aber Mundschleimhäute pflanzenfressender Säugetiere reagieren anders als die Kiefer von Schmetterlingsraupen. Gerade weil sie als Spezialisten die Brennnesseln als Nahrung bestens verwerten können, sollten sie sich oft auch so stark vermehren, dass Brennnesselbestände in entsprechend großem Umfang abgefressen werden. Doch um es nochmals zu betonen, das geschieht nicht. Dabei haben wir eine weitere, in Wäldern nicht seltene Tagfalterart noch gar nicht berücksichtigt, deren Raupen ebenfalls von Brennnesseln leben, das Landkärtchen Araschnia levana. Es ist insofern eine große Besonderheit unter unseren Schmetterlingen, als es in zwei verschiedenen Formen vorkommt, in einer braunscheckig hellen Frühjahrs- und einer schwärzlich dunklen, weiß gebänderten Sommerform. Aber nur die Flügeloberseite verändert sich bei diesem Saisondimorphismus, wie der Fachausdruck hierfür lautet. Auf der Flügelunterseite bleibt das arttypische, an eine stilisierte Landkarte erinnernde Muster in beiden Formen unverändert. Daraus lässt sich schließen, dass es für das Landkärtchen vorteilhaft ist, im April und Mai braunscheckig hell, im Hochsommer aber schwarzflächig dunkel zu sein – bei aufgeklappten Flügeln.
Stellen wir die nähere Behandlung dieser Eigenart noch zurück, bis ich sie in anderem Zusammenhang erneut aufgreife, und halten wir fest, dass die Raupen des Landkärtchens nur von Blättern der Großen Brennnessel leben. Damit haben wir nun schon vier Tagfalter, die auf Brennnesseln als Raupennahrung weitgehend oder ganz spezialisiert sind, das Tagpfauenauge, den Kleinen Fuchs, das Landkärtchen und den Admiral. Die beiden schon genannten, sehr häufigen Kleinschmetterlinge aus der Zünslerfamilie kommen dazu. Sie können aber, wie auch das Tagpfauenauge, auf einige andere Arten von Raupenfutterpflanzen ausweichen. Dass weitere Schmetterlingsarten dazukämen, deren Raupen von Brennnesseln leben, habe ich angedeutet. Sie bleiben hier unberücksichtigt, um die Verhältnisse nicht noch komplexer zu machen. Am entscheidenden Befund ändern sie ohnehin nichts. Vielmehr verstärken sie ihn: Es gibt keinen nennenswerten Kahlfraß an den Brennnesseln. Warum diese Feststellung so wichtig ist, dass ich sie mehrfach wiederhole, wird klar, wenn wir unter dem Gesichtspunkt möglicher Schadinsekten den Mais betrachten.
Mais – wenn die Schadensgrenze überschritten wird
Sein schnelles Wachstum, der Anbau auf Millionen von Hektar und seine ausgezeichnete Verwertbarkeit als Nahrung für die unterschiedlichsten Tiere sollten den Mais mindestens so attraktiv für Insekten machen wie die Brennnesseln. Und ihm droht im Gegensatz zu den Brennnesseln offenbar ein Massenbefall. Denn er wird mit viel Gift gegen Schädlinge verteidigt. Liegt es vielleicht doch am Inhalt der Brennhaare, am Acetylcholin und an den Histaminen? Der Mais enthält keine derartige chemische Feindabwehr.
Eine andere Nutzpflanze, die zu unseren wichtigsten Nahrungslieferanten gehört, hat eine solche, die Kartoffel. Warum muss diese aber gegen den Kartoffelkäfer geschützt werden, obwohl die oberirdischen (grünen) Teile dieses Nachtschattengewächses stark wirksame Gifte enthalten, insbesondere das für sie typische Solanin? (Von diesem können schon 200 bis 400 Milligramm pro Kilogramm Körpergewicht lebensgefährlich werden, also 20 bis 30 Gramm für einen 75 Kilogramm schweren Menschen.) Weil spezialisierte Tierarten, die entweder die Giftstoffe beim Verzehr in ungiftige umwandeln oder gegen diese unempfindlich sind, die Möglichkeit der Exklusivnutzung haben. Diese führt bei Nutzpflanzen tatsächlich oft zu starkem Befall und zu wirtschaftlichen Verlusten. Solche Arten gelten als Schädlinge und werden bekämpft. Niemand geht jedoch mit der chemischen Keule gegen die Raupen der Brennnesselfalter vor; im Gegenteil: Unbeliebt oder als Unkraut eingestuft, wie es die Brennnesseln sind, wäre eine biologische Bekämpfung sogar willkommen. Als Nebenergebnis würde sie uns Wolken von Pfauenaugen, dunkelsamtigen, karminrot gebänderten Admiralen, hübsch buntscheckigen Kleinen Füchsen und die ihnen in der Frühjahrsgeneration flügeloberseitig ähnlichen, geradezu niedlichen Landkärtchen bringen. Die Fledermäuse könnten in der Abenddämmerung und in den frühen Nachtstunden die langsam fliegenden, leicht zu erbeutenden Brennnesselzünsler fangen. Doch nichts dergleichen geschieht. Massenvermehrungen mit Kahlfraß verursachen ganz andere Schmetterlinge. Die vereinte Nutzung der Brennnesseln durch die Raupen verschiedener, durchaus ziemlich häufiger Falter dezimiert diese nicht. Würden die Nesseln noch wie früher zur Gewinnung von Nesselfasern wirtschaftlich genutzt, wären all diese Schmetterlinge dennoch keine Schädlinge. Sie waren es auch nie.
Warum ist das so? Die Schmetterlingssammler früherer Zeiten kannten den Grund, weil er die allermeisten Schmetterlinge trifft. Er lautet: Die Raupen werden normalerweise sehr intensiv parasitiert. Die Verluste, die parasitische Insekten, wie die schlanken Schlupfwespen, die sehr kleinen Brackwespen und die eher grobschlächtigen Raupenfliegen verursachen, halten die Bestände der Brennnesselschmetterlinge dauerhaft weit unter der Schadensschwelle, d.h. unter einer Befallsstärke, die für uns auffällig würde. Parasitoide werden sie zusammenfassend genannt, diese im Körper der Raupen schmarotzenden Insekten, um sie von den Außenparasiten, wie Flöhen und Läusen, zu unterscheiden. Zur sprachlichen Vereinfachung werde ich weiterhin meist »Parasiten« schreiben, wenn Parasitoide gemeint sind.
Parasiten und Schutzstoffe bei Kohlweißlingen
Der Befall durch Parasiten hielt früher auch die Kohlweißlinge im Zaum. Raupen vom Großen Kohlweißling hatten wir jedes Jahr daheim im Garten an den verschiedenen Kohlsorten. Die Schäden, die sie mit ihrem Fraß verursachten, blieben jedoch gering. Erstaunlich gering, weil wir in den 1960er Jahren keinerlei Gift zum Schutz der Pflanzen angewendet hatten. Auch draußen auf den Feldern wurden die Weißkraut- und Rotkrautäcker nicht gespritzt. Wir hatten von einem Bauern aus dem Dorf Ackerzeilen gegen entsprechende Mitarbeit bei der Krauternte gemietet. Diese mussten wir selbst pflegen, um gute Krautköpfe zu bekommen. Das bedeutete Unkrautjäten. Ansonsten überließ man die Krautäcker sich selbst. Dass die Hasen im Herbst kurz vor der Krauternte ein wenig daran fraßen, nahm man hin. Es gab viele Hasen. Das bewiesen die Treibjagden im Spätherbst. Ganze Wagenladungen voller Hasen und Fasane wurden nach jeder Jagd ins Dorf gefahren.
Niemand klagte über Hasen- oder Raupenschäden am Kraut. Bei uns im Garten krochen die zur Verpuppung bereiten Raupen des Großen Kohlweißlings zur Hauswand und an ihr hoch. An den meisten von ihnen klebten alsbald Dutzende gelblicher Kokons, die von den Leuten Raupeneier genannt wurden. So bekannt waren sie. Um Eier handelte es sich natürlich nicht. Es waren Kokons, in denen sich die Larven einer auf Kohlweißlingsraupen spezialisierten parasitischen Miniwespe verpuppt hatten. Die Mehrzahl der Kohlweißlingsraupen war damals gar nicht zur Verpuppung gekommen. Die es dennoch schafften, waren deshalb noch keineswegs erfolgreich. Auch aus ihnen schlüpften oft keine Falter. Das lernte ich bei meinen ersten Versuchen, Schmetterlingsraupen zu »züchten«. Die meisten Puppen sahen nach einiger Zeit so durchlöchert aus, als ob sie mit feinstem Schrot beschossen worden wären. Die winzigen Larven der Brackwespen hatten sie wie Mini-Würmer innerlich ausgefressen, während sich der Schmetterling hätte entwickeln sollen. Aus den Löchern waren die Wespen geschlüpft. Zurück blieb eine hohle Hülle. Nur aus wenigen Puppen kam ein Kohlweißling. Wie bei einer Lotterie ergaben die meisten Raupen und Puppen nur »Nieten«.
So war es in den späten 1950er und in den 1960er Jahren. Gegenwärtig verhält es sich ganz anders. Kohlrabi- oder Krautpflänzchen im Garten so weit zu bringen, dass sie sich gut entwickeln, ist kaum noch möglich. Sie werden von Raupen aufgefressen. Und das, obwohl die Kohlweißlinge nicht häufiger geworden sind. Das Gegenteil ist der Fall, wie ich im Zusammenhang mit den Wanderflügen der Kohlweißlinge näher ausführen werde. Vielleicht mangelt es draußen an wild wachsenden Futterpflanzen für ihre Raupen, dass sie so intensiv nach unseren Pflänzchen im Garten suchen. Nicht einmal durch unsere Anwesenheit lassen sich die zur Eiablage bereiten Weibchen nennenswert stören. Wer sieht, wie wir mit den Armen oder mit einem längeren Zweig in den Händen an den Gemüsebeeten herumfuchteln, mag den Eindruck gewinnen, wir versuchten die Kohlweißlinge mit magischen Beschwörungsformeln zu vertreiben. Natürlich erfolglos.
Die Amseln, die neben den Pflänzchen in der offenen Erde scharren, helfen bei der Bekämpfung der Raupen auch nicht. Sie sind an den Regenwürmern interessiert, die wir dank Kompostierung der Bio-Abfälle reichlich im Boden haben. Überhaupt mögen Vögel die Kohlweißlinge nicht. Sie schmecken schlecht, weil sie in ihrem Körper die von den Kohlgewächsen gebildeten Abwehr- und Giftstoffe enthalten. Ihre Raupen nehmen sie beim Fraß auf und geben sie über die Puppe an die Falter weiter. Giftige Senfölglykoside sind es. Ihr langsamer Flug und ihre Auffälligkeit als weiße Falter gefährden dank dieser Schutzstoffe, die sie in sich tragen, die Kohlweißlinge nicht.
Pfauenaugen, Kleine Füchse, Admirale und Landkärtchen enthalten keinen vergleichbaren Fraßschutz. Die Brennnesselnahrung ihrer Raupen gibt dazu nichts her. Dennoch sind sie weder beträchtlich seltener als die Kohlweißlinge noch sonderlich gefährdet durch die Nachstellungen der Vögel. Betrachten wir sie beim Blütenbesuch im Garten genauer, werden wir selten einmal bemerken, dass aus ihren Flügeln mehr oder weniger dreieckige Stücke, so genannte Schnabelmarken (englisch beak marks) herausgestanzt worden sind. Ihre erratische Flugweise schützt sie offenbar gut genug vor hungrigen Vögeln. Deshalb müssen wir auch nicht befürchten, dass sich intensiver Singvogelschutz in den Gärten negativ auf die Schmetterlinge auswirken könnte; gewiss nicht auf die so auffälligen und allgemein beliebten Tagfalter der Pfauenaugen-Gruppe.
Der Massenflug der Landkärtchen – Singularitäten im Reich der Schmetterlinge
Zur Frage, warum die Brennnesselfalter nicht viel häufiger werden, als sie das üblicherweise sind, obwohl es fast überall Brennnesseln in großen Beständen gibt, scheinen somit die beiden Abschweifungen zu Landkärtchen und Kohlweißlingen nichts beigetragen zu haben. Aber so verläuft meist, wenn nicht fast immer, die Suche nach Erklärungen für Vorgänge in der Natur. Nur ausnahmsweise kommt man auf direktem Weg und schnell zu einem überzeugenden Ergebnis. Oft hilft eine Randbemerkung weiter, nützt eine kleine Beobachtung. Etwa ein Hinweis aus Amateurkreisen. Den Freunden der Schmetterlinge, ob Sammler oder forschende Beobachter, fällt mitunter etwas auf, das zunächst keinen Zusammenhang erkennen lässt. So ist im großen, ganz ausgezeichneten Handbuch »Die Schmetterlinge Baden-Württembergs«, herausgegeben von Günter Ebert, Staatliches Museum für Naturkunde Karlsruhe, in Band 1 von 1991 (Seite 405) zum Landkärtchen zu lesen: »Vorkommen und regionale Verbreitung dieser Art werden offensichtlich durch zeitweise auftretende starke Populationsschwankungen beeinträchtigt. … SCHNEIDER (1936) weist auf jahrweise wechselnde Häufigkeiten hin und notiert ›In der Umgebung von Stuttgart jahrelang sehr selten, in den letzten Jahren wieder häufiger geworden.‹ … LINDNER (1935) erklärt dies wie folgt: ›Araschnia levana-prorsa war seit Jahrzehnten in Württemberg fast verschwunden. Die ältesten Sammler erinnern sich nur an gelegentliche Funde in weit zurückliegender Zeit. Umso überraschender war die explosionsartige Massenvermehrung des Tieres im ganzen Lande im Jahre 1932.‹ Ein Jahr später kam es dann zur Vermehrung von Raupenfliegen (Tachinen), die das Absinken der Häufigkeit dieses Schmetterlings unmittelbar verursachten.« In diesen von Amateuren stammenden Angaben steckt ein Teil der Erklärung: der Ausfall der Parasiten, der zur Massenvermehrung 1932 führte. Der Sommer 1932 war den meteorologischen Daten zufolge aber ein völlig normaler, durchschnittlicher Sommer. Auch die Sommer davor und danach bewegten sich mit ihren Temperaturmitteln im Normalbereich. Folglich mussten die natürlichen Hauptfeinde, die Raupenparasiten, vor der Massenvermehrung irgendwie stark dezimiert worden sein.
So verhielt es sich höchstwahrscheinlich auch beim von mir im Jahre 2013 erlebten und dokumentierten Massenflug der Landkärtchen. Damals zählte ich im Hochsommer auf einem einzigen Kontrollgang im Forst mehr als 1300 dieser Falter. Sie waren so häufig, dass sie sich an den Blüten an den Rändern der Forststraßen richtiggehend um ein Plätzchen drängelten. Manche waren völlig eingehüllt von Landkärtchen. Sogar an Kletten fand ich eines, das sich daran verhakt hatte. Nicht ganz so häufig, aber weit überdurchschnittlich präsent, waren die Landkärtchen damals im Auwald. Sie flogen an Orten, wo ich sie sonst nie sah, und besuchten auch Gärten. Die Landkärtchen-Menge eines einzigen Tages übertraf dabei die Gesamtzahl für ein ganzes Jahrzehnt bei weitem.
Landkärtchen der Sommerform drängeln sich an den Blüten während des Massenflugs im Sommer 2013.
Dank genauer Zählungen und Temperaturaufzeichnungen lässt sich die Vorgeschichte der Massenvermehrung von 2013 gut rekonstruieren. Im Februar 2012 hatte es eine extreme Frostperiode gegeben. Zwei Wochen lang sanken die nächtlichen Minima unter minus 20 Grad Celsius. Auch tagsüber herrschte Dauerfrost. Die Kälte setzte nach zu mild verlaufenem Dezember und Januar sehr plötzlich ein. Den überwinternden Puppen der Landkärtchen schadete die (trockene) Kälte offenbar nicht. Das ergaben die Zählungen der Falter im Frühjahr. Die folgende Generation im Sommer 2012 legte deutlich zu, wurde aber noch nicht wirklich auffallend. Doch sie lieferte offenbar weit mehr überwinternde, nicht parasitierte Puppen als üblich, denn im Frühjahr 2013 flogen die Landkärtchen bereits in außergewöhnlich großer Zahl.
Das überraschte, denn während ihrer Hauptflugzeit im Mai war es erheblich zu kühl und vor allem sehr verregnet. Ende Mai/Anfang Juni 2013 entstand aus dem anhaltenden Schlechtwetter ein »Jahrhunderthochwasser« im nördlichen Alpenvorland. Es überschwemmte großflächig die Auwälder am Inn. Kein Wunder, dass im Sommer danach beträchtlich weniger Landkärtchen im Auwald als im nicht vom Hochwasser betroffenen Forst flogen. Für die Parasiten waren der Extremfrost im Winter zuvor und das schlechte Wetter in der ersten Jahreshälfte von 2013 inklusive frostigem Nachwinter, der bis in den April hinein angedauert hatte, offenbar extrem ungünstig. Die Landkärtchen entgingen der üblichen starken Dezimierung durch die Parasiten. Und da wie zur statistischen Wiedergutmachung des viel zu nassen und zu kalten Wetters der ersten Jahreshälfte von 2013 ab Juli anhaltend trockenheißes Wetter folgte, waren für die Landkärtchen ideale Bedingungen zustande gekommen. Sie flogen in einer Häufigkeit »wie noch nie«.
Die Notiz im oben angeführten Schmetterlingshandbuch geriet so zum Schlüssel für die Klärung der Frage, warum es mitunter doch zur Massenvermehrung einer im Raupenstadium von Brennnesseln lebenden Schmetterlingsart kommen kann. Besondere Witterungskonstellationen, die den Parasiten nicht gefielen, ließen sich nachprüfen. Zudem hatte ich bereits einen anderen ziemlich starken Flug der Landkärtchen im Frühjahr 1986 in den Innauen erlebt und mit Zählungen belegt.
1984 und 1985 waren die Sommer den Messwerten der Wetterstation Hohenpeißenberg südlich von München zufolge wie auch die von 1931 und 1932 unauffällig und durchschnittlich. Aber die Durchschnittstemperaturen der Winter vor den Massenflugjahren glichen einander in bemerkenswerter Weise mit −3,1, −2,9 und −3,0 Grad Celsius. Sie bedeuteten kalte, aber nicht extreme Winter mit ausgeprägten Frostphasen. Der so bemerkenswerten Zunahme des Landkärtchens in Baden-Württemberg in den 1930er Jahren vorausgegangen war der sehr kalte Winter 1929/30. Mit −5,7 Grad Celsius war er der zweitkälteste des ganzen 20. Jahrhunderts. Nur der Eiswinter 1962/63 unterbot ihn mit −6,0 Grad Celsius Durchschnitt. Davor hatte es im ganzen 19. Jahrhundert nur zwei ähnlich kalte Winter (jeweils −6,1 °C) gegeben, nämlich 1829/30 und 1894/95, und einen mit −5,5 °C von 1890/91. Die Schlussfolgerung war nun offensichtlich: Extremes Winterwetter hatte damals die Parasiten so stark dezimiert, dass die Bestände der Landkärtchen ihrer Kontrolle entgingen und die Falter plötzlich so außerordentlich häufig flogen. Doch ihr Entkommen währte nur kurz. Schon nach zwei, spätestens nach drei Faltergenerationen hatten die Parasiten aufgeholt und die Landkärtchen wieder auf das normal niedrige Häufigkeitsniveau gedrückt. Auch 2014 unterschied sich die Landkärtchenhäufigkeit nicht mehr von jener der Jahre vor der Massenentwicklung von 2013. Eine weitere ist seither nicht wieder zustande gekommen. Vorhersagen lassen sie sich nicht, weil nicht nur die besonderen Konstellationen der Umwelt solche begünstigen, sondern die Bestände selbst in einem dafür günstigen Zustand sein müssen.
Das bedeutet, dass Massenvermehrungen (Gradationen werden sie bei Forstinsekten genannt) aus Trenduntersuchungen auszuklammern sind, weil sie diese als Einzelfälle (»Singularitäten«) viel zu stark überlagern würden. Für bestimmte Zwecke ist es hingegen angebracht, nur sie zu betrachten: wie häufig sie in größeren Zeitspannen und mit welchen zeitlichen Abständen sie auftreten. Im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts gab es auffällig viele und sehr starke Massenvermehrungen von Forstinsekten. Ganze Wälder gingen dabei zugrunde, weil Kiefernspinner Dendrolimus pini, Forleulen Panolis flammea und sogar die großen Kiefernschwärmer Sphinx pinastri die heranwachsenden Nadelwaldbestände so sehr befraßen. Was die Massenvermehrungen auslöste, blieb trotz intensiver forstökologischer Untersuchungen unklar. Sehr wahrscheinlich waren die Bestände gerade im für den Raupenfraß günstigsten Alter. Zudem handelte es sich um Reinbestände mit sehr geringer genetischer Vielfalt. Dies unterscheidet die allermeisten Nutzpflanzen von den natürlichen Beständen derselben Arten.
Die Massenvermehrungen der genannten Forstschädlinge waren ungleich heftiger als die des Landkärtchens im Sommer 2013. Hohe Zahlenwerte können täuschen, wenn sie nicht Bezug zur nutzbaren Nahrung herstellen. 1300 Landkärtchen wirken als Zahl eindrucksvoll hoch, zumal verglichen mit den üblichen Mengen der Sommerflugzeit, die 10 bis 15 Exemplare auf derselben Zählstrecke ergaben. Also war es zu einer Verhundertfachung des Bestandes gekommen. Aber was bedeutet dies auf die Brennnesseln bezogen? Sie wiesen, wie bereits wiederholt betont, keine sichtbaren Schädigungen nennenswerten Ausmaßes auf. Weshalb, das wird sogleich klar, wenn die Brennnesseln zum Vergleich gezählt werden. Die Bestände entlang der Forststraßen beinhalten mit Hunderten pro Quadratmeter an der vier Kilometer langen Zählstrecke Hunderttausende. Die Raupen verzehrten also Brennnesselblätter in Anteilen von Promillen. Damit ist klar, dass die Raupennahrung selbst bei solchen Massenvermehrungen keinesfalls die Bestände der Brennnesseln reguliert.
Wirkt der Klimawandel auf die jahreszeitlichen Falterformen der Landkärtchen?
Zwei weitere Besonderheiten bei den Landkärtchen sind hier nun anzuschließen. Wie bereits ausgeführt, kommt dieser Falter in zwei Formen vor, einer hellen, gelbbraun gescheckten Frühjahrsform und der oberseits schwarzen Sommerform f. prorsa mit breitem weißem Band über die Flügel. Beide fliegen stets klar getrennt voneinander. Die schwarze Sommerform bildet sich aus Raupen, die den langen, zunehmenden Tagen des Frühsommers ausgesetzt sind. Die braunfleckige Frühjahrsform entsteht aus Raupen, die in der Zeit abnehmender Tageslänge im Spätsommer und Herbst leben. Die Tageslänge wirkt als Zeitgeber. Das müsste sie für alle anderen Schmetterlinge auch, die eine Früh- und eine Spätsommer-Raupengeneration haben. Aber außer den Landkärtchen entwickelt keine einen so klaren, ausgeprägten Saisondimorphismus. Daraus ist zu folgern, dass es für die Landkärtchen besonders wichtig sein muss, in der Hauptflugzeit im Frühling, April und Mai, anders auszusehen als im Hochsommer.
Landkärtchen – Frühjahrsform
Landkärtchen – Sommerform
So wichtig, dass es keine Abweichungen von dieser jahreszeitlichen Unterschiedlichkeit gibt. Um es vorwegzunehmen: Wir kennen den Grund nicht wirklich. Aber es lassen sich begründete Vermutungen anstellen. So zeigt die Erfahrung, dass wir die hellbraun-scheckigen Frühjahrsfalter im hellen Licht, das in dieser Jahreszeit noch in den Laubwald dringt, gar nicht so gut erkennen. Im starken Hell-Dunkel-Kontrast des Hochsommerlichts trifft diese Feststellung dann für die schwarz-weiße Sommerform zu. Da es um Kontraste und Formerkennung geht, könnten die Vögel ähnliche Schwierigkeiten haben. Zudem gibt es insbesondere im Offenland zahlreiche Tagfalter, die auf ihrer Flügeloberseite das fleckig helle Muster tragen und deswegen Scheckenfalter genannt werden. Im Hochsommer ähnelt die schwarze, weißbindige Form aber dem deutlich größeren Kleinen Eisvogel Limenitis camilla, der an ganz ähnlichen Stellen wie die Landkärtchen fliegt. So sinnvoll der sich andeutende Zusammenhang auch wirken mag, zur Erklärung des strikten Saisondimorphismus reicht er nicht. Deshalb kommt vermutlich hinzu, dass die Landkärtchen ziemlich schwache, wenig wendige Flieger sind. Und dass sie keine Gift- oder Abwehrstoffe in ihren Körpern tragen, weil die Raupen an Brennnesseln gefressen haben. Von diesen bekommen sie keine Schutzstoffe mit. Der Feinddruck der Vögel dürfte daher für das Falterstadium der Landkärtchen durchaus ähnlich bedeutsam sein, wie die Parasitierung für das Raupenstadium. Schmetterling und Raupe leben in unterschiedlichen Umwelten und sind entsprechend verschiedenen Wirkungen von Wetter und Feinden ausgesetzt.
Und um das Wetter geht es nun bezüglich der zweiten Besonderheit, die behandelt werden soll. Denn gibt es ein frühes Frühjahr und einen warmen Frühsommer, setzt der Flug der Hochsommergeneration der Landkärtchen entsprechend früh ein. Erste Schwarze traf ich 2018 bereits am 9. Juni. Wie extrem früh das ist, geht aus der Charakterisierung im schon zitierten Handbuch der Schmetterlinge Baden-Württembergs hervor (Band 1, Seite 406): »In sehr heißen Jahren wurden schon Ende Juni (24.06.64, 30.06.46) Falter der Sommergeneration gefangen.« Und: »Vereinzelt fliegen Tiere der 1. Generation noch bis Mitte Juni.«
Ist so ein frühes Auftreten der Sommergeneration ein Signal für den laufenden Klimawandel? Solche Streudaten am Beginn und wieder am Ende der normalen Flugzeit würden wenig bis nichts besagen, außer dass das Wetter eben dafür günstig gewesen ist. Beim Landkärtchen ist das anders. Denn wenn die Sommergeneration sehr früh fliegt, bildet sich eine zweite im Spätsommer. Die Falter dieser Generation, gleichfalls schwarz wie die der normalen im Sommer, schlüpfen aus den Puppen Mitte bis Ende August. Bis Anfang September sind sie dann noch zu sehen. Tatsächlich gab es in den letzten Jahren eine solche Zweitgeneration im Sommer, und zwar Ende August 2012. Hatte sie den Massenflug 2013 mit gefördert, ist die leider nachträglich nicht mehr zu klärende Frage. Denn sie könnte dem Druck der Parasiten durch ihr unzeitgemäßes Vorkommen entgangen sein.
Also ein Fall, der auf den Klimawandel und seine Folgen hinweist? Ältere Befunde mahnen zu Skepsis. So steht im Baden-Württembergischen Handbuch (Band 1, Seite 407): »Sichere Tiere (»Landkärtchen«) der 3. Gen. wurden in heißen Jahren ab 20.8. notiert.« Leider ohne Nennung der betreffenden Jahre. Meine eigenen Aufzeichnungen aus dem niederbayerischen Inntal, das klimatisch weniger warm als das Oberrheintal ist, beinhalten aber aus den 1960er bis 1980er Jahren mehrfach Landkärtchen der 3. Generation von Ende August/Anfang September. Ihr Zustandekommen hängt also einfach vom Verlauf der Frühjahrs- und Frühsommerwitterung ab und nicht von den Zehntelgraden ansteigender Sommermitteltemperaturen.
Die Natur ist zu vielfältig für simple Verallgemeinerungen
Mit den gerade erläuterten Befunden wird das geografische Verbreitungsgebiet des Landkärtchens ganz gut verständlich. Es erstreckt sich von den Pyrenäen in einem breiten Bogen über Frankreich und Deutschland nach Mittelost- und Osteuropa. Auf der Iberischen Halbinsel, auf den Britischen Inseln, in Frankreich im mediterranen Süden und im atlantisch milden Nordwesten sowie in größeren Teilen Norddeutschlands und im gesamten mediterranen Raum kommen keine Landkärtchen vor. Die Art fehlt also in den wintermilden Regionen, in denen es keine ausgeprägten, länger anhaltenden Frostperioden gibt. Auch hierzu passt der Hinweis für Baden-Württemberg im obigen Zitat aus dem Ebert’schen Handbuch bestens. Das Landkärtchen, ein Sonderfall? Bei Verallgemeinerungen ist Zurückhaltung geboten. Allzu leicht erliegt man dem Risiko, Einzelbefunde übermäßig zu bewerten. Doch was wir jetzt aufgerollt haben, fügt sich mosaikartig zu einem Ergebnis von weit größerer Tragweite zusammen.
Nicht das Landkärtchen allein, auch die anderen Brennnesselfalter unterliegen dem Druck der Parasiten. Wir sehen dies direkt im Verhalten der Raupen. Ihre Zusammenballung zu »Nestern« vermindert für die einzelne Pfauenaugen-Raupe die Wahrscheinlichkeit, von einer Schlupfwespe gestochen und parasitiert zu werden. Denn je mehr Nachbarn eine Raupe hat, desto kleiner wird das Risiko, betroffen zu werden. Dass die Nesselzünslerraupen die Blätter zu Tüten rollen, in denen sie scheinbar zu viel Platz haben und von denen viele leer sind, weil die Raupen sie bereits verlassen haben, weist in dieselbe Richtung. Raupenfliegen und Schlupfwespen können sie in ihren Blatttüten nicht so leicht finden, zumal wenn viele der aufgesuchten einfach leer sind. Spinnefäden an den Enden der Tüten können den Raupen signalisieren, dass Gefahr droht, wenn die parasitischen Wespen die Fäden berühren. Blitzartig lassen sich die Raupen dann aus der Tüte zu Boden fallen, wo sie kaum noch zu finden sind. Auch Gespinste, wie sie die kleinen Raupen der Pfauenaugen und Kleinen Füchse fabrizieren, bieten einen gewissen Schutz. Die Bedeutung der Gespinste wird bei der Behandlung der Gespinstmotten vollends deutlich. Schmetterlingsraupen spinnen nicht einfach so vor sich hin. Das chemische Ausgangsmaterial für die Fäden könnten sie sich sparen und anderweitig besser verwenden, wenn Gespinste nicht überlebenswichtig wären. Um Fressen und Gefressenwerden geht es in der Insektenwelt viel heftiger, als wir dies mitbekommen. Wir sind einfach viel zu groß, um das Geschehen in der Umwelt der Schmetterlinge genauer mitverfolgen zu können.
Meist sehen wir nur das Ergebnis, nämlich dass die Tätigkeit der Raupen aller Brennnesselschmetterlinge die Brennnesseln bei weitem nicht so stark dezimiert, dass der Fraß auffällig würde. Pfauenaugen & Co. werden daher wohl kaum jemals als biologische Bekämpfer der Brennnesseln genutzt werden können. Umso ungewöhnlicher, ja unnatürlicher ist es, dass die Insekten so stark bekämpft werden müssen, die von Kulturpflanzen leben.
Die langjährigen Zählungen der Häufigkeit von Pfauenauge & Co. zeitigten einige weitere gänzlich unerwartete Befunde. Die Brennnesselfalter sind von Jahr zu Jahr unterschiedlich häufig. Ihre Bestände fluktuieren weit stärker, als das der Fall sein dürfte, da die landwirtschaftlichen Stickstoffüberschüsse seit Jahrzehnten das Wachstum der Brennnesseln anhaltend begünstigen. Wenn die Parasiten tatsächlich die solcherart verbesserten Lebensbedingungen für die Brennnesselfalter weitestgehend kompensieren, müssten sie auf die verschiedenen Arten in etwa gleich wirken. Aber Tagpfauenaugen und der gleichfalls zu den Brennnesselfaltern gehörende C-Falter Polygonia c-album wurden in letzter Zeit deutlich häufiger, der Kleine Fuchs aber in den meisten Jahren viel seltener. Für manche habe ich kaum einen Nachweis.
Bei vielen Naturschützern und Freunden der Schmetterlinge hat sich der Rückgang des Kleinen Fuchses offenbar noch nicht so recht herumgesprochen. Man hält die Art nach wie vor für häufig. Das ist sie nur noch in einzelnen Jahren, längst nicht in allen. Ein einziges Gegenbeispiel wird zwar gute, schlüssige Ergebnisse nicht gleich völlig umwerfen, aber doch auf ihre Grenzen verweisen. Die Natur ist zu vielfältig für simple Verallgemeinerungen. Die Kleinen Füchse und das starke Auf und Ab bei den Tagpfauenaugen leiten über zu einem immer noch kaum verstandenen Phänomen: zu den Schmetterlingswanderungen und ihrer Bedeutung für die Bestandserhaltung der Arten. Sie werfen bezeichnende Schlaglichter auf den Klimawandel, der inzwischen als Universalerklärung für nicht verstandene oder noch gar nicht näher untersuchte Veränderungen in der Natur herhält.