Zitronenfalter – der Erste im Frühling
Zitronenfalter, Kleiner Fuchs oder Pfauenauge: Wer ist der Erste im Frühling? Meist sehen wir zuerst einen Zitronenfalter; ein Männchen in aller Regel. Da reicht ein föhniger Tag Ende Februar, und schon fliegen sie. In den Auen und Wäldern am Inn nahe der Salzachmündung waren Zitronenfalter von 2011 bis 2016 fünfmal die Ersten, die ich sah. Nur 2013 kam ein Kleiner Fuchs ein paar Tage früher. Aber vielleicht ist es ein Tagpfauenauge, das wir als ersten Frühlingsboten erblicken – und retten müssen, weil es vergeblich versucht, am Fenster eines Gartenhäuschens flatternd nach draußen zu kommen. Es hängt eben vom Verlauf der Witterung im Vorfrühling ab, welchen Schmetterling wir zuerst sehen. Wer sich an ihrer zarten Schönheit erfreuen möchte, wird auf die Frühlingsfalter achten, sobald es sonnig und über zehn Grad Celsius warm geworden ist.
Es ist die Wärme, die sie munter macht, denn all diese frühen Schmetterlinge überwintern als Falter. Die Zitronenfalter sind dabei besonders hart im Nehmen. Sie hängen sich im Herbst irgendwo im Wald ins Gestrüpp oder in den Gärten in dichtes Gebüsch und verfallen in winterliche Kältestarre. In ihrem Körper verhindert ein Frostschutzmittel, dass sie erfrieren. Zitronenfalter überstehen 20 Grad unter Null. Für Pfauenaugen und Kleine Füchse wäre dies eine tödliche Kälte. Sie müssen geschützte Orte suchen, wie Schuppen im Garten, alte Keller oder andere Schlupfwinkel. Solche Plätze sind rar. Daher überwintern weit weniger Pfauenaugen und Kleine Füchse bei uns als Zitronenfalter. Der schöne Admiral schafft es nur ausnahmsweise, wenn der Winter sehr mild verläuft. Viel besser übersteht der C-Falter den Winter. Auch er, den ein kleines weißes C mitten im Hinterflügel auszeichnet, überwintert als Falter und ähnelt dem Kleinen Fuchs, unterscheidet sich von diesem aber durch einen besonders eckigen Flügelrand. Als Brennnesselfalter behandelte ich beide im betreffenden Kapitel mit Bezug auf ihre Raupen und auf den Einflug im Frühjahr aus dem Süden. Zielgerichtet eilen sie dahin und wärmen sich zwischendurch mit kurzer Rast am Boden auf, wenn die Luft noch zu kühl ist. Dabei sehen wir am besten, dass die Flügel als Sonnenkollektoren wirken. Die Zitronenfalter fliegen anders. Eher selten sonnen sie sich einmal.
Zitronenfalter am Wintermorgen mit Kristallen von Raureif bedeckt (Foto: Dr. Eberhard Pfeuffer)
Zitronenfalter auftauend (Foto: Dr. Eberhard Pfeuffer)
Die intensiv zitronengelben Männchen tänzeln an Waldrändern, Forstwegen oder Gartenzäunen entlang wie auf festgelegten Strecken. Zuerst fliegen sie in die eine Richtung und kehren wieder, oft auf fast gleicher Flugbahn, zurück, um ganz ähnlich in die andere Richtung dahinzutaumeln. Offensichtlich kontrollieren sie auf diese Weise ein Revier. Sie fliegen ihre Strecke regelmäßig ab, sobald es am Tag warm und sonnig genug ist. Männchen, die noch kein Revier haben, suchen nach einem, in dem kein Artgenosse mit seinem Zitronengelb schon weithin sichtbar anzeigt, dass es besetzt ist. Mitunter kommt es zu Auseinandersetzungen, wobei die Männchen einander umwirbeln, eines aber bald darauf wegfliegt. Ob der vorherige Revierbesitzer oder der Eindringling, ließe sich nur mit entsprechenden Markierungen klären.
Dass ein Schmetterling ein »Revier« verteidigt, ist ungewöhnlich. So kurzlebig, wie die Falter sind, sollte sich ein derartiges Verhalten nicht rentieren, kostet es doch Energie. Tatsächlich gibt es außerhalb der Tropen und Subtropen nur sehr wenige Falter, die ein Revierverhalten zeigen. Es lohnt nur, wenn sie lange genug leben und wenn die zugehörigen Weibchen nicht gleichzeitig, sondern über eine größere Zeitspanne verteilt schlüpfen. Oder Zeit brauchen, bis sie reif sind für die Paarung, wie die Weibchen der Zitronenfalter. Als Schmetterlinge leben sie nicht nur lange genug, sondern mit an die zehn Monaten sogar ganz außerordentlich lange. Tropische Schmetterlinge erreichen keine derartigen Lebensspannen. Allerdings ruhen die Zitronenfalter in zwei Dritteln ihrer Lebenszeit. Der Rest übertrifft aber immer noch das durchschnittlich aktive Leben anderer Schmetterlinge um ein Mehrfaches.
Als Falter lebt man einfach zu kurz. Eine der wenigen anderen Ausnahmen, die es bei uns gibt, ist ein mittelgroßer, hell gefleckter brauner Falter, das Waldbrettspiel Pararge aegeria. Ähnlich wie der Zitronenfalter, aber später im Jahr und in zwei Generationen, patrouillieren die Männchen dieses verbreiteten, jedoch nicht sonderlich auffälligen Tagfalters entlang von Waldpfaden, Schneisen und dergleichen im Laubwald und versuchen, Eindringlinge ihrer Art daraus zu vertreiben. Dabei nehmen sie es nicht so genau. Sie fliegen auch andere ihnen bloß oberflächlich ähnliche Schmetterlinge an. Meist tun sie dies von einer Sitzwarte aus, die Überblick bietet. Sogar die viel größeren Pfauenaugen vertreiben sie erfolgreich. Mitunter bekam ich den Eindruck, dass so ein Waldbrettspiel-Männchen auch mich vertreiben wollte, wenn ich zu nahe kam, denn es flog direkt vor mein Gesicht! Und zog ich mich zurück, drehte es ab und landete wieder auf seinem Sitzplatz.
Viel eindrucksvoller war allerdings ein »Schmetterlingsangriff«, den ich im Frühsommer auf Istrien erlebte. Dort war ich auf einem schmalen Pfad unterwegs, der durch die Macchie zum Strand führte, als mir urplötzlich ein finsteres, faustgroßes Auge ins Gesicht flog, so dass ich unwillkürlich zur Seite wich. Im ersten Moment begriff ich nicht, was geschehen war, und schaute mich, wie einer Halluzination erlegen, höchst verwundert um. Aber ich sah nichts als einen großen, dahinschaukelnden Schmetterling. Es war später Vormittag. Die Sonne hatte noch nicht die volle Stärke erreicht. Doch stand sie so hoch, dass es nur kurze Schatten gab. In der Annahme, mir nur etwas eingebildet zu haben, was verwunderlich genug gewesen wäre, weil mir das nie passiert, ging ich ein paar Schritte weiter. Da kam es wieder, das »faustgroße Auge«. Und jetzt erkannte ich, worum es sich handelte. Es war ein Erdbeerbaumfalter Charaxes jasius, eine geradezu tropische Falterschönheit, deren Verwandtschaft tatsächlich in den Tropen lebt. Er flog mir so entgegen, und das offensichtlich ganz gezielt, dass die ockerbraunen Säume das dunkle Innere seiner Flügelfläche wie ein riesiges Auge aussehen ließen. Faustgroß ist kaum übertrieben. Keine Handbreit vor meinem Gesicht stoppte er den Anflug und drehte seitlich ab, um Sekunden später erneut auf mich zuzufliegen. Kein Zweifel, der große Schmetterling versuchte mich zu vertreiben. Natürlich gönnte ich ihm den Erfolg und wich weit genug zurück, um ihn näher zu beobachten – durchs Fernglas. Wie es die vertrauten kleinen Waldbrettspiele in den Auwäldern Südostbayerns tun, nahm er einen Sitzplatz ein, der es ihm ermöglichte, den Pfad über eine Gesamtstrecke von sicherlich mehr als zehn Metern zu überblicken. Als kurz danach ein Admiral den Pfad entlangflog, vertrieb er ihn in Sekundenschnelle.
Natürlich geht es bei diesen Verhaltensweise um Weibchen. Die Männchen der Zitronenfalter patrouillieren bereits zwei bis drei Wochen ihre Flugstrecken, bevor die ersten Weibchen zu sehen sind. Diese unterscheiden sich mit ihrem blassen, den Großen Kohlweißlingen recht ähnlichen Gelb ganz deutlich von den Männchen. Sicher werden sie deshalb oft gar nicht als Zitronenfalter erkannt. Die Männchen patrouillieren also erstaunlich lange, bevor die Weibchen fliegen. Im warmem Frühjahr 2014, in dem es aber Anfang April eine kurze Kälteperiode gegeben hatte, waren sie sogar fast einen Monat früher aktiv. 2013 hatte es einen heftigen Nachwinter im März gegeben, der bis in den April andauerte. Da schoben sich die Flugzeiten der Männchen und Weibchen allerdings in den April und Mai zusammen.
Doch warum fliegen die Zitronenfalter so früh, wenn es doch auch zur weit günstigeren Zeit im Mai ginge? Sie könnten sich die ganze lange Zeit von Ende Februar bis Mitte April sparen, zumal die Witterung gerade in dieser Phase des Jahres instabil ist und zwischen verfrühter Wärme und Nachwinter schwankt. Aprilfröste sind nicht selten. Es gibt sie auch noch bis Mitte Mai. Nun, wie die Frostspanner haben die frühen Zitronenfalter den Vorteil, dass die allermeisten von Insekten lebenden Singvögel erst Mitte April bis Anfang Mai aus den Winterquartieren zurückkehren. Die frühen Falter am Tage wären für sie viel zu unergiebig. Die Menge an Insekten muss ausreichend groß sein für ihre Ernährung und die ihrer Jungen, zumal wenn die erste Brut geschlüpft ist. Zwischen Ende Februar und Mitte März reicht die nutzbare Insektenmenge dafür bei weitem nicht aus. Die Zitronenfalter sind auffällig. Für geschickte Flugjäger unter den Vögeln sollten sie eine leicht zu fangende Beute sein. Sogar Staren gelingt es mitunter, einen Zitronenfalter, meist ist dies ein Männchen, zu schnappen. Die Weibchen werden eher übersehen, weil sie wie oben geschrieben sehr stark Kohlweißlingen ähneln, vor allem den Weibchen des Großen Kohlweißlings. Diese schützen giftige Senfölglykoside.
Die Zitronenfalter könnten also Nachahmer der giftigen Kohlweißlinge sein. Oder sie sind, wenn sie doch auch schlecht schmeckende Stoffe von der Hauptfutterpflanze ihrer Raupen, dem Faulbaum Frangula alnus, enthalten sollten, Teil eines Mimikry-Rings von Schmetterlingen, die mit ihrer Auffälligkeit signalisieren, dass sie ungenießbar sind. Das ist für die Zitronenfalter vor allem im Sommer bedeutsam, wenn sie frisch geschlüpft sind und die Wochen und Monate überstehen müssen, bis ihre Winterruhe anfängt. Betrachten wir deshalb Männchen (zitronengelb und sehr auffällig) und Weibchen (blassgelb, fast weiß wirkend) genauer. Sollten sie nicht beide gleichermaßen Schutz nötig haben?
Möglicherweise bekommen sie ihn auch. Denn das, was für unser Sehvermögen weiß wirkt, kann für die Vögel mit ihrer beträchtlich anders zusammengesetzten Farbempfindlichkeit ähnlich aussehen und in den Bereich von Ultraviolett reichen. Was bedeutet, dass der Unterschied zwischen Männchen und Weibchen für unsere Augen vielleicht größer ist als für das Sehvermögen der Vögel. Wie es auch sein mag, die Forschung wird dies mit den Möglichkeiten unserer Zeit klären können. Der Unterschied hat auf jeden Fall eine (jahres)zeitliche Dimension. Denn die Männchen fliegen im Frühjahr beträchtlich früher als die Weibchen, aber gleichzeitig mit ihnen in der »Sommergeneration«. Sie ist nur scheinbar eine solche, weil die neuen Zitronenfalter des Sommers dieselben sind, die im nächsten Frühjahr fliegen. Davor halten sie eine Sommerruhe und suchen sich nach kurzem Flug im Herbst eine Stelle, an der sie bis zum Frühjahr überwintern. Im Sommer bemerkt man kaum, wie viele Zitronenfalter vorhanden sind, so wenig und so unauffällig fliegen sie. Das lässt sie seltener erscheinen als sie es sind. Selten sollten sie sein, zumindest entsprechend unauffällig, denn für die Nachahmer in einer Mimikry gilt, dass das Vorbild erheblich häufiger sein muss. Warum, liegt auf der Hand: Die Vögel, die davon abgehalten werden sollen, die giftigen oder unangenehm schmeckenden Falter zu fangen, dürfen weder zu viele positive Erfahrungen machen, noch sollten sie ein spezielles Suchbild für solcherart doch gut schmeckende Falter entwickeln können. Das wäre das Ende des Schutzes und die Auffälligkeit nun ein tödlicher Nachteil.
Natürlich ist die Aktivität der von Insekten lebenden Vögel im (Früh-)Sommer ungleich höher als im Frühling. Und da sich die Zitronenfalter nach dem Schlüpfen nicht paaren, weil ihre Geschlechtsdrüsen noch nicht reif sind, sondern dies erst unter der Einwirkung der Frühlingssonne werden, deutet sich ein Vorteil des frühen Fliegens an. Die Zitronenfalter reifen in dieser Zeit; sie haben Sonne nötig. Sie können sich ihr aussetzen, weil noch keine Singvögel da sind, die sie fangen würden. Sind dann die Weibchen so weit und auf der Suche nach Ablagestellen für ihre Eier, fliegen bereits die Kohlweißlinge, und zwar viel häufiger als die Zitronenfalter. Das Weibchen kann nun ganz gezielt Ei für Ei einzeln an die gerade austreibenden Blättchen des Faulbaums absetzen; meist nur eines oder einige wenige pro Spitzentrieb. Die Raupen der Zitronenfalter leben davon. Und da auch der Faulbaum giftig wirkende Stoffe enthält, dürfte bei den Zitronenfaltern ebenfalls eine gewisse Giftigkeit zustande kommen. Doch die Anthrachinon-Glykoside aus den Faulbaumblättern wirken nicht annähernd so stark wie die Senfölglykoside vom Kohl, die die Kohlweißlinge aufnehmen. Zumindest nicht auf die Vögel, denn die Steinfrüchte des Faulbaums, die für uns giftig sind, werden von den Vögeln sehr wohl genommen und die darin enthaltenen Samen verbreitet. Dies bedeutet, dass es sich im Verhältnis der Zitronenfalter zu den (Großen) Kohlweißlingen eher um eine Art Zwischenform zweier unterschiedlicher Typen von Mimikry handelt. Die zweite wird nach ihrem Entdecker, dem damals in Südbrasilien lebenden Deutschen Fritz Müller, Müller’sche Mimikry genannt und von der vorher bereits bekannten, nach dem Amazonasforscher Henry Bates benannten Bate’schen Mimikry abgetrennt. Diese meint die einfache Nachahmung einer giftigen oder ungenießbaren Art durch eine nicht giftige, genießbare. Die Müller’sche Mimikry umfasst Gemeinschaften einander ähnlicher Arten, die alle mehr oder weniger giftig oder ungenießbar sind. Der Vorzug dieser Mimikryform besteht darin, dass die Beteiligten beliebig häufig sein dürfen, weil keine die Wirksamkeit der Mimikry dadurch vermindert. So verhält es sich beispielsweise bei den verschiedenen Arten unserer Wespen. Alle kennzeichnet und schützt die »Wespentracht«, und alle haben sie Giftstachel, mit denen sie sich Angriffen von Feinden erwehren. Dass es Spezialisten, wie den Wespenbussard Pernis apivorus gibt, die sich davon nicht abschrecken lassen, bekräftigt lediglich, dass nichts in der Natur absolut (sicher) ist. Unsere eigene Spontanreaktion auf Wespen drückt hingegen deutlich genug aus, dass deren Müller’sche Mimikry bestens funktioniert. Wir schauen nicht erst, ob uns eine Gemeine, eine Deutsche oder eine eher harmlose Sächsische Wespe anfliegt.
Die Zitronenfalter verdienen diesen Ausflug in die Mimikrybeziehungen, weil ihr Beispiel wieder einmal unterstreicht, wie schwierig, wenn nicht unmöglich es ist, die Natur in Kategorien und Begriffe zwängen zu wollen. Wer »Definitionen« fordert und solche zugrunde legen will, hat die Natur nicht verstanden. Zitronenfalter sind echte Nachahmer von giftigen Vorbildern, weil die große Ähnlichkeit ihrer Weibchen mit den Kohlweißlingen in diesem Sinne funktioniert. Aber sie bilden miteinander – Männchen und Weibchen und Kohlweißlinge – auch einen Müller’schen Mimikry-Komplex. Dieser besteht aus unterschiedlich giftigen und schlecht schmeckenden Faltern. Die Anthrachinon-Glykoside bieten wie ausgeführt keinen so sicheren Schutz wie die Senfölglykoside der Kohlweißlinge. Dennoch können die Zitronenfalter in Bezug auf die Kohlweißlinge ziemlich häufig werden; insbesondere im Frühjahr. Wären sie reine Bate’sche Nachahmer, würden sie gerade in der wichtigsten Phase, wenn die Weibchen Eier ablegen, gezielt gejagt werden. Sind sie allein deswegen schon höchst bewundernswerte Schmetterlinge, so müssen sie im Frühjahr auch noch in der Lage sein, flexibel auf die in aller Regel kommenden Kälteeinbrüche im März und April oder auch noch im Mai zu reagieren. Flexibel sein heißt hier, die Zeiten der Aktivität gleich um mehrere Wochen zu verschieben. Die Frühjahre 2013 und 2018 erforderten eine solcherart ausgeprägte Verlagerung, wobei in 2013 auch der Mai für sie nicht günstig verlief, während dieser 2018 außerordentlich günstig für Zitronenfalter war. Aber was hat das für Folgen? Warum konnte nach dem außerordentlich ungünstigen Verlauf der Frühjahrswitterung 2013 im Frühjahr 2014 dennoch ein besonders guter Flug zustande kommen?
Wiederum stellt sich die Frage, wie das Wetter wirkt. Beeinflusst die Winterwitterung das Überleben der Zitronenfalter? Die Häufigkeit im Frühjahr gibt darüber tatsächlich zu wenig Aufschluss. Denn es können nicht mehr Falter den Winter überstehen, als im Herbst vorhanden waren. Die Häufigkeit im vorausgegangenen Sommer muss daher auf jeden Fall zur Beurteilung der Winterwirkung berücksichtigt werden. Die von Jahr zu Jahr verschiedenen Frühjahrsbefunde können von der Bestandsgröße im Vorjahr oder vom Überleben des Winters abhängen – oder von beidem.
2014 wurden über viermal mehr Zitronenfalter als 2013 registriert, was an starken Verlusten bei dem schlechten Frühlingswetter von 2013 liegen könnte. Doch wenn ich die Häufigkeit der Zitronenfalter über die Jahre hinweg betrachte, stimmt das so nicht. Der extrem kalte Februar 2012 mit wochenlangen Nachtfrösten bis unter minus 20 Grad schadete den Zitronenfaltern nicht allzu sehr. Denn die Halbierung der Zahlen im Frühjahr 2012 im Vergleich zum Frühjahr 2011 hängt (auch) damit zusammen, dass der Sommerflug 2011 bereits schwach ausgefallen war. So gelangten weit weniger Zitronenfalter im Herbst in die Überwinterung als im Vorjahr oder danach im Sommer 2013, auf den ein »Rekordwert« im Frühjahr 2014 folgte.
Der auffällig hohe Frühjahrsbestand 2014 brachte jedoch keinen noch höheren Sommerbestand zustande, so dass 2015 die Frühjahrshäufigkeit auf weniger als ein Drittel von 2014 sank. Doch dann legte der Sommerbestand 2015 zu, und so passt es, dass wir 2016 wieder einen recht guten Frühjahrsflug hatten. Verwirrend genug? Wie die Natur in ihren Abläufen eben so ist! Auf jede Faltergeneration wirken alle Witterungsphasen des Jahres ein; trockenheiße oder regnerische Sommer, wechselhafter Herbst, Winterkälte oder -milde, die Frühjahrswitterung zur Flugzeit und schließlich die des Frühsommers, im dem die Raupen heranwachsen, sich verpuppen und die Falter schlüpfen. Auf »den Winter« im Lebenszyklus des Zitronenfalters zu schließen oder gar den Verlauf des Winterwetters (Stichwort: Klimaerwärmung) verantwortlich für Bestandsentwicklung und Zukunft dieses Schmetterlings machen zu wollen, drückt lediglich Unkenntnis aus. Das ergeben die langjährigen Untersuchungen. Sie mahnen auch, dass die Zählungen unzuverlässig sein können, weil man nie über viele Jahre exakt in gleicher Weise registrieren kann. Viele Stichproben sind als Zählungen nötig, um über die Jahre einen Trend erkennen zu können, so ein solcher vorhanden ist. Die Fluktuationen von Jahr zu Jahr täuschen. Oft bilden sie per Zufall aufsteigende oder absteigende Serien, die sich nach einem Jahrzehnt oder nach noch längerer Zeitspanne völlig aufheben.
Sicher ist lediglich, dass der Schlüsselfaktor für die mittel- und längerfristige Bestandsentwicklung der Zitronenfalter der Fortpflanzungserfolg im Frühjahr/Frühsommer ist. Vom Überdauern des Winters hängt es viel weniger ab, wie sich die Bestände entwickeln. Diese Schlussfolgerung stimmt bestens mit der großen Verbreitung dieses zu den Weißlingen gehörenden Tagfalters überein, die alle Formen des Winterklimas vom mild-atlantischen Westen bis zum kontinentalen Osten in Europa beinhaltet. Ein schöner Frühling ist also das Beste für den Zitronenfalter. Das können wir aus unserer menschlichen Sicht nachvollziehen. So eine Einstufung stimmt zudem gut überein mit dem Vorkommen seines nahen Verwandten südlich der Alpen, dem Cleopatrafalter Gonepteryx cleopatra. Diesen Zitronenfalter ziert ein orangerot getöntes Feld im Flügel und er ist etwas größer als unsere Art. Dem Cleopatrafalter widerfährt im mediterranen Sommer, was unser Zitronenfalter vergleichsweise leichter überstehen kann, große Hitze. Die bereits behandelte Sommerruhe, die Ästivation, strapaziert die Körper dieser so zart gebauten Schmetterlinge stärker als das Überdauern von Frost im Winter. Denn die Hitze entzieht dem Körper weit schneller Wasser als der austrocknende Frost. Gegen diesen hilft die Speicherung von Glykol, dem Frostschutzmittel, das bis zu so tiefen Temperaturen wie minus 20 Grad verhindert, dass sich Eiskristalle im Schmetterlingskörper bilden – und dass zu viel Wasser nach draußen verloren geht und der Körper innen austrocknet.
Wir können uns daher vorstellen, dass die Bewältigung der Sommerhitze mit dem von ihr verursachten Wasserentzug beim Zitronenfalter die Vorbedingung für das Überstehen des Winters im Freien war. Nur ganz wenige Falter schaffen das. Der Tagfalter-Spezialist Eberhard Pfeuffer, der sich besonders intensiv mit dem Zitronenfalter befasst hat, beobachtete sogar, dass diese, wenn im Winter der Schnee mal schmilzt, ein Stückchen nach oben aus der Bodenvegetation kriechen, in die sie sich zum Überwintern zurückgezogen hatten. Feuchtkaltes Winterwetter ist für viele überwinternde Insekten ungünstiger als trockene Kälte. Auch weil die Feuchte das Wachstum von Pilzfäden begünstigt, die Puppen und Schmetterlinge befallen und töten können. Die Parallele zu uns Menschen wird wiederum deutlich: Trockene Kälte macht uns weniger zu schaffen als nasskaltes Winterwetter. Tatsächlich ist Frost auch im Hinblick auf die wintertypischen Ansteckungskrankheiten, wie die verschiedenen Formen von Grippe/Erkältung, günstiger. Milde Winter, um es verallgemeinert auszudrücken, sind nicht besser für »die Natur« als kalte. Deshalb darf nicht einfach angenommen werden, sie würden wärmebedürftige Arten begünstigen. Und auch nicht, dass viele Arten von der bei uns vor allem die Winter betreffenden Klimaerwärmung so profitieren müssten, dass sie »überhandnehmen«. Oder weil die Natur »aus dem Gleichgewicht« gerate.
Was aber bedeuten solche Beispiele und Überlegungen für das Ziel, das zu erkennen, was in der Natur die Steuerung übernimmt? Die geheimnisvolle Regelung, der wir es, so die gängige Meinung, zuzuschreiben haben, dass Insekten mit ihrem gewaltigen Vermehrungspotenzial die Natur nicht überfluten und ruinieren. Dass dies nicht geschieht, bewirkt allein schon die Naturgegebenheit, dass günstige Bedingungen niemals und nirgendwo von Dauer sind. Das schließt ein Anwachsen einzelner Arten über alle Maßen grundsätzlich aus. Über kurz oder lang, meist sogar nach recht kurzer Zeit, verschlechtern sich die Bedingungen, und das Anwachsen des Bestands hört auf. Dies bewirkt die schon genannte dichte-unabhängige Regulierung. Und da die Abfolge günstiger und ungünstiger Außenbedingungen im Jahreslauf und von Jahr zu Jahr mehr oder minder (statistisch) zufällig schwankt, ergibt sich ein gleichfalls mehr oder minder zufälliges Fluktuieren der Bestände. Stabilität in dem Sinne, dass es Jahr für Jahr etwa gleich viele Schmetterlinge einer Art oder auch aller Arten zusammen in einem Gebiet gibt, ist nichts weiter als eine Wunschvorstellung. Wir können eine solche scheinbar erzeugen, wenn wir die zahlenmäßigen Veränderungen logarithmisch fassen. Diese mathematische Methode vermindert Ausschläge nach oben oder unten so sehr, insbesondere wenn der sogenannte Zehnerlogarithmus verwendet wird, dass die nunmehr nur geringfügig schwankenden Zahlen gemittelt das Bild einer Geraden ergeben. Wer will, kann darin das »Gleichgewicht in der Natur« sehen.
In konkreter Situation bedeutet es wenig, um nicht zu sagen nichts, wenn es etwa darum geht, wirtschaftliche Schäden zu verhindern. Ein Zahlenbeispiel verdeutlicht dies. Wächst der Bestand einer Insektenart, die Schäden an Nutzpflanzen verursachen kann, auf dem Feld oder im Wald auf das Zehnfache, das Hundertfache und das Tausendfache an, so drückt sich dies in der logarithmischen Skala lediglich in einer Steigerung um den Faktor (10 hoch) 2, 3 und 4 aus. Dieses Herabdrücken großer Zahlen auf eine überschaubare Skala hilft bei grafischen Darstellungen und mathematischen Analysen, aber kaum jemals draußen auf der Flur oder im Forst. Bei abnehmender Häufigkeit, wenn es darum ginge, lokal oder regional eine Art vor dem Aussterben zu bewahren, ist so eine logarithmische Umformung noch weniger hilfreich. Wird das »Gleichgewicht im Naturhaushalt« auf diese Weise begründet, verschwinden die tatsächlichen Ungleichgewichte, die das Leben und ihre Dynamik erhalten. Denn bliebe alles gleich, müsste es in so einem Zustand verharren, und Evolution könnte nicht zustande kommen. Wir sollten uns von der Vorstellung frei machen, dass alles in der Natur seinen rechten Gang nehmen würde und »in Ordnung« wäre, gäbe es den Menschen und sein Tun und Wirken nicht.
Betrachten wir nach dieser Warnung noch einmal die dichte-abhängigen Wirkungen. Sie ergeben sich nicht nur aus der Einflussnahme von Feinden und Parasiten oder Krankheitserregern, die in ihrer Gesamtheit die Bestandszunahme in der Regel umso mehr bremsen, je größer der Bestand geworden ist. Genau das meint die Bezeichnung dichte-abhängig. Auch die nutzbare Nahrung wirkt dichte-abhängig regulierend. Wird sie zu knapp, überleben die Nutzer nicht, oder sie erlangen eine stark verminderte Fruchtbarkeit, wie bei den Massenvermehrungen der Traubenkirschen-Gespinstmotten ausgeführt. Vereinfacht können wir uns das so vorstellen, dass die Art mit ihrem Bestand – also die Raupen einer Schmetterlingsart auf ihren Futterpflanzen beispielsweise – auf deren Verfügbarkeit »drückt«, während sie selbst dem Druck der Feinde und Konkurrenten ausgesetzt ist. Nutzungsrate der Nahrung und Verlustrate an die Feinde müssen sich, wie leicht einsehbar, zumindest mittelfristig so ausgleichen, dass die Gesamtbilanz nicht zu negativ oder zu positiv wird. Denn dies würde bedeuten, dass der Bestand entweder abnimmt und über kurz oder lang verschwindet, oder eben anhaltend zunimmt und damit in die Instabilität hineingeriete. Das Modell ist wiederum einfach und klar: Nachwuchsrate (b) und Verlustrate (m) ≈ 0.
Eine solcherart ausgeglichene Bilanz würde (biologische) Stabilität bedeuten und das für eine überlebensfähige Menschheit vielfach geforderte Nullwachstum erzeugen. Wiederum ist die Natur jedoch komplexer als das Modell. Sie ist kein geschlossener Raum mit gleichförmigen Bedingungen, in dem sich nur das Wechselspiel einer Art mit einer anderen oder einigen wenigen vollzieht. Vielmehr sind Hunderte, Tausende, Abertausende Arten beteiligt. Je nachdem, wie eng oder wie weit wir den Rahmen des zu erfassenden Gebietes und das Spektrum der betrachteten Arten fassen. Eine Vielzahl unterschiedlicher Lokalbedingungen bildet die Grundlage, genannt Biotop, sobald wir uns mit solchen Modellvorstellungen in die freie Natur begeben. In dieser kommen zwei weitere eminent wichtige Prozesse hinzu, die in den eben ausgeführten Darlegungen nicht berücksichtigt worden sind, nämlich die Abwanderung von örtlichem Überschuss (»Überproduktion«) zu anderen Orten und Gebieten sowie ihr Gegenteil, die Zuwanderung von außen in die betrachtete Stelle.
Diese Charakterisierung kommt der Wirklichkeit schon näher. Denn alle Arten sind ungleichmäßig und eher mosaikartig als gleichmäßig verbreitet. An jeder Stelle, an der sie vorkommen, leben sie in unterschiedlicher, über die Jahre mehr oder weniger stark fluktuierender Häufigkeit. Kurz: Es herrscht ein beständiges Auf und Ab in der Natur ähnlich dem Geschehen in einem brodelnden Wassertopf. Zunahmen und Neuansiedlungen an einem Ort können dabei allgemein laufende Entwicklungen ebenso charakterisieren, wie sie Abnahmen und Aussterben an anderen ausgleichen könnten. Ohne dies weiter zu vertiefen, obwohl die Betrachtung in die zentralen Konzepte und Modelle der Populationsökologie hineinführen würde, lassen sich wichtige Schlüsse ziehen:
1. Um anhaltende Trends von natürlichen Schwankungen (Fluktuationen) unterscheiden zu können, müssen die Zeitspannen der Untersuchungen lang genug sein. Wie lange »lang genug« ist, ergibt sich aus der Dauer von Fluktuationen. Es müssen hinreichend viele Jahre oder Generationen in den Erfassungszeiten vorhanden sein, um Schwankungen vom Trend unterscheiden zu können, so es einen solchen gibt.
2. Lokale Untersuchungen müssen repräsentativ sein für größere Gebiete, um Aussagekraft zu erlangen. In einem neu entstandenen, günstigen »Biotop«, wie es in unserer Zeit auch als Ausgleich für getätigte Eingriffe in Natur und Landschaft vielfach angelegt wird, können über viele Jahre (aus der Sicht des Artenschutzes) ausgesprochen positive Entwicklungen ablaufen, während großräumig der allgemeine Trend stark abnehmend und damit negativ ist.
3. Vergleichstrends, auf die eventuell Bezug genommen werden kann, müssen voneinander unabhängig sein, wie Wetter und Klimatrends es von den Schmetterlingen sind.
4. Die Methoden der Erfassung sollten (sie müssen es eigentlich) nicht von den persönlichen Fähigkeiten der Menschen beeinflusst sein, die die Untersuchungen vornehmen. Physikalisch-automatische Erfassungen sind »bloßen Beobachtungen« klar vorzuziehen.
5. Vergleichbarkeit muss nachvollziehbar begründet werden können, wenn es um die Interpretation der Befunde und die Schlussfolgerungen geht.
Diese fünf zentralen Kriterien setzen meist voraus, dass eine entsprechend qualifizierte Artenkenntnis gegeben ist. Viele Schmetterlingsarten sind nicht leicht zu bestimmen; manche können ohne spezielle Laboruntersuchung gar nicht oder nur unzureichend diagnostiziert werden. Andere Insektengruppen erfordern sogar noch mehr Artenkenntnis. Doch Spezialisten sind rar, und ihre Zeit ist begrenzt; ihre Bereitschaft, schwierige Arten mit viel Zeitaufwand zu bestimmen, hat Grenzen. Das soll die Willigen jedoch nicht entmutigen, »Schmetterlinge zu zählen« und mit ihren Befunden beizutragen zur Kenntnis von Vorkommen, Häufigkeit und Bestandstrends der Falter. Die hier behandelten Methoden sind erprobt und praktikabel. Benötigt werden Schmetterlingszählungen landauf landab, denn viele Arten sind bedroht und am Verschwinden. Den derzeit noch häufigen kann es bald ähnlich wie den dezimierten ergehen.
Die bisher behandelten Beispiele erweckten zwar nicht gerade den Eindruck, dass es sehr schlecht um die Schmetterlinge steht. Es war jedoch wichtig, zunächst an bekannteren und noch häufigen Arten ein tieferes Verständnis der Vorgänge in der Natur zu gewinnen, und aufzuzeigen, wie vielfältig die Wirkmechanismen sind. Das Aussterben an den Anfang zu stellen, auch wenn es vielfach eine unabweisbare Tatsache ist, dürfte zudem nicht hilfreich sein, Interesse an den Schmetterlingen und Begeisterung für sie zu entwickeln. Das aber ist mein Anliegen. Im zweiten Teil des Buchs geht es nun um das Verschwinden der Schmetterlinge und was (noch) dagegen unternommen werden kann.