Das geheimnisvolle Leben der Gespinstmotten

 

Kahl gefressene, silberweiß eingesponnene Bäume in Flussniederungen und Auenwäldern mitten im grünenden Mai sind ein irritierend schöner Anblick. Die inneren Alarmglocken schrillen, weil die mitunter bis aufs letzte Blättchen abgefressenen Bäume rettungslos verloren scheinen. Und da sich die Gespinste über die Bodenvegetation ausbreiten, droht der ganze Auwald vernichtet zu werden. Was bei Maiensonnenschein gegen den strahlend blauen Himmel irgendwie apart, zumindest skurril wirkt, verliert rasch den morbiden Charme, wenn es, wie im Mai üblich, länger kräftig regnet. Dann verfärbt sich das nur bei schönem Wetter silbrig glänzende Gespinst zu schmutzigem Graubraun, weil die eingeschlossenen Kotreste der Raupen zerfließen. Die Baumskelette irritieren in diesem Zustand noch mehr. Das ist verständlich, aber unnötig. Wenige Wochen später, meist schon um die Wende vom Mai zum Juni, treiben die Bäume nämlich wieder frisches Grün. Später, im Hochsommer, verraten nur noch die Reste der Gespinste an den Stämmen, dass die Bäume im Mai kahl gefressen waren. Die neuen Blätter sehen jetzt sogar besser aus als die im Frühjahr abgefressenen. Den allermeisten fehlt nichts. Sie verbräunen im Herbst in ganz normaler Weise, fallen als dürres Laub ab. Auf den totalen Kahlfraß der wie skelettiert aussehenden Bäume folgt ein geradezu idealer Zustand, so als ob nichts gewesen wäre. Wie kann das sein, und warum sehen wir dieses Phänomen nur in manchen Frühjahren und nicht alljährlich? Diese einfach klingenden Fragen lassen sich, wie sich gleich zeigt, gar nicht leicht und vor allem nicht über Untersuchungen, die einige wenige Jahre umfassen, beantworten. Mich beschäftigen die Gespinstmotten seit Mai 1968, also bereits ein halbes Jahrhundert. Und immer noch sind wichtige Fragen offen. Was ich in den fünfzig Frühsommern über die Gespinstmotten gelernt habe, lässt sich in zwei Kernsätze fassen. Erstens: Mehrjährige Untersuchungen reichen nicht, um die Bestandsdynamik von Schmetterlingen zu verstehen; auch ein Jahrzehnt ist oft zu wenig. Zweitens: Die Wechselwirkungen zwischen Insekt und Pflanze sind viel intensiver und komplexer, als wir sie uns vorzustellen pflegen, zumal in der Schädlingsbekämpfung.

 

 

Traubenkirsche, von Gespinstmotten kahl gefressen und eingesponnen

 

 

Die Traubenkirsche, ein Auwaldbaum

 

Nachfolgend versuche ich, die wesentlichen Befunde zu erläutern. Fast alles kann man selbst und ohne großen technischen Aufwand direkt mitverfolgen. Beginnen wir mit den oben schon kurz geschilderten Beobachtungen. Wir sehen eingesponnene und mehr oder minder kahl gefressene Bäume. Es handelt sich um Traubenkirschen Prunus padus; ausnahmslos. Wichtigster Befund, der sogleich die Befürchtungen stark einschränkt: Nur sie ist betroffen, keine der anderen Baumarten des Auwaldes. Traubenkirschen sind eine typische Baumart feuchter Niederungen. Sie wachsen in Bachtälern und Auenwäldern. In Jahren ohne stärkeren Befall durch die Gespinstmotten, sehen und riechen wir sie, wenn sie Ende April oder Anfang Mai blühen. Ihre cremeweißen Blütentrauben, die aus vielen kleinen Blüten vom »Röschentyp« zusammengesetzt sind, heben sich dann unübersehbar vom jungen hellen Maiengrün ab. In manchen Jahren, in denen sie besonders üppig blühen, sehen die Traubenkirschen aus, als wären sie mit Schaum überzogen.

Dieser duftet weithin. Und ganz charakteristisch. In seiner Besonderheit leider nicht beschreibbar, weil wir für Düfte keine brauchbaren, allgemein verständlichen Bezeichnungen haben. Wer Wein schätzt, weiß das. Das Bukett, das er laut Etikett oder Anpreisung haben soll, gleicht weit mehr phantasievollen Erfindungen als der mit der Nase nachvollziehbaren Wirklichkeit. Was keine Kritik sein soll, sondern lediglich das Manko ausdrückt, das wir in Bezug auf Differenzierung und Charakterisierung von Gerüchen haben. Von Gestank ganz abgesehen, der für die Nase eines Hundes ein Wohlgeruch sein kann und den er sich, sich auf der Quelle des fragwürdigen Duftes wälzend, auch noch aufs Fell zu übertragen versucht. Diese Abschweifung hat durchaus ihre Berechtigung. Das wird man alsbald feststellen, wenn man sich den im Auwald so besonderen Duft der Traubenkirschenblüten nach Hause holt. Die Blütenzweige halten gut in Vasen mit ausreichend Wasser. Aber nach wenigen Stunden, spätestens in der Nacht, wird sich der draußen so bezaubernde Duft in einen recht unangenehmen Geruch oder einen schier unerträglichen, empfindlichen Menschen Kopfschmerzen verursachenden Gestank verwandeln.

Was die Atmosphäre des Frühlingsauwaldes prägte, nehmen wir im geschlossenen Raum nach einiger Zeit offenbar ganz anders wahr. Charakteristisch bleibt der Geruch dennoch. Woher er kommt, ließe sich vordergründig mit »aus den Blüten« beantworten. So richtig diese Feststellung auch ist, so wenig besagt sie. Denn die Blüten erzeugen Düfte nicht einfach so. Sie können nur absondern, was der Baum, was die jeweilige Pflanze, an Rohstoffen erzeugt. Mit dieser Überlegung kommen wir zum Kern. Die Traubenkirsche ist eine Kirschbaum-Art und als solche nahe verwandt mit unseren Süßkirschen und den wild wachsenden Vogelkirschbäumen Prunus avium. Diese gehören, wie auch die Schlehen und weitere Verwandte zur Gattung Prunus = Kirsche. Tatsächlich entwickeln die Traubenkirschen richtige Kirschen, die aber im Vergleich zu den Wild- oder Vogelkirschen klein bleiben und gereift glänzend schwarz aussehen. Sie sind zwar essbar, enthalten aber zur Süße einen adstringierenden Bitterstoff. Den Kern umgibt wenig Fruchtfleisch. Daher sind sie als Wildfrüchte bei uns nicht sonderlich geschätzt. Vielfach hält man sie für giftig. Die Schlehenfrüchte, gleichfalls Kirschen, entwickeln viel mehr Bitterstoffe und wirken giftiger, so dass wir sie unbearbeitet nicht wie die Wild- und die veredelten Süß- oder Sauerkirschen genießen können.

 

 

Giftstoffe in der Traubenkirsche

 

Wiederum ist so ein Seitenblick auf die Kirschen wichtig. Denn was wir über die Kirschen der Traubenkirschen am Rande mitbekommen, ist für die Gespinstmotten lebenswichtig. Im Blütenduft der Traubenkirschen äußert sich, dass es um Inhaltsstoffe geht, die vor allem den Blättern und den dünnen Zweigen einen besonderen, ganz unverwechselbaren Geruch verleihen. Zerreibt man ein paar Blätter zwischen den Fingern, wird dieser freigesetzt. Er wirkt für die allermeisten Menschen unangenehm bis abstoßend. Zumindest regt er nicht dazu an, daraus einen Tee bereiten zu wollen, was bei der Giftigkeit auch nicht anzuraten wäre. Die Blätter enthalten Amygdalin und Isoamygdalin. Das sind hochgradig giftige Blausäure-Glykoside. Die Giftwirkung kommt zustande, wenn der Blausäure-Anteil davon getrennt wird.

Darauf hatte ich im Kapitel »Gift im Körper« bereits allgemein hingewiesen. Enthalten sind diese Blausäure-Glykoside in den deswegen auch giftigen Bittermandeln und anderen Samen von Steinfrüchten sowie in Apfelkernen. In Magen und Darm wird daraus Blausäure frei. Womit wir zur Gespinstmotte zurückgekommen sind, deren Raupen ausschließlich (!) von den Blättern der Traubenkirschen leben. Sie heißen daher ganz richtig Traubenkirschen-Gespinstmotten, leider aber wissenschaftlich falsch und verwirrend Yponomeuta evonymella. Falsch deswegen, weil der Artname evonymella das Pfaffenhütchen Euonymus meint, an dem die Traubenkirschen-Gespinstmotten aber nicht leben. An diesem fressen die Raupen einer anderen, als Falter sehr ähnlich aussehenden Gespinstmotte namens Yponomeuta cagnagella. Ihre Besonderheiten werden uns im Zusammenhang mit den Gespinsten noch einmal beschäftigen.

Halten wir hier fest, dass die Traubenkirschen-Gespinstmotte nur auf der Traubenkirsche vorkommt und auf sonst keiner anderen Baum- oder Strauchart. Die Verwechslung bei der wissenschaftlichen Benennung hatte Gründe, die bis in die Gegenwart fortwirken: Die geschlüpften Gespinstmotten sind kleine, schmal länglich gebaute, silberweiße Schmetterlinge. Auf den Vorderflügeln tragen sie Längsreihen feiner schwarzer Punkte. Fünf sind es bei der Traubenkirschen-Gespinstmotte. Drei bei der an Pfaffenhütchen und Weißdornsträuchern lebenden. Die bei uns vorkommenden Arten lassen sich kaum voneinander unterscheiden, außer man hat sich die Unterschiede, wie die feinen Punktereihen, die Färbung der Fransen am Rand der Flügel und ob diese einen dunklen Wisch tragen oder nicht, gut genug eingeprägt und die Lupe zur näheren Betrachtung dabei. Als Gruppe stellen sie ein ökologisches Lehrstück dar für die Auffächerung einer Gattung in ein Spektrum unterschiedlicher, ökologisch sehr fein eingenischter und voneinander getrennter Arten. Unsere Natur enthält sehr wohl eindrucksvolle Beispiele für Evolution und Ökologie. In die Lehrbücher müssten nicht die üblichen Standardversionen der angloamerikanischen Fachliteratur übernommen werden, die aus fernen Regionen stammen.

In unserem Fall geht es um die spezifischen Inhaltsstoffe der Traubenkirsche, die nur sehr wenige Insekten als Bestandteil der Nahrung vertragen. Wenn wir diesen Baum genauer absuchen, finden wir in der Regel kaum mehr als eine Handvoll unterschiedlicher Insektenarten. Die Raupen des Ulmen-Harlekins Abraxas sylvata, einer Spannerart, gehören dazu. Sie nutzen aber mehr die Ulmen, wie der deutsche Name verrät, als die Traubenkirschen; verglichen mit den Traubenkirschen-Gespinstmotten bleibt dieser durch rundliche rostbraune Flecken auf seidenartig hellen Flügeln gekennzeichnete Falter sehr selten. Häufiger finden wir Blattläuse und hörnchenartige Auswüchse auf den Blättern, die vom Befall mit Gallmilben herrühren. Die Gallmilbenart Eriophyes padi ist auf die Traubenkirsche spezialisiert. Und das ist es dann auch schon. Keine andere Baumart hat bei uns so wenige an ihr lebende Insekten wie die Traubenkirsche. Bei den Eichen geht die Artenzahl in die Hunderte, obwohl sie einen so hohen Gehalt an Gerbstoffen aufweisen, die eigentlich Fressfeinde fernhalten sollten. Sie halten diese mehr »im Zaum« als ab, so dass es an den Eichen selten zu Kahlfraß kommt. Und wenn doch, kann dieser die Bäume tatsächlich beeinträchtigen. Massenentwicklungen von Eichenwicklern Tortrix viridana oder die wegen ihren Raupen, die giftig und irritierend wirkende Haare tragen, gefürchteten Eichenprozessionsspinnern Thaumetopoea processionea können die Eichen tatsächlich schädigen. Gegenwärtig, im Frühsommer 2018, gibt es wieder einen sehr starken Befall der Eichenwälder in verschiedenen Regionen Mitteleuropas. Besonders betroffen ist Nordbayern. Abgebrochene Raupenhaare trägt der Wind umher. Viele Menschen leiden unter Hautreizungen und Erkrankung der Atemwege. Die Massenvermehrung wird dem sehr warmen Jahr 2015 und den warmen Folgejahren zugeschrieben. Die wirklichen Ursachen sind offenbar unbekannt und zu wenig erforscht.

Erklärt wird die sehr geringe Artenzahl der von den Traubenkirschen lebenden Insekten damit, dass dieser Baum nach Ende der letzten Eiszeit erst spät wieder in Mittel- und Nordwesteuropa eingewandert ist. Er hatte die Kaltzeit im südosteuropäisch-vorderasiatischen Refugium überlebt, wie viele andere Baum- und Pflanzenarten auch. Das mag für die zuletzt von der Traubenkirsche erreichten Britischen Inseln plausibel sein, für Mitteleuropa überzeugt so eine Deutung der Artenarmut des Insektenlebens auf dieser Baumart aber nicht. Denn warum sollte sie bei ihrer nacheiszeitlichen Rückkehr nicht ein übliches Spektrum von Insektenarten mitgebracht haben? Die Traubenkirsche war ja nicht künstlich nach Mittel- und Nordwesteuropa eingeführt worden wie die Rosskastanie, deren »Motte« Cameraria ohridella in den letzten beiden Jahrzehnten Schlagzeilen machte, weil sie die bayerische Biergartenkultur zu gefährden schien. Viel wahrscheinlicher ist es, dass es am speziellen Gift, am Inhaltsstoff liegt, der den eigentümlichen und für uns abstoßend wirkenden Geruch erzeugt.

Mit diesem kommen offenbar nur sehr wenige Insekten zurecht. Das drückt sich über die Vögel aus, die Raupen fressen. Selbst der Kuckuck, der sogar die stachligsten Raupen verzehrt und die im Magen abgebrochenen Haare in Form von Speiballen wieder auswürgt, hält wenig bis nichts von den oft in dichten Massen vorhandenen Raupen der Traubenkirschen-Gespinstmotten. Der Pirol, von tropischen Insekten voller Abwehrstoffe nicht gerade verwöhnt, nutzt die Raupen auf den Traubenkirschen ebenfalls kaum. Anderslautende Berichte können auf Beobachtungen beruhen, die andere, weniger oder ungiftige Gespinstmottenraupen betreffen, die allerdings denen der Traubenkirschen-Gespinstmotte außerordentlich ähnlich sehen.

Die Raupen der Traubenkirschen-Gespinstmotte vertragen offensichtlich die giftigen Inhaltsstoffe der Blätter, und zwar so gut, dass sie immer wieder Kahlfraß verursachen. Sehen wir uns daher ihren Lebenslauf etwas genauer an. Er wird sich als sehr aufschlussreich erweisen.

 

 

Das Raupenleben der Gespinstmotten

 

Zeitgleich mit dem Austreiben der Traubenkirschen schlüpfen die Räupchen der Gespinstmotte im Frühjahr aus den Eihüllen, in denen sie gut geschützt Herbst und Winter verbracht haben. So klein, wie sie sind, so schwach sind auch noch ihre Kiefer. Sie können nur die ganz jungen, noch nicht gehärteten Blätter zerbeißen und verzehren. Das tun sie in den sich entfaltenden Frühjahrstrieben, in denen sie vor den Witterungseinflüssen gut geschützt sind. Es sei denn, es kommt ein später Wintereinbruch mit Frost. Dann gehen viele dieser frisch geschlüpften Jungraupen zugrunde. Alle sind es nie, denn es gibt immer welche, die nicht gleich mit den ersten sich öffnenden Blattknospen schlüpfen, sondern Wochen später Ende April, mitunter auch Anfang Mai. Sie entgehen meist Spätfrösten, gleichwohl nicht jedes Jahr, denn das Wetterphänomen der »Eisheiligen« bringt nicht selten noch in der ersten Maihälfte Frostnächte. Die Unterscheidung zwischen »frühen« und »späten« Räupchen ist außerordentlich wichtig, denn letztere stellen gleichsam die Reserve dar, sollten die früh geschlüpften zugrunde gehen. Sie haben aber keine Chancen, erfolgreich zu überleben und sich zu verpuppen, wenn das Wetter für die frühen Räupchen günstig war. Denn diese haben den Entwicklungsvorsprung und können Kahlfraß verursachen. Den »Späten« bleibt dann zu wenig oder gar nichts. Sie werden zu Hungerraupen, deren Tätigkeit gleich näher behandelt wird. Wichtig ist, festzuhalten, dass beide unentbehrlich sind, weil die Witterungsverhältnisse von Frühling zu Frühling sehr stark schwanken. Die Vorteile günstiger Aprilwitterung wandeln sich allzu rasch in den tödlichen Nachteil bei ungünstigem Witterungsverlauf im Mai.

Nach der ersten Häutung fressen die Raupen nun von außen an den inzwischen größer und üppiger gewordenen Blättern der Traubenkirschen. Und sie beginnen damit, mehreckige, zeltartige Gespinste zu fabrizieren. In diese ziehen sie sich bei ungünstiger Witterung zurück; auch in der Kühle der noch kalt werdenden Maiennächte. Ist der Befall gering, weil im vorausgegangenen Sommer wenige Gespinstmotten geschlüpft waren, sich gepaart und die Weibchen Eier abgelegt hatten, bemerken wir wenig von ihnen. Sehen wir mal ein Gespinst an den Enden von Zweigen in mittleren und unteren Etagen der Traubenkirschbäume, verschwindet es im sich derweilen üppig entfaltenden Blattwerk, das bei den Traubenkirschen viel dichter und kräftiger grün wird als bei den Grauerlen in ihrer Umgebung. Hatten viele Weibchen im Juli letzten Jahres erfolgreich Gelege an die Knospen der Traubenkirschen abgesetzt, die für den Austrieb im nächsten Jahr gebildet wurden, nimmt der Befall sichtlich zu.

Das Blattwerk der Traubenkirschen wird rasch lichter, die Gespinste werden ausgedehnter und dichter. Mitte oder Ende Mai können erste Bäume ganz eingesponnen und kahl gefressen sein. Wo sie in Gruppen beisammenstehen, weil es sich um Austriebe aus Wurzelstöcken handelte, ergreifen Kahlfraß und Gespinste alle Bäume. Nie aber werden Erlen, Eschen und andere Auwaldbäume befressen. Die Raupen sind ausschließlich auf die Traubenkirschen spezialisiert. Sie sind monophag, wie es im Fachjargon heißt, also auf eine einzige Nahrungsart eingestellt. Und wie zu sehen ist, sind sie dabei sehr erfolgreich. In Massen kriechen sie nun aus den leer gefressenen Kronen an den eingesponnenen Stämmen herab zu Astabzweigungen oder zum Stammfuß und suchen nach einer für die Verpuppung geeigneten, einigermaßen geschützten Stelle. Sie soll insbesondere regen- und hagelsicher sein. An dieser klumpen sie sich zu Hunderten, ja zu Tausenden zusammen. In wenigen Tagen entstehen aus den fahl gelblichen, schwarz gepunkteten Raupen schmale spindelförmige Tönnchen. Sie haben sich diese ihre Puppenwiegen selbst gesponnen und ganz dicht aneinandergefügt. Doch nun passiert häufig etwas Eigenartiges. Ausgezehrt aussehende Raupen überziehen diese Ansammlungen von Puppen mit einem dichten Außengespinst. Dieses schützt vor Regen und den Witterungseinflüssen. Es hält insbesondere aber Schlupfwespen und Raupenfliegen fern, die versuchen, ihre Eier an die Puppen abzulegen. Die Larven dieser parasitischen Insekten würden die Puppen leer fressen. Ist das äußere Schutzgespinst dicht genug, tun sie sich schwer, durchzukommen. Oder sie schaffen es gar nicht mehr. Viele Untersuchungen von Puppenmassen, die ich dem geschützten Zentrum entnahm, ergaben geradezu phänomenale Schlupfraten der Schmetterlinge von bis zu 98 Prozent.

 

 

Traubenkirschen-Gespinstmotten – Raupenmassen mit beginnender Verpuppung

 

In Kahlfraßjahren mit den silberweiß eingesponnenen, scheinbar zu Skeletten gewordenen Traubenkirschen im Mai folgt daher im Juni und Juli ein Massenschlüpfen der kleinen Gespinstmotten. Im Hochsommer sieht man sie überall im Auwald auf der Vegetation oder an den Baumstämmen sitzen. Nähert man sich diesen kleinen Schmetterlingen, fliegen sie meist nicht auf. Sie springen weg und lassen sich hinab in den dichten Bodenbewuchs fallen. Logischerweise sollte auf so einen Massenschlupf im nächsten Jahr eine weitere Massenentwicklung mit Kahlfraß folgen. Doch das geschieht höchst selten einmal und nur, wenn der vorausgegangene Sommer zwar ein »guter« für die Gespinstmotten war, aber kein Massenjahr. Warum das so ist, beschäftigte mich seit vielen Jahren. Bevor ich gleich darauf eingehe, möchte ich auf die Raupen zurückkommen, die das Außengespinst fertigen und damit ihre Artgenossen in den schon vorhandenen Puppen schützen.

 

 

Hilfreiche Hungerraupen

 

Wie schon betont, sehen diese Raupen nicht gut aus. Hungerraupen nennt man sie, weil ihre Körper meist (deutlich) dünner sind als die Kopfkapsel. Ihre Bewegungen wirken langsamer, »müder«. Tatsächlich schafft es, meinen Untersuchungen zufolge, keine, bis zur Verpuppung zu kommen, auch nicht, wenn ich sie mitnahm und daheim hielt. Der Grund dafür ist oben in den Bäumen sichtbar: Die anderen Raupen, die sich erfolgreich verpuppten, hatten die Traubenkirsche kahl gefressen. Für die Hungerraupen war zu wenig übrig. Das dürfte das übliche Schicksal der »späten« Raupen des Frühjahrs sein, wenn das Wetter für die »frühen« günstig verläuft. Trifft diese aber ein verspäteter Wintereinbruch, gewinnen die »Späten«, denn nun verbleibt genug Nahrung für sie im wenig bis kaum befressenen Blattwerk.

Als Hungerraupen ohne Chance auf Verpuppung und, was noch wichtiger ist, ohne die Stoffe als Vorrat im Körper, welche die Weibchen für die Bildung der Eier benötigen, haben sie gewissermaßen nichts mehr zu verlieren. Aber da sie möglicherweise, sehr wahrscheinlich sogar mit den erfolgreichen Raupen nahe verwandt sind, weil sie aus Gelegen derselben Weibchen stammen können, verbessert ihr Tun die Überlebenschancen der Geschwister. Denen kommt das Einspinnen der Puppenmassen durch die dem Tod geweihten Raupengeschwister zugute. Diese eignen sich ja nicht einmal für die Parasitierung durch Schlupfwespen. Zumindest vermute ich dies stark, ohne bisher entsprechende Untersuchungen durchgeführt zu haben. Denn nie sah ich, dass Hungerraupen von Schlupfwespen untersucht wurden. Zur Klärung sollte ich Hungerraupen einsammeln und überprüfen, ob sie überhaupt und wenn ja, von welchen Parasiten befallen sind und wie deren Schlupfraten ausfallen. Wie schon eingangs angedeutet, ist längst noch nicht alles klar im komplexen Beziehungsgefüge zwischen Gespinstmotte und Traubenkirsche.

 

 

Zwischen Parasitierung und Massenvermehrung

 

Gut gesichert ist der Befund, dass das Ausmaß der Parasitierung mit der Häufigkeit der Gespinstmotten zunimmt, aber bei sehr hoher Häufigkeit wieder stark abfällt. Gibt es (sehr) wenige, bleibt der Parasitierungsgrad gering. Sind die Raupen mäßig häufig bis häufig, steigt dieser an und kann über 50 oder sogar über 70 Prozent hinausgehen. Doch bei Massenbefall mit Kahlfraß nimmt er so stark ab, dass nur periphere Puppen betroffen sind, die in der Gesamtmenge wenig bis nichts ausmachen. 98 Prozent Schlupfrate der Gespinstmotten, die in den Schlupfnächten im Sommer aus den Puppenmassen hervorquellen, als ob diese überschäumen würden, kommen zustande. Sie werfen die Frage auf, warum die bremsende Wirkung oder eine richtige Kontrolle durch die parasitischen Schlupf- oder Brackwespen und die an stachelige Stubenfliegen erinnernden Raupenfliegen ausgerechnet dann nicht mehr funktioniert, wenn die Gespinstmotten besonders häufig geworden sind. Die Verlustquote an die natürlichen Feinde liegt bei Massenvermehrung sogar niedriger als in den Phasen der geringen Häufigkeit.

 

 

Gespinstmotten in Massen geschlüpft

 

Ein Befund machte die ganze Geschichte vollends undurchsichtig. Denn nach einer Massenvermehrung hatte sich gezeigt, dass die so erfolgreich geschlüpften Falter deutlich kleiner waren als solche aus Normaljahren mit mittlerem bis geringem Befall der Traubenkirschen. Die nähere Untersuchung ergab, dass hauptsächlich die Weibchen betroffen waren. Sie hatten viel weniger oder gar keine Eier im Hinterleib. Das verkürzte ihre Körperlänge um bis zu zwei Millimeter. Das Massenschlüpfen täuschte somit einen Erfolg vor, der fortpflanzungsbiologisch gar keiner war. Denn was nützt es, wenn aus einem Großteil der Raupen Schmetterlinge entstehen, deren Fruchtbarkeit stark vermindert oder gar nicht mehr gegeben ist? Das schien die Erklärung dafür zu sein, dass auf Kahlfraßjahre mit hohem Schlupferfolg der Gespinstmotten trotz sehr geringer Parasitierung im darauffolgenden Jahr der Befall zurückging oder gering ausfiel. Über Jahrzehnte betrachtet, hoben sich Gruppen von Jahren mit gehäuft stärkerem Auftreten der Traubenkirschen-Gespinstmotten von solchen mit geringem Befall deutlich ab.

Die Massenvermehrungen haben allerdings im vergangenen halben Jahrhundert nicht generell zugenommen, wie neuerdings wiederholt behauptet wurde, weil man den »Eindrücken« glaubte und vorhandene quantitative Untersuchungen dazu nicht abfragte. Denn die derzeitige Zunahme der Gespinstmotten würde allzu gut zum Klimawandel passen, mit dem sich eben nicht jede Veränderung erklären lässt. In den späten 1960er und frühen 1970er Jahren hatte es jedoch eine größere Häufung von Jahren mit stärkerem oder starkem Gespinstmottenbefall als seit 2010 gegeben. Doch die Frage nach einem wie auch immer gearteten Trend betrifft nur die eine Seite des Phänomens. Die andere steckt in der wichtigeren Frage, welche Aussagekraft 50 Jahre in Bezug auf die Entwicklung des Bestands einer so eng spezialisierten Schmetterlingsart besitzen. Wie kommt das starke Auf und Ab wirklich zustande? Das ist immer noch nicht hinreichend geklärt.

 

 

Längerfristige Häufigkeitszyklen

 

Erweitern wir den Blick auf die Abläufe von Jahr zu Jahr. Wie bereits betont und wie auch draußen leicht zu sehen ist, gibt es Jahre mit starkem Befall, solche mit mäßigem bis schwachem und schließlich solche, in denen die Gespinstmotten gesucht werden müssen. Und wie vorhin festgestellt, ist der Parasitierungsgrad am höchsten bei mittlerer Häufigkeit. Also ist anzunehmen, dass die Gespinstmotten, genauer ihre Raupen, in jenen Jahren, nach denen es im darauffolgenden zur Massenentwicklung mit Kahlfraß gekommen ist, dem Druck der Parasiten besser entgingen als in den meisten anderen Jahren. Kann die (Sommer-)Witterung dabei eine Rolle spielen? Oder liegt es an der Winterkälte?

Die Prüfung dieser Möglichkeiten ergab keinen klaren Zusammenhang. So lagen die durchschnittlichen Sommertemperaturen Anfang der 1970er Jahre unter dem Durchschnitt der letzten 50 Jahre. Im Massenflugsommer 1974 war sie sogar fast 3 °C niedriger als 1983, dem nächsten Jahr mit besonderer Massenentwicklung der Gespinstmotten. 1991, als wieder alle Traubenkirschen kahl gefressen und eingesponnen waren, nahm das Temperaturmittel eine mittlere Position ein, und 1997 war es auf nur noch ein Grad über dem Wert von 1974 gesunken. Die Temperaturen im jeweils dem Massenflug vorausgegangenen Winter blieben allesamt im durchschnittlichen Bereich mit lediglich geringfügigen Abweichungen. In neuerer Zeit verhielt es sich nicht anders. Es ergab sich also kein erkennbarer Zusammenhang mit den Sommer- oder Wintertemperaturen. Eher sieht es nach längerfristigen Häufigkeitszyklen aus, die in Abständen von sieben bis neun oder zehn Jahren aufeinander folgen. In den letzten Jahren lief wieder so ein Zyklus. Daher die mediale Aufmerksamkeit bezüglich der eingesponnenen Bäume, die wider Erwarten dann doch nicht abstarben.

Das nach dem Kahlfraß gebildete, neue Blattwerk ist so leistungsfähig, dass sich in den Jahresringen der Stämme Kahlfraßjahre kaum erkennen lassen. Vielmehr kommt der Eindruck zustande, dass der totale Blattverlust nur etwa dem entspricht, was die Traubenkirschen in Jahren ohne Gespinstmottenbefall in die Blüten und in die Produktion der Früchte, der kleinen schwarzen Kirschen, investieren. Denn solche gibt es nach Kahlfraß natürlich nicht mehr. Die zweite Blattgeneration bleibt dank der Tatsache, dass der Baum keine anderen Insekten hat, die nennenswerte Blattverluste verursachen könnten, weitestgehend unbeschädigt und damit hochleistungsfähig. Einzig eine Langzeitwirkung ist vorstellbar und durchaus wahrscheinlich, wenn man das Wachstum der Auwaldbäume bei der traditionellen Niederwaldnutzung mitverfolgt.

 

 

Niederwaldbewirtschaftung und ihre Folgen

 

Bei Niederwaldbewirtschaftung werden Bäume im Auwald in Abständen von 15 bis 20 Jahren »auf Stock gesetzt«, also dicht über dem Boden abgesägt. Der Wurzelstock bleibt. Die etwa armstarken oder etwas dickeren Stämme werden in etwa 30 Zentimeter lange Stücke geschnitten, gespalten und als Brennholz genutzt. Diese Nutzung nimmt gegenwärtig wieder zu unter dem Deckmantel der erneuerbaren Energien. Unberücksichtigt bleibt, weil Erneuerbares als grundsätzlich gut gilt, dass dabei große Mengen an Feinstaub freigesetzt werden, die pro erzielter Energieeinheit die von Diesel erheblich übertreffen. Auf Stock gesetzte Bäume, vornehmlich Grauerlen Alnus incana, Schwarzpappeln Populus nigra und eben Traubenkirschen, treiben wieder aus und bilden im Lauf der Jahre, die sie aufwachsen, eng stehende Gruppen neuer Stämme. Ihre nach innen gerichtete Krümmung direkt an der Bodenoberfläche verrät noch Jahrzehnte später diese traditionelle Nutzungsform.

Die Grauerlen sollten beim Aufwachsen eigentlich einen großen Vorteil haben, weil ihre Wurzeln in Symbiose mit Strahlenpilzen leben, die in der Lage sind, Luftstickstoff direkt zu binden, den sie den Erlen zur Verfügung stellen. Tatsächlich entwickeln sich die Stockausschläge der Traubenkirschen aber viel schneller. Nach wenigen Jahren überragen sie den Erlen- und auch den Pappeljungwuchs. Mindestens bis zum Ende des ersten Jahrzehnts ihres Aufwachsens hält ihr Wachstumsvorsprung an. Erst danach holen die Erlen auf.

Sie übertreffen die Traubenkirschen und machen aus ihnen, lange genug anhaltendes Weiterwachsen des Auwaldes vorausgesetzt, Bäume der zweiten Schicht. Das könnte an der bremsenden Wirkung des Befalls durch die Raupen der Gespinstmotten liegen. Gleichwohl ist das kaum mehr als eine begründete Vermutung. Denn es könnte auch sein, dass nach etwa einem Jahrzehnt des Aufwachsens die Wurzelkonkurrenz zwischen den verschiedenen beteiligten Baumarten stark zunimmt. In der Argumentationskette steckt jedoch eine Schwachstelle, die eigentlich sogleich auffallen müsste: Warum nutzen die Traubenkirschen-Gespinstmotten nicht auch die zweite Blattgeneration, indem sie selbst eine solche entwickeln? Die neuen Blätter sind ja, wie zu sehen ist, bestens entwickelt und so üppig vorhanden, dass der vorausgegangene Kahlfraß die Traubenkirschbäume nicht schädigt. Eine zweite Generation im Sommer würde alles Geschilderte und Vermutete grundlegend verändern. Warum tritt sie nicht auf?

 

 

Generationen und langjährige Zyklen der Gespinstmotten

 

Vergegenwärtigen wir uns, was zu Beginn der ersten Generation geschieht, wird sofort klar, weshalb eine zweite unwahrscheinlich, wenn nicht ganz unmöglich ist. Wie geschildert, schlüpfen die bereits seit dem letzten Sommer fertig entwickelten, aber in der Eihülle verbliebenen Räupchen synchron mit dem Austrieb der Knospen der Traubenkirschen im Frühjahr. Mit ihren winzigen Kiefern können sie nur die ganz zarten, ganz jungen Blättchen befressen, die sich selbst gerade entwickeln. Solche gibt es im Hochsommer nicht, wenn die Gespinstmotten-Weibchen die Eier abgelegt und die Gelege gezielt an die fürs nächste Frühjahr entwickelten Knospen platziert haben.

Das geschieht Ende Juni bis Mitte oder Ende Juli, je nachdem, wann genau die Gespinstmotten geschlüpft sind. Austreibende Knospen und schlüpfende Räupchen lassen sich im Frühsommer nicht mehr synchronisieren. Hatte es Kahlfraß gegeben, entwickeln die davon betroffenen Bäume viel schneller neues Blattwerk, nämlich schon, wenn sich die Mottenraupen verpuppen oder kurz nachdem sie sich verpuppt haben. Deren Entwicklung braucht Zeit. Der Baum ist da einfach schneller als die Gespinstmotten.

Frisch geschlüpfte Raupen haben an bereits kräftig und hart gewordenen Blättern keine Chancen mehr; möglicherweise auch, weil diese dann zu viel von den Giften enthalten, deren Entgiftung für die Raupen gewiss nicht so einfach ist und Energie kostet. Somit kann sich die Motte mit dem Baum nur einmal synchronisieren, wenn dieser im Frühjahr austreibt. Die Traubenkirsche ist nicht bloß der unter dem Raupenbefall leidende Teil in der Wechselbeziehung mit den Gespinstmotten. Wie entscheidend dieses Synchronisierung ist und welch eminente Rolle sie bei zahlreichen Schmetterlingsarten spielt, vor allem bei solchen, die durch Massenvermehrungen und damit eventuell verbundenen Schäden auffallen, wird uns bei den Frostspannern weiter beschäftigen.

Möglicherweise gibt es einen Zusammenhang zwischen den langjährigen Gespinstmotten-Zyklen, die sich über sieben bis neun Jahre erstrecken, und der Synchronisierung der Raupen mit dem Baum. Dass die Zyklen auftreten, ist eine Feststellung. Aber sie bedeutet keine Erklärung für ihr Zustandekommen. Es muss einen triftigen Grund dafür geben. Um einen solchen ausfindig zu machen, ist das Jahresraster viel zu grob. Erst das auf Wochen verkleinerte Raster zur Erfassung der Flugzeiten der Gespinstmotten liefert einen aufschlussreichen, aber ganz unerwarteten Befund. Massenvorkommen, eindeutig angezeigt durch die Anflugmengen der Gespinstmotten ans Licht, gab es nur dann, wenn die Flugzeit im Sommer völlig normal lag, und zwar in der 28. und 29. Jahreswoche, also Anfang bis Mitte Juli. Nicht frühe, durch überdurchschnittlich schönes und warmes Wetter im Mai und Juni gekennzeichnete Jahre, und auch nicht zu kühl-feuchte in dieser Zeit, was die Parasiten beeinträchtigt haben könnte, erzeugen den Massenflug, sondern die ganz normalen Verhältnisse. Die Witterung als direkter Auslöser der langjährigen Zyklen wird damit noch weniger wahrscheinlich. Aber was kann es dann sein? Die Sonnenfleckenzyklen, denen auch in mittleren Breiten, nicht nur in polaren Regionen manche Organismen mit ihren Häufigkeitsmustern folgen, dauern mit neun bis elf Jahren deutlich länger. Etwas anderes muss das Sichaufschaukeln und die nachfolgende Abbremsung der Bestandsentwicklung bei den Gespinstmotten entscheidend beeinflussen.

Erneut bietet es sich an, die parasitischen Wespen als Hauptfeinde der Raupen für die eigentlichen Verursacher zu halten, weil sie bei mittlerer bis größerer Häufigkeit der Raupen die stärksten Verluste verursachen. Fällt ihre Wirkung in diesem Stadium der Bestandszunahme zu gering aus, ist es vorstellbar, dass ihre Kontrolle versagt. Die Witterung könnte also mehr die Parasiten als die Schmetterlinge oder ihre Raupen treffen. In diese Richtung weist die Tatsache, dass eingesponnene Traubenkirschen in der Regel gleichzeitig in ganzen Gegenden auffällig werden; im gesamten nördlichen Alpenvorland zum Beispiel. Nur das Wetter kann so ein flächenhaftes Phänomen bewirken.

Rein lokale Effekte, wie sie durchaus auch vorkommen, bleiben großräumig bedeutungslos. Wenn diese plausible Vermutung zutrifft, muss es sich um spezielle Effekte der Witterung handeln, die sich nicht aus den regionalen Durchschnittswerten oder gar aus den Jahresmitteln ablesen lassen. Kurze, scharfe Fröste in einem ansonsten durchschnittlich milden Winter könnten dies ebenso sein, wie zu viel Regen oder eine Phase trockenwarmen Wetters beim Austreiben der Bäume im Frühjahr. Das Wettergeschehen ist komplex. Kein Jahreslauf gleicht genau dem anderen. Deshalb scheitern »Hundertjährige Kalender« und ähnliche langfristige Vorhersagen stets an der Wirklichkeit. Mittelwerte sind, so notwendig sie für meteorologische Statistiken auch sein mögen, für die Vorgänge in der lebendigen Natur oftmals bedeutungslos.

 

 

Parasiten bei anderen Gespinstmotten

 

Die starke Einflussnahme der Parasiten erkennen wir bei vergleichender Betrachtung der Gespinste, die von den eingangs genannten Arten der Gespinstmotten gefertigt werden. Es gibt Unterschiede, ohne hier ins Detail zu gehen, nicht nur innerhalb einer Art, sondern vor allem auch zwischen den verschiedenen Arten. Einige, wie die Apfelbaum-Gespinstmotte Yponomeuta malinella, machen nur kleine, wenig auffällige Gespinste. Haben sie Apfelbäume befallen und bemerkt man sie, ist es für die Blüten meist schon zu spät. Die Raupen dieser Gespinstmotte verhalten sich ganz ähnlich wie die der Traubenkirsche. Sie schlüpfen beim Aufbruch der Knospen und befressen die kleinen, sich entfaltenden Blätter sowie die Blütenanlagen.

Bei stärkerem Befall, der gar nicht bis zum weitgehenden Blattverlust führen muss, blühen deshalb die Traubenkirschen schwach oder gar nicht. Wie auch die Apfelbäume, die von ihrer gegenwärtig eher selten gewordenen Gespinstmotte befallen sind. Pfaffenhütchen und Weißdornbüsche treffen wir mäßig stark bis kräftig eingesponnen, wenn sich auch die Traubenkirschen-Gespinstmotten stark vermehrt haben. Dieses Zusammentreffen unterstreicht die Plausibilität einer speziell witterungsbedingten Förderung. Doch wenn die Raupen der Pfaffenhütchen-Gespinstmotte verpuppungsbereit sind, machen sie genau das Gegenteil der Traubenkirschen-Gespinstmotten. Sie scharen sich nicht zu dichten Massen zusammen, die sich gemeinsam verpuppen, sondern spinnen zuerst ein ganz lockeres Geflecht mit länglichen Hohlräumen von der Größe dicker Tafel-Weintrauben. Dann spannen sie einen Faden hindurch, fertigen ihren gleichfalls silberweißen Puppenkokon und hängen ihn daran auf. Als Seidenspindeln können sie darin fast waagerecht, schräg oder nahezu senkrecht hängen. Die einzelnen Puppen bleiben voneinander getrennt, so dass die Puppengespinste eine faszinierende Innenstruktur zeigen, die man durchblicken kann. Die Wände der länglichen Hohlräume, in denen die Puppen hängen, sind dicht genug gesponnen, dass Schlupfwespen nicht durchkommen. Vergeblich versuchen sie, mit ihrem Legestachel die Puppe zu erreichen, der Leerraum dazwischen ist zu groß.

Sollten sie die Puppe dennoch gerade erreichen können, weicht diese, da wie eine Hängematte elastisch am Befestigungsfaden hängend, immer noch ein wenig aus. Diese besondere Struktur der Puppenwiegen bedingt einen geringen Parasitierungsgrad. Dass so etwas Delikates im Lauf der Evolution zustande kam, drückt aus, wie bedeutsam der Druck der Parasiten auf die Gespinstmotten war und immer noch ist. Dennoch, und wie meist gibt es diese Einschränkung, hat diese Version des Puppenschutzes einen großen Nachteil. Solche Gespinste sind weit anfälliger für Witterungseinwirkungen, wie Starkregen oder heftige Windböen, als die dicht geschlossenen Puppenmassen der Traubenkirschen-Gespinstmotten. Wie bereits betont, wirkt die Witterung als abiotischer Faktor unabhängig von der jeweiligen Häufigkeit der Gespinstmotten, also dichte-unabhängig. Wahrscheinlich liegt es daran, dass die Pfaffenhütchen-Gespinstmotten zwar weit geringere Häufigkeitsschwankungen durchmachen als die Traubenkirschen-Gespinstmotten, aber auch zu keinen vergleichbaren Massenvermehrungen kommen. Yponomeuta cagnagella verhält sich damit ziemlich normal, wie andere Schmetterlings- und Insektenarten auch.

 

 

Der Lebenszyklus der Schmetterlinge

 

Haben wir nun endlich das Rüstzeug, die großen Veränderungen in Vorkommen und Häufigkeit unserer Schmetterlinge zu beurteilen? Eine kurze Zwischenbilanz erscheint angebracht, damit die Grundzüge nicht in den vielen Details verschwinden. Vergegenwärtigen wir uns dazu den Lebenszyklus, den alle Schmetterlinge durchlaufen. Er beginnt mit den abgelegten Eiern, in denen sich die Jungraupen entwickeln. Diese schlüpfen, fressen an für sie geeigneter Nahrung, bis sie sich häuten müssen, um weiter wachsen zu können. Nach mehreren Häutungen sind sie ausgewachsen und durch Hormone bereit gemacht zur Verpuppung. Dafür suchen die Raupen einen geeigneten Ort auf. In ihrem Innern formt sich nun die Puppe, die sich zappelnd und schiebend aus der letzten Raupenhaut befreit. Manche Puppen hängen frei, andere liegen in Erdhöhlen, die von der Raupe vorher gefertigt wurden, wieder andere befinden sich im Innern eines Gespinstes, dem Puppenkokon, der sie schützt. Abhängig von der Umgebungstemperatur, dauert die Puppenruhe, die in Wirklichkeit eine Phase heftiger innerer Umbildungen ist, mehr oder minder lange. Schließlich ist die Umgestaltung beendet, und der Falter kann schlüpfen. Dieser ist das Fortpflanzungsstadium.

Die Nahrungsaufnahme der Schmetterlinge beschränkt sich auf das Saugen von Nektar, oder es werden nur einige Tropfen Wasser aus Tau oder Pfützen aufgenommen. Manche Arten brauchen Mineralsalze und einige andere Stoffe, die sie Exkrementen oder Tierkadavern entnehmen. Aber all das ist nur Zugabe. Das eigentliche Ernährungsstadium ist die Raupe. Ihr Leben währt daher meist erheblich länger als das der fertigen Schmetterlinge. Deren letzter Anteil am Zyklus ist erfüllt mit der Paarung und der Eiablage der Weibchen. So weit, so klar, so einfach: Ei R Raupe R Puppe R Schmetterling R Ei und so fort. Aber die Natur ist nicht einfach, sondern höchst komplex.

 

 

Raupe vom Mittleren Weinschwärmer in Drohstellung. Durch Zurückziehen des Kopfes wirken die Augenflecken auf dem Vorderkörper und die zuckende Raupe wie eine drohende kleine Schlange

 

 

Mittlerer Weinschwärmer; kaum zu glauben, dass der altrosafarbene, schnittige Schwärmer das Ergebnis der Umwandlung aus einer dicken, schlangenartigen Raupe (vorheriges Bild) ist

 

Der Kreislauf muss sich ohne Unterbrechung in den Jahreslauf einfügen. Auch in den Tropen, in denen das, was bei uns Winter und Sommer ist, durch Trocken- und Regenzeiten ähnlich starken Einfluss nimmt auf die Lebenszyklen. Nicht einmal in den dauerfeuchten Inneren Tropen sind die Lebensbedingungen ununterbrochen gleich. Die Zyklen der Schmetterlinge (und aller anderen Lebewesen) müssen sich den zyklischen oder auch unregelmäßigen Veränderungen in der Natur anpassen. Bei uns in den klimatisch gemäßigten Breiten bilden Sommer und Winter die beiden Pole, um die sich die Lebenszyklen drehen. Der Sommer, präziser, die Vegetationszeit, fördert, der Winter, speziell Frost, bremst die Lebenstätigkeiten. Jede neue Generation muss durch Engpässe, die ihnen die Umwelt setzt, und hat ungünstige Perioden, wie den Winter oder zu große Hitze und Trockenheit, zu überbrücken. Das ist uns im Prinzip vertraut, auch wenn wir Menschen es geschafft haben, die Abhängigkeit von den Außenbedingungen erheblich zu vermindern. Dennoch bleiben auch für uns, die wir die Wohnungen im Winter heizen und die kurzen Tage mit künstlichem Licht verlängern, die beiden Grundzyklen Tag und Nacht und der Jahreslauf wirksam. Wir versuchen, unsere eigenen Vorstellungen und Bedürfnisse auf Schlaf und Wachsein, auf die Tageslänge und die Jahreszeit einzustellen. Was nicht immer perfekt gelingt.

In der Natur unterliegen die Lebewesen den natürlichen Zyklen weitaus stärker als wir. Doch ganz ausgeliefert sind sie ihnen nicht. Es zeichnet das Leben aus, dass es sich im Verlauf der Evolution immer mehr vom direkten Diktat der nicht-lebendigen Umwelt gelöst und weitgehende Selbstständigkeit erreicht hat. Wir könnten diesen Prozess auch Emanzipation der Organismen vom Diktat der Umwelt nennen. Wunderbar beispielhaft zeigt sich dies an den Frostspannern, die mit ihrer Lebensweise aus der (aus unserer Sicht) angenehmen warmen Sommerwelt der Schmetterlinge in die Übergangszeiten zum und vom Winter ausgewichen sind, und an einem besonders zart und zerbrechlich erscheinendem Falter, der dank seiner Vorkommen in Wäldern und Gärten noch zu den bekanntesten unserer Tagfalter zählt, dem Zitronenfalter Gonepteryx rhamni.