Schmetterlinge auf großer Wanderung
In meinen alten Aufzeichnungen über Schmetterlinge fand ich eine höchst ungewöhnliche Notiz. Am 9. März 1959, einem »wunderbaren Frühlingstag«, wie ich vermerkt hatte, sah ich einen Distelfalter Vanessa cardui als ersten Schmetterling des Jahres. Das war auf dem Nachhauseweg von der Schule. Um 12.45 Uhr flog er unmittelbar vor mir über die Straße. Für den Distelfalter als Wanderfalter aus dem Süden ist dies ein extrem frühes Datum. Es liegt Wochen vor dem im Handbuch über die Schmetterlinge Baden-Württembergs als früheste Feststellung angeführten 1. April 1966. Um 15.20 Uhr ging ich zum Auwald am Inn hinaus und sah bei der Überquerung der Wiesen »mehrere Kleine Füchse«, wie ich zu diesem Tag vermerkte. »Die Falter sonnten sich, und es wehte Südostwind«. Dieser kommt im niederbayerischen Inntal meist dann zustande, wenn Föhn von den Alpen weit ins Vorland weht. Für den Distelfalter, wie auch für die Kleinen Füchse, hatte es an jenem Tag also eine kräftige Südströmung gegeben. Als Höchsttemperatur der Luft notierte ich 16 Grad Celsius. Das Vorjahr, 1958, war in Baden-Württemberg ein »starkes Flugjahr« für Distelfalter gewesen, steht im zitierten Handbuch. Dass davon einer in unserer Gegend überwintert hätte, lässt sich ausschließen. Dafür war der Winter 1958/59 viel zu kalt. Den Messungen vom Hohenpeißenberg zufolge lag er im Schwankungsbereich der Normalwinter. Im Januar 1959 hatte ich mit meinem Maximum-Minimum-Thermometer am Haus minus 15 Grad registriert.
So eine Kälte kann kein Distelfalter überleben, auch nicht an verhältnismäßig geschützten Orten, wie sie Tagpfauenaugen zum Überwintern aufsuchen. Der Distelfalter von Anfang März war also ziemlich sicher kurz vorher über die Alpen geflogen. Wahrscheinlich hatte ihn der Föhn mitgerissen. Denn dass Distelfalter aus Afrika im März nach Italien einfliegen und dort eine erste Generation im Jahr erzeugen, ist durchaus normal. Der erste, den ich 2018 in Südostbayern sah, war mit Datum 19. April sicher auch so ein früher Einflieger. Wiederum gilt für ihn, dass der Winter davor viel zu kalt gewesen war für ein erfolgreiches Überdauern im bayerischen Alpenvorland. Am 28. Februar 2018 hatte es −13 °C als nächtliches Minimum in der Gegend und als Höchstwert am Tag auch nur −6 °C gegeben.
Die Wanderflüge der Distelfalter erstrecken sich, wie wir inzwischen wissen, von der Sahelzone, dem südlichen Übergangsbereich der Sahara, in die nordafrikanische Savanne, über Süd- und Mitteleuropa nordwärts bis Nord- und Nordosteuropa. Im Hoch- oder Spätsommer streben sie wieder zurück nach Afrika. Den Rückflug machen sie oft auf einer östlichen Route über den Bosporus, die westliche Türkei und den Libanon. Auf diese Weise kommt, ein günstiger Gesamtverlauf der Witterung im betreffenden Jahr vorausgesetzt, ein großer Ring mit rund 5000 Kilometer Durchmesser zustande. Der ganze Flugkreis dehnt sich über 15.000 Kilometer aus. Das sind Strecken, die denen der Fernzieher unter den Zugvögeln durchaus nahe kommen.
Im Frühjahr nutzen die Distelfalter südwestliche und südliche Luftströmungen, mit deren Unterstützung sie von der westlichen Hälfte Nordafrikas nordwärts wandern. Im Spätsommer und Herbst fliegen sie mit aus Nordost und Nord wehenden Winden gen Afrika. Dazwischen produzieren sie zwei Generationen. Doch das ist ein stark vereinfachtes Muster. Jahr für Jahr passt sich jede Generation der Distelfalter den tatsächlichen Gegebenheiten von Niederschlägen und Winden an. In vielen Jahren kommen sie gar nicht oder lediglich in Einzelstücken über die Alpen nach Mitteleuropa. In einigen wenigen jedoch fluten sie zu Millionen nord- und nordostwärts. Wie im Frühsommer 2003 und dann wieder 2009. Davon später mehr.
Distelfalter – frisch geschlüpfter Nachkomme der im Mai eingeflogenen Falter aus Nordafrika
Kleiner Fuchs – ein verkannter Wanderfalter
Die Kleinen Füchse, die ich an jenem 9. März 1959 notiert hatte, sollen nicht aus dem Blickfeld geraten. An ihnen erkennen wir nämlich ziemlich gut den Übergang zwischen dauerhafter Bodenständigkeit und regelmäßiger Wanderung. Sie sind sozusagen die Teilzieher unter den Schmetterlingen, vergleichbar manchen unserer Vogelarten, von denen ein Teil des Bestandes den Winter über hier verbringt, der andere, meist der größere, aber nach Süden zieht und rund ums Mittelmeer überwintert. Und von dort im Frühjahr wieder zurückkehrt. Die Kleinen Füchse vom 9. März 1959 waren solche Wanderer. Das kann ich nun, fast sechzig Jahre später, mit großer Sicherheit behaupten. Denn einmal darauf aufmerksam geworden, erkannte ich Jahr für Jahr ihre Frühjahrswanderung. Aber sie kamen in jeweils sehr unterschiedlichen Mengen von Süden her. Die nordwärts zur Donau hin gerichteten Flusstäler dienen ihnen dabei als Leitlinien. Dieser Befund wird, genauer betrachtet, die Erklärung dafür liefern, warum der Kleine Fuchs in seiner Häufigkeit von Jahr zu Jahr weitaus stärker schwankt als die Tagpfauenaugen und andere Falter, deren Raupen an den so häufigen Brennnesseln leben.
Begeben wir uns dazu an einem (Vor)Frühlingstag, an dem der Föhn den Himmel über Oberbayern so eindrucksvoll in Blau taucht, ins Isartal südlich von München. Dünne weiße Wolken driften nordostwärts. Durchs Tal weht der warme Wind in Schüben. Nahe den Bergen kann er so stark werden, dass man von Föhnsturm spricht. Voll davon getroffen, muss man sich in schräger Körperhaltung gegen ihn stemmen. Schmetterlinge mögen in der Regel keinen stärkeren Wind. Er reißt sie fort und behindert bei der Suche nach Blüten, die Nektar enthalten, oder nach Artgenossen zur Paarung. Und doch sind es gerade solche Bedingungen, bei denen wir Kleine Füchse sehen können, wie sie mit dem Wind in schnellem Flug zielgerichtet nordwärts streben. Wie an einer unsichtbaren Schnur gezogen, eilen sie dahin. Mitunter landet der eine oder andere, um sich, wenn die Luft bloß um die zehn Grad warm ist, mit ausgebreiteten Flügeln am Boden aufzuwärmen.
Dort kann es zwanzig Grad und mehr haben, wenn die Frühlingssonne Ende Februar oder Anfang März kräftig strahlt. Bezeichnend ist, dass die Falter, anders als sonst, wenn sie auf der Suche nach Blüten sind, in ein bis zwei Metern Höhe und sehr geradlinig dahinfliegen. Manchmal weichen sie den Menschen erst im letzten Moment aus. Kommt uns ein Kleiner Fuchs auf ein paar Handspannen Distanz vors Gesicht, haben wir Schwierigkeiten, ihn bei seinem reißenden Flug richtig zu erkennen. In solchen Momenten versteht man, warum es den Vögeln alles andere als leicht fällt, einen dahinfliegenden Falter zu schnappen, obwohl sie doch viel schneller als dieser fliegen können. Ist erst mal einer vorbeigeflogen, lohnt es, sich niederzulassen und das Geschehen weiter zu beobachten. Bald wird sich zeigen, dass immer wieder Kleine Füchse vorübereilen. Alle halten die gleiche Richtung; zumeist nordwärts, aber durchaus der Ausrichtung des Flusstales folgend. Ein Dutzend oder mehr können es pro Stunde werden, vor allem zwischen 11 und 15 Uhr, der Hauptflugzeit. Manchmal kommen sie so dicht, dass eine Viertelstunde genügt, um sich davon zu überzeugen, dass gerade der Frühjahrseinflug der Kleinen Füchse stattfindet. Es muss nicht unbedingt eine starke Föhnlage sein, aber wenn der Wind aus West oder Nordwest kommt und die Wolken nur kurz Sonnenlücken lassen, werden wir vergeblich darauf warten.
Die Wetterverhältnisse müssen also passen. Bekommen wir, wie so oft im Vorfrühling zwischen Ende Februar und Mitte bis Ende März, ausgeprägte Westwetterlagen ohne Südströmungen und Föhn, fällt der Einflug der Kleinen Füchse weitestgehend aus. Im Frühsommer und Sommer werden sie fehlen oder sehr rar bleiben, je nachdem, wie viele eine Überwinterung als Falter im nördlichen Alpenvorland geschafft haben. Deren Anteil festzustellen ist fast unmöglich, weil längst nicht alle Ritzen und Schlupfwinkel abgesucht werden können, in die sich Kleine Füchse im Herbst zum Überwintern zurückgezogen haben könnten. Die meisten werden bemerkt, wenn sie in misslicher Lage an den Fenstern von Gartenhäuschen oder Schuppen flattern. Sie streben jetzt, im März oder Anfang April, dem Licht zu. Mit dem Glas kommen sie nicht zurecht. Im Herbst hatten sie nach dunklen Spalten und Zugängen gesucht. Ihr inneres Verhaltensprogramm passt zu natürlichen Schlupfwinkeln wie Höhlen oder Felsspalten. Die zappelnden Kleinen Füchse – und Tagpfauenaugen, die sich ganz ähnlich verhalten – erwecken den Eindruck, dass viele von ihnen bei uns überwintern. Vergleiche ich aber meine eigenen Funde überwinternder mit den Zählungen einfliegender Falter, wird der Mengenunterschied sehr deutlich. Möglicherweise sind es nur wenige Prozent der Herbstbestände, die überwintern. Längst nicht alle kommen durch; viele gehen dabei zugrunde, entweder weil es im Schlupfwinkel zu warm ist, wie in Häusern, oder zu kalt wird, wie an Orten, die sie im Freien aufgesucht haben. Für diese Einschätzung spricht, dass die Häufigkeit der Kleinen Füchse von Jahr zu Jahr sehr stark schwankt. Die erfolgreich Überwinternden können offenbar nicht ausgleichen, wenn der Frühjahrseinflug über die Alpen schwach oder ganz ausfällt. Beobachtungen im Schweizer Hochgebirge haben schon vor vielen Jahren ergeben, dass sich an den Bergen Kleine Füchse in großer Zahl auf der Südseite ansammeln und offenbar auf günstiges Wetter zum Weiterflug über die Alpenpässe warten.
Den Winter können sie dort oben am Fuß der Felszone gewiss nicht verbracht haben. Noch wissen wir nicht genau genug, wie diese saisonale Wanderung der Kleinen Füchse und die geografisch viel größere der Distelfalter verläuft, aber die Grundzüge zeichnen sich nun ähnlich deutlich ab wie vor hundert Jahren der Vogelzug. Damals hatten erste Kennzeichnungen mit winzigen Aluminiumringen die Ära der wissenschaftlichen Vogelzugsforschung eingeleitet. Dank der Größe vieler Vögel lässt sich ihr Zug nunmehr sogar individuell verfolgen. Wir können am PC sehen, wo sich beispielsweise der Schelladler Tönnes gerade befindet, wohin genau er nach Afrika ins Winterland der Distelfalter zieht, wann er aufbricht, um wieder zurück in seine baltische Heimat zu fliegen und welche Kurven und Abweichungen von der Hauptroute er dabei macht. Noch ist die Technik nicht so weit miniaturisiert, dass Vergleichbares auch mit Kleinen Füchsen oder Distelfaltern möglich wäre. Aber die biochemischen Feinanalysen gestatten bereits die Feststellung, aus welcher Gegend Afrikas die im Frühsommer nach Mitteleuropa einfliegenden Distelfalter stammen. Denn sie tragen über die von ihren Raupen aufgenommene Nahrung die Signatur der Region in sich.
Moderne Spitzenwissenschaft und das von Begeisterung für die Schmetterlinge getragene private Engagement von Laien, den Bürgerwissenschaftlern, treffen sich besonders intensiv und ergebnisreich in der Erforschung der Wanderflüge der Schmetterlinge. Und darüber hinaus bei der Erfassung von Vorkommen und Schwankungen der Häufigkeit der verschiedenen Arten. Davon später mehr, weil dies zentrale Bedeutung hat für das Verständnis der Ursachen, die zum so starken Rückgang der Schmetterlinge geführt haben. Die Wanderfalter überlagern ihn mehr oder minder regelmäßig mit den Massenzuflügen aus dem Süden. Sie erwecken damit den Eindruck, dass es um unsere Schmetterlinge gar nicht so schlecht stehe. Sammeln sie sich doch mitunter in solchen Mengen an den Blüten des Schmetterlingsflieders, dass diese unter der Last der Falter zu brechen drohen.
Daher zurück zum Distelfalter und seinen großen Wanderflügen. Die beiden bislang größten im 21. Jahrhundert fanden 2003 und 2009 statt. Schätzungen zufolge, die selbstverständlich nur sehr grob sind, weil ein hinreichend dichtes Netz von Beobachtern fehlte und keine objektive Methode, die durchfliegenden Faltermengen zu erfassen, vorhanden war, sollten es jeweils 20 Millionen und mehr Distelfalter gewesen sein. Es könnte sich aber auch um zehnmal so viele gehandelt haben. Große Zahlen beeindrucken bekanntlich durch ihre schiere Größe. Nachhaltiger wirken aber direkte Erlebnisse, wie die Ansammlung spätnachmittags und abends rastender Distelfalter im Botanischen Garten in München. Ihre Mengen wurden an manchen Büschen so groß, dass sie die Äste nach unten drückten. Die Zweige trugen weit mehr Falter als Blätter.
Der Einflug hatte sich durch eine Art Vorhut angedeutet. Anfang Mai waren die ersten Distelfalter eingetroffen. Am 5. Mai 2003 überflog abends um 19.00 Uhr einer die Zoologische Staatssammlung in München Richtung Norden. Der Tag war heiß; 30 Grad Celsius war das Maximum, verursacht von Saharaluft, die am folgenden Tag die Temperatur auf 33 Grad hochtrieb. An diesem sah ich am frühen Nachmittag zwei Distelfalter die Zoologische Staatssammlung überfliegen. Diese ersten Exemplare kamen also früh im Jahr. Das fiel nicht sonderlich auf, weil das Frühjahr recht warm verlief und die Falter zum Wetter passten. Die bunten Tagpfauenaugen waren auffälliger, denn sie hatten es nicht annähernd so eilig wie die ockerfarbenen Distelfalter, die sich kaum irgendwo niederließen und im zielstrebigen Flug den Blicken rasch entschwanden. Nach der Maimitte, die einen kurzen Kälteeinbruch gebracht hatte, mehrten sich die Beobachtungen von nordwärts fliegenden Distelfaltern. Einzelne waren nun fast täglich zu sehen. Da diese aber »bummelten«, wirkten sie nicht als Vorhut des Geschehens, das nach den beiden letzten kalendarischen Maitagen, die hochsommerlich heiß geworden waren, ganz plötzlich am 1. Juni einsetzte.
Vormittags sah ich erst einen Distelfalter. Kurz nach Mittag kamen vier weitere, die es sichtlich eilig hatten. Richtig los ging es am Nachmittag. Pro Viertelstunde zählte ich 13, mehr als 50, über 100, sodann 175 von 17.51 bis 17.55 Uhr und über 500 von 18.15 bis 18.45 Uhr. Den letzten notierte ich um 21 Uhr. Am 2. und 3. Juni ging der Einflug weiter. Die größte Intensität des Durchfluges wurde jeweils am späten Nachmittag zwischen 17 und 18 Uhr erreicht. Tageszeitliche Verteilung der Distelfalter und ihre Fluggeschwindigkeit, die je nach Stärke des Rückenwindes 30 bis 40 Kilometer pro Stunde erreichte, legten nahe, dass die Falter morgens am Südrand der Alpen gestartet waren, nachdem sie sich dort in der Sonne aufgewärmt hatten. Nach acht bis zehn Stunden Flug kamen sie im Münchner Raum an. Die Falter hielten sich weitgehend ans Isartal, durchquerten München, hielten dabei die Richtung Nordnordost, auch wenn höhere Gebäude im Weg waren. Diese überflogen sie, ohne den Kurs zu ändern.
Tausende gerieten dabei in die Halle des Hauptbahnhofes, in der die meisten zugrunde gingen, weil sie es nicht schafften, ihre Flugrichtung umzustellen und zurückzufliegen. Wenige fielen den Autos zum Opfer. Denn die Falter überquerten die Autobahnen bei München fast ausnahmslos in der sicheren Höhe von zwei bis zweieinhalb Metern. Mit Lastwagen könnte es Kollisionen gegeben haben. Im Isartal und auf der freien Flur außerhalb von München flogen sie niedriger, so dass Distelfalter mit ihrer Flügelspitze mehrfach unser Gesicht streiften, ohne ganz auszuweichen. Um von der Breite des Zugverlaufs eine Vorstellung zu gewinnen, fuhr ich westwärts bis zum Lechtal bei Augsburg und nach Osten eine ähnliche Strecke von rund 50 Kilometern. Freunde und Kollegen berichteten aus noch weiter westlichen Flusstälern und dem Inntal.
Aus der Breite der Erfassungsstrecken und der Menge pro Viertelstunde ließen sich Größenordnungen zur Gesamtzahl der Distelfalter kalkulieren. Zweifellos waren es Millionen; viele Millionen. Allein was durchs Tal der Isar flog, dürfte mehr als 20 Millionen Falter umfasst haben. Eine ähnliche Größenordnung wurde für den weiter östlich verlaufenden Durchzug im Frühsommer 2009 in Österreich abgeschätzt. Da kamen sie vor allem über das Salzachtal und noch weiter östlich liegende Alpentäler und -pässe. Im nördlichen Alpenvorland blieben wenige zurück. Im Sommer 2003, jenem legendären Super-Sommer mit mediterraner Witterung von April bis September, gaukelten Distelfalter im Juli und August zwar wie auch heimische Tagfalter um nektarreiche Blüten – vor allem an Schmetterlingsflieder waren sie zu sehen –, aber Raupenfunde blieben rar. Zweifellos war die Hauptmasse weiter nach Norden und Nordosten bis ins Baltikum und nach Nordwestrussland geflogen. Dorthin zogen damals auch die Tiefdruckgebiete und brachten diesen Regionen reichlich Sommerniederschläge. Weiter südlich, von Frankreich über Deutschland bis Polen und Tschechien fehlten sie.
Die wenigen Hitzegewitter, aus denen durchaus größere Regenmengen niederprasselten, behoben das Niederschlagsdefizit nicht, so dass der Sommer 2003 nicht nur sehr heiß, sondern auch sehr trocken verlief. In der Münchner Umgebung warfen viele Bäume bereits Anfang August ihr Laub ab. Für die Distelfalter hätte es nicht gelohnt, den Fernflug über die Alpen in einem Gebiet zu beenden, das dem gleichen Hitzestress ausgesetzt war wie die Regionen rund ums Mittelmeer. Im Rückblick auf das Geschehen mochte daher der Eindruck entstanden sein, die Distelfalter hätten Anfang Juni 2003 »gewusst«, dass sich so ein außerordentlicher Hitzesommer nördlich der Alpen entwickelt. Doch die viel einfachere Erklärung besagt: Sie flogen dorthin, wo die frühsommerlichen Fronten der atlantischen Tiefdruckgebiete reichlich Regen brachten und die bodennahe Vegetation entsprechend üppig wuchs. Im Sommer 2009 war dies großenteils schon im zentralen Mitteleuropa der Fall, so dass hier viele Distelfalter ihre Eier ablegten und sich nach erfolgreichem Aufwachsen der Raupen und Schlüpfen der Puppen ein südwärts gerichteter Rückflug im Hochsommer entwickelte. Noch mehr Distelfalter wanderten nach weniger auffälligem Einflug im Frühjahr im Sommer 2006 von hier nach Süden. Dieser Rückflug ließ sich über fast zwei Wochen und dank der dabei geringeren Fluggeschwindigkeit der Distelfalter gut beobachten. Sie »tankten« immer wieder an Blüten, flogen aber danach ziemlich geradlinig süd- oder südwestwärts weiter, ohne länger an einem Ort, im Garten etwa, zu verweilen.
Massenwanderungen von Distelfaltern gibt es sicher schon lange. Aufzeichnungen dazu reichen Jahrhunderte zurück. Im Handbuch der Schmetterlinge Baden-Württembergs (Ebert, G. 1991) sind große Wanderflüge für die Jahre 1879, 1918 und 1931 vermerkt. Eine Massenwanderung mit »Hunderte Millionen von Faltern« in Südfrankreich, von der J. Thiele berichtete (im Handbuch zitiert), streifte Südwestdeutschland nur. Die große von 2009 durch Österreich machte sich umgekehrt im Westen kaum bemerkbar.
Derartige Naturereignisse drücken augenfällig aus, was sonst weitestgehend verborgen bleibt, nämlich die Bedeutung geeigneter Fortpflanzungsbedingungen für die Insekten. Schmetterlinge brauchen zwar auch Blüten, die Nektar liefern und sie mit Energie versorgen, aber entscheidend für Vorkommen und Häufigkeit sind die Futterpflanzen der Raupen. Distelfalter sind in dieser Hinsicht nicht besonders wählerisch. Ihre Raupen können sich an einer Vielzahl von Pflanzenarten entwickeln, keineswegs nur an Disteln, wie der Name vermuten lässt. Disteln sind bedeutsam, sofern sie im Wachsen sind und noch nicht weitgehend (von sommerlicher Hitze) vertrocknet. Aber es eignen sich auch Kletten, Brennnesseln, Huflattich und andere recht verschiedenartige Pflanzen als Raupennahrung. Afrikanische Pflanzen kommen dazu, an denen die Wintergeneration heranwächst. Dies bedeutet, dass der Zustand der Vegetation mindestens so wichtig ist wie die Pflanzenarten selbst. Das wird uns wieder beschäftigen, wenn es um die Wirkungen der übermäßigen Düngung auf die Schmetterlinge und andere Insekten geht.
Wanderfalter, wie der Distelfalter, machen mit ihrer Suche und ihren Fernflügen deutlich, wie sich Lebenszyklen von Faltern gestalten. Oft sehen wir nur kleine Ausschnitte davon. Und halten diese für besonders bedeutsam. Das können sie sein, müssen es aber nicht. Kleine Füchse, die im Hoch- oder Spätsommer an den Blütentrauben der Buddleja, des Schmetterlingsflieders, Nektar saugen, verraten mit ihrem Kommen wenig über ihre Herkunft und wie die vorausgegangene Vermehrungssaison für sie verlief. Diese kann örtlich günstig gewesen sein, so dass die Falter vielleicht sogar direkt aus dem Garten stammen oder aus der näheren Umgebung gekommen sind. Aber es kann sich auch um Durchwanderer auf dem Flug zur Überwinterung in den Süden handeln, die von weit her stammen.
Und wenn Distelfalter zu Millionen das Land kurzzeitig überschwemmen, dürfen sie keinesfalls in die Berechnungen zur Häufigkeit heimischer Schmetterlinge mit einbezogen werden. Sie würden die Lage total verändern und gänzlich falsche Eindrücke vermitteln. Doch nicht allein die Distelfalter. Es gibt weitere Wanderfalter, die in sicherlich vergleichbaren Mengen von Süden her einfliegen, aber weit weniger auffallen, weil sie klein, grau und großenteils nachtaktiv sind. Beispielsweise die zu den Eulenfaltern gehörenden Gammaeulen Autographa gamma. Ihr Kennzeichen ist ein silbernes Ypsilon, das einem handgeschriebenen (griechischen) Gamma ähnelt, mitten auf dem Vorderflügel.
Gammaeule – häufigster Wanderfalter aus dem Süden
Admiral, gleichfalls häufiger Zuwanderer, der selten in Mengen gesehen wird
Gammaeulen besuchen im Hoch- und Spätsommer gern auch tagsüber die Blüten des Schmetterlingsflieders. Bei der Fußball-Europameisterschaft im Juli 2016 in Frankreich machten sie sich bemerkbar und »erregten öffentliches Ärgernis« als sie in großer Zahl ins Stadion flogen und die Spieler irritierten. Bilder vom berühmten Schiedsrichter Pierluigi Collina, der sich ihrer zu erwehren versucht, gingen um die Welt.
Pierluigi Collina erwehrt sich bei der Fußball-EM 2016 im Stadion umherschwärmender Gammaeulen
Gammaeulen fliegen alljährlich über die Alpen nach Mittel- und Nordeuropa. Im Hoch- und Spätsommer, mitunter auch noch weit in den Herbst hinein, wandern ihre Nachkommen zurück. Den Winter würden sie nicht überstehen. Die an diesem Schmetterlingszug beteiligten Mengen gehen in manchen Jahren sicherlich in die Millionen. Wahrscheinlich übertreffen sie die Distelfalter um ein Mehrfaches. Wir bemerken einfach zu wenig von ihren Wanderflügen. Die großen, am Tag fliegenden Distelfalter fallen auf.
Deshalb war es nötig, sie dem Kleinen Fuchs, der zur selben Verwandtschaftsgruppe zählt, gegenüberzustellen. Denn was für den Fernwanderer Distelfalter gilt, der in den meisten Jahren nur in sehr geringer Zahl oder gar nicht über die Alpen nach Mitteleuropa kommt, trifft grundsätzlich auch für den in seinem Wanderverhalten weit weniger auffälligen Kleinen Fuchs zu. Und ebenfalls für das gleichfalls in beträchtlichem Umfang im Frühjahr zuwandernde Tagpfauenauge. Seine Häufigkeit kann je nach Gunst oder Ungunst der Frühjahrswitterung sehr stark schwanken, so dass wir im Sommer und Herbst viele oder wenige Pfauenaugen und Kleine Füchse sehen. Der »bodenständige Bestand«, wie wir ihn nennen, lässt sich daraus also nicht ableiten. Wollen wir den Trend der Schmetterlinge bei uns ermitteln, sollten wir Wanderfalter wie den Distelfalter und den vor allem sommers in den Gärten auffälligen Admiral besser ganz ausschließen, und die Kleinen Füchse und Tagpfauenaugen in Abhängigkeit von ihrem Frühjahrseinflug betrachten. Schmetterlinge zu zählen ist reizvoll und bei der Lage unserer Natur eminent wichtig. Aber um zu aussagekräftigen Befunden zu kommen, müssen wir die Lebensweise der Falter hinreichend kennen und in der Analyse der Daten gebührend berücksichtigen.
Dazu ein weiteres Beispiel aus dem Bereich der Tagfalter, die anders als Distelfalter oder Pfauenaugen mit unseren Interessen im Garten und auf Feldkulturen in Konflikt geraten können. Es sind dies die Kohlweißlinge.